Rund 5000 Menschen sind es, die am 22. Februar in den römischen Stadtteil Tufello gekommen sind. Die Demonstration ist kämpferisch und breit: Viele Kommunist*innen, Anarchist*innen, feministische Initiativen, Anwohner*innen aus dem Viertel, auch Aktive aus dem kurdischen sozialen Zentrum Ararat mit Öcalan- und PKK-Flaggen. Jugendliche sprühen kleinere und größere Murals am Rande der Demo, Pyrotechnik wird abgebrannt, gelegentlich kracht ein Böller. „Valerio vive“, Valerio lebt, steht in großen Lettern auf dem Fronttransparent. Die Polizei hält sich fern.
Es ist ein Jubiläum: 40 Jahre ist der Anlass dieser Demonstration, die Ermordung des Kommunisten Valerio Verbano, durch Faschisten nun her. Dass sie auch heute noch eine derartige Symbolkraft entfaltet, liegt an mehreren Faktoren. Die Geschichte Valerios ist zum einen unabgeschlossen: Die Täter wurden nie gefunden und der Sumpf aus Mafia, Faschisten und Staat, aus dem sie kamen, ist bis heute nicht trockengelegt. Zum anderen aber steht Valerio, wie viele seiner Generation für ein Politikverständnis, dass heute zwar verschüttet ist, nachdem aber ein gesellschaftlicher Bedarf besteht.
„Wenn du über Valerio schreiben willst“, sagt Marco, ein alter Genosse Valerios aus dem Viertel, „dann musst du über das schreiben, was an seiner Geschichte zu lernen ist und aktuell bleibt. Das ist die Militanz eines Kommunisten. Er war ein Junge, der getan hat, was notwendig ist.“ Marco, damals etwas jünger als Valerio, ging in die Schule neben dem Liceo Scientifico Archimede, auf dem Valerio war. Die Jugend war politisiert, das Viertel eine Hochburg der Autonomia Operaia, der Arbeiterautonomie. In den 1970er- und 1980er-Jahren war die militante Arbeiterbewegung, bis hin zu den großen bewaffneten Gruppen wie den Roten Brigaden oder Prima Linea, zu einer Kraft erstarkt, die dem Staat gefährlich werden konnte. Und der Staat reagierte: False-Flag-Attentate, um einen Bürgerkrieg zu provozieren, ein Geflecht aus Kriminellen und bewaffneten Faschisten, Geheimdienste und die antikommunistische NATO-Geheimarmee Gladio.
Verschwundene Beweise, verschwundene Zeugen
Abertausende Arbeiter*innen, Schüler*innen und Student*innen organisierten sich damals in Gruppen der radikalen Linken. Auch Valerio Verbano. Der 18 -jährige macht Kampfsport, als Kommunist muss man sich verteidigen können. Er beteiligt sich an Demonstrationen, agitiert für die Autonomia Operaia. Und er betreibt Gegeninformation, recherchiert über Faschisten und ihre Verbindungen. „Das war eine wichtige Aufgabe. Man musste seinen Feind kennen“, erinnert sich Marco. Und er vermutet: „Bei seinen Recherchen muss er auf etwas gestoßen sein.“ Valerios Recherchearbeiten sind unter den Genoss*innen in Tufello bis heute legendär. Er stellte den Faschisten nach, machte Fotos, legte ein umfangreiches Dossier an.
Im April 1979 wird Valerio dann verhaftet. Zusammen mit anderen baute er Molotow-Cocktails, fällt den Cops in die Hände und wird verurteilt. Bei einer Hausdurchsuchung fällt das über dreihundert Seiten starke Recherche-Dossier dem Staat in die Hände. Und da müssen, so vermutet nicht nur Marco, bei irgendjemandem die Alarmglocken geläutet haben. Das Dossier verschwindet, so wie später beschlagnahmte Beweismittel der Mörder. 2011 taucht es bei den Carabinieri, der Gendarmerie Italiens, wieder auf, hat da aber nur noch die Hälfte des ursprünglichen Umfangs.
Die Geschichte des Dossiers überschneidet sich dann mit der Geschichte zweier Richter. Der eine ist Mario Amato, der einzige Richter, der auch gegen Faschisten vorgeht, wird kaum vier Monate nach Valerio und 50 Meter entfernt ermordet. Man sagt, er habe für seine Recherchen auf das beschlagnahmte Dossier Valerios zurückgegriffen. Ein zweiter Richter, Antonio Alibrandi, behinderte diese Ermittlungen, denn er hatte einen Sohn: Alessandro Alibrandi, der zu den schillerndsten Figuren des damaligen Neofaschismus zählt und zur Führung der rechtsterroristischen Nuclei Armati Rivoluzionari (NAR).
Dass der Angriff auf Valerio eher mit Informationsbeschaffung zu tun hat, vermutet Marco auch wegen des Tathergangs. Die drei Angreifer drangen in die Wohnung des Jugendlichen ein, fesselten seine Eltern und warteten. Als er nachhause kam, verteidigte er sich, einer der Mörder schoss ihm in den Rücken. Es sei damals zwar nicht unüblich gewesen, dass geschossen wird, sagt Marco. „Aber wenn du jemanden umbringen willst, gehst du nicht in seine Wohnung.“ Haben die Mörder etwas gesucht? Wollten sie ihn „verhören“?
Nach dem Mord beginnt die Geschichte einer verhinderten Aufarbeitung. Gegenstände, die in der Wohnung beschlagnahmt wurden, verschwinden – darunter eine Maske und eine Pistole, die allerdings nicht die Tatwaffe ist. Ein einziger Zeuge meldet sich, will die drei Männer gesehen haben. Später zieht er seine Aussage zurück, verschwindet aus der Nachbarschaft, kauft sich woanders ein Haus. „Der kam aus den Sozialbauten, wie wir“, meint Marco. „Wenn du hier auf einmal Geld hast, hast du entweder Drogen verkauft, im Lotto gewonnen, eine Bank gemacht – oder jemand hat dir Geld gegeben, damit du verschwindest.“
Zurückschlagen und Gedenken
Direkt als die Nachricht von Valerios Tod die Runde machte, beginnt die Tradition jener Demonstration, die sich heuer zum 40. Mal jährte. „Ich erinnere mich noch, als wir aus der Schule raus sind“, so Marco. „Ich kann mich noch an den Lärm erinnern. Dann sind wir zu dem Platz gegangen, an dem Aldo Semerari“ – eine skurille Gestalt an der Schnittstelle zwischen Faschismus und organisiertem Verbrechen – „seinen Unterricht abgehalten hat und haben alles kurz- und kleingeschlagen.“ Und einige Tage später wurde in Talenti der faschistische Führungskader Angelo Manci vor seiner Wohnung erschossen. „Damals gab es noch die Kraft, zu antworten. Es gab Organisierung“, sagt Marco fast ein wenig melancholisch.
Die Jahre der bewaffneten Auseinandersetzungen endeten im Verlauf der 1980er-Jahre mit einer Niederlage der proletarischen Kräfte. Die Faschisten unterschiedlicher Couleur, soweit sie nicht tot sind, wurden recycled. Das schmutzige Geflecht aus Rechten, Politik, Polizei und organisierter Kriminalität blieb.
Aber auch das Gedenken an Valerio überdauerte in Tufello. Jedes Jahr seit vier Jahrzehnten über Höhen und Tiefen hinweg. Zum einen, weil Carla, Valerios Mutter ausdauernd nach der Wahrheit suchte, bis zu ihrem Tod. Zum anderen, weil die alten Genossen nicht vergessen wollte. „Ob wir zu zehn, zu hundert, zu tausend waren, wir sind jedes Jahr auf die Straße gegangen“, ist Marco stolz. Und Ende der 1990er wurde dann ein Gebäude besetzt und zum Valerio-Verbano-Sportcenter umgewidmet. Zahlreiche Wandbilder von Valerio gibt es in Tufello, die Geschichte ist auch den Jüngeren bekannt.
Die eigentliche Lehre aus Valerios Leben sieht Marco aber verschüttet. „Man muss verstehen, was es bedeutete ein kommunistischer Militanter zu sein. Als Giovanni Pesce in der Zeit des Faschismus nach Turin kam, hat er gefragt: Wo ist die Partei? Und man hat ihm gesagt: Du bist die Partei. Und dann hat er getan, was notwendig war. Das war auch die Mentalität von Valerio.“
#Bildquelle: Contropiano