Wann immer sich irgendeines der Ereignisse zur deutschen Einheit jährt, füllen sich die Feuilletons mit Jubelarien, die Plätze mit Jubelariern und die Talkshows mit Jubelexperten. Der immense Aufwand wird benötigt, weil die Erfolgsstory „deutsche Wiedervereinigung“ zu den wichtigsten Mythen dieser Republik zählt. Und weil dieser Mythos immer und immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt werden muss, damit er sich als Realität in den Köpfen der Menschen verfestigt.
Denn die traurige Geschichte, die mit Deutschlandwimpel überdeckt und mit Rotkäppchen-Sekt aus dem Gedächtnis gelöscht werden soll, ist: Besonders gut gelaufen ist die „deutsche Einheit“ nicht. Wiedervereinigung war sie keine, sondern eine mit einer Schocktherapie durchgesetzte rasant vollzogene Annexion. Ein historisch gewachsener Staat – wie auch immer man ihn bewerten will – wurde ökonomisch, politisch, juristisch und kulturell ausgelöscht. Bleiben sollte nichts: Keine volkseigenen Betriebe, kein einheitliches Schulsystem, keine Marxist*innen an Universitäten, keine Ostdeutschen in Leitungspositionen.
Begleitet wurde dieser Prozess durch das wahrscheinlich größte Wirtschaftsverbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte: Die sogenannte Treuhand. Der wurde zunächst das – ja formal der Bevölkerung gehörende – Vermögen der DDR einverleibt – angeblich, um es zu bewahren. In einem Wildwestverfahren wurde privatisiert, verscherbelt, zerschlagen, abgewickelt. Am Ende der Bilanz war der Osten deindustrialisiert, Millionen Menschen arbeitslos oder in Kurzarbeit, einige Westfirmen hatten sich bereichert oder einfach vorsorglich Konkurrenten zerstört. Immense Werte wurden einfach vernichtet.
Was die Treuhand auf ökonomischem Gebiet leistete, wurde auf akademischem und kulturellem auch durchgesetzt. Wer den Kapitalismus nicht aus vollem Herzen wie den Laib Gottes in der Sonntagsmesse empfing, wurde abgesägt – und dafür musste man keineswegs altgediente*r SED-Funktionär*in sein. Die berufliche Ausgrenzung wurde vervollständigt durch das Bild des „Ossis“, das bis heute als negativ konnotierter Topos für den rückständigen, schwer zufriedenzustellen, andauernd jammernden, undankbaren Ostdeutschen in den Feuilletons und an den westdeutschen Stammtischen reproduziert wird.
Einige Autoren – darunter der italienische Ökonom Vladimiro Giacche sowie die Publizisten Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar – sehen in der Art des Anschlusses der DDR sogar Elemente einer „Kolonisierung“. Und in der Tat konnten sich auch jeder Sympathie mit dem ehemaligen sozialistischen Staat unverdächtige Zeitgenossen wie der Ex-Treuhandchef Detlev Rohwedder dieses Eindrucks nicht erwehren: „Manche westdeutschen Unternehmen benehmen sich wie Kolonialoffiziere“, konstatierte der wenig später ermordete Chef-Privatisierer.
Ob man den Begriff „Kolonialisierung“ verwenden will oder nicht, der Anschluss zerstörte in vieler Hinsicht ein gesellschaftliches Gefüge. Es gibt wenige ostdeutsche Familien, und zwar unabhängig von ihrer Stellung zur SED, für die die „Wende“ nicht auch einen krassen Bruch ihrer persönlichen Lebensgeschichte bedeutete. Westdeutsche Professoren fluteten ostdeutsche Universitäten, westdeutsche Manager die Betriebe, westdeutsche Politiker die Parteienlandschaft. Die Folgen dieses Prozesses prägen Ostdeutschland bis heute. Lohnunterschiede, die Besetzung von Leitungspositionen mit Westdeutschen, die Repräsentanz in Politik und Kultur bleiben ungleich zwischen Ost und West. Zehnmal mehr Menschen „pendeln“ vom Osten in den Westen zur Arbeit als umgekehrt.
Die fortbestehende Diskriminierung und Erniedrigung von Ostdeutschen sowie die eigenständige Geschichte in einem – nun verschwundenen – Staat führt dazu, dass es so etwas wie eine eigenständige ostdeutsche Identität gibt.
Und hier kommt die Linke ins Spiel: Wir – insbesondere als westdeutsche außerparlamentarische Linke – verstehen diese Identität nicht, wir respektieren sie zu wenig und wir versuchen viel zu wenig, ihre progressiven Elemente zu bestärken. Dafür wäre eine Voraussetzung, eine eigenständige Einschätzung dessen zu gewinnen, was sich in diesem Teil Deutschlands denn eigentlich vollzogen hat. Doch große Teile der radikalen Linken sehen den ostdeutschen Staat und die Wende durch die Brille der bürgerlichen Geschichtsschreibung.
Dabei wäre eine eigenständige Perspektive – jenseits von kritiklosem Abfeiern auf der einen, maßloser Diabolisierung auf der anderen Seite – bitter nötig. Denn eine Prämisse sollte klar sein: die DDR gehört – mit allen ihren Fehlern – zur eigenen Geschichte der sozialistischen Bewegung. Die BRD, dieser aus Ex-Nazis aufgebaute, kapitalistische Staat mit Westbindung nicht. Und genauso wie die DDR gehört die Demokratisierungsbewegung an ihrem Ende zur selben Geschichte demokratischer Aufbrüche. Auch deren Erfolge wie ihr Scheitern – angetreten als Versuch, die Verknöcherung aufzubrechen, geendet in einem Deutschland aus Kohl, Krieg, Kapitalismus und Nationalismus – lohnt es sich jenseits der bürgerlichen Mythenbildung zu betrachten.
Denn einerseits lernt man nichts aus den Fehlern eines Sozialismusversuchs, wenn man sich einfach nicht mehr mit ihm auseinandersetzt, weil einem irgendwelche bürgerliche Experten ja ohnehin schon erklärt haben, dass es da gar nichts zu lernen gibt. Und zum anderen lässt sich ohne historisches Verständnis der DDR, der Demokratiebewegung an ihrem Ende und ihrer beider Abwicklung durch den Westen auch heute im Osten keine politische Strategie entwickeln, die in der Lage wäre dort gesellschaftliche Hegemonie nach links zu verschieben.