Seit neun Tagen halten einige hundert sozialistische Freiwillige aus den kurdischen Selbst- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie Kämpfer*innen der Syrisch-Demokratischen Kräfte eine NATO-Armee davon ab, eine Kleinstadt einzunehmen. Serekaniye, arabisch Ras al-Ain, liegt auf syrischer Seite der türkischen Stadt Ceylanpinar gegenüber und ist schon neun Tage nach der Invasion türkischer Truppen und deren dschihadistischen Sammeltruppen SNA nur noch Geröll und Schutt.
Seit neun Tagen bombardieren Kampfjets aus der Luft, Artillerie aus der Ferne und Panzer aus dem Belagerungsring jedes einzelne Haus in der Stadt – Krankenhaus und Schulen eingeschlossen. Ein ziviler Konvoi, der zur Unterstützung der Kämpfer*innen in die Stadt gekommen war, wurde am 13. Oktober direkt angegriffen. Wie viele Menschen insgesamt in Serekaniye bislang von Erdogans Truppen ermordet wurden, ist schwer zu sagen. In das Hauptkrankenhaus in al-Hasakah werden aus Serekaniye Kinder mit schwersten Verbrennungen eingeliefert, verstümmelte Zivilist*innen, verletzte Kämpfer*innen in ihren letzten Zügen.
Serekeniye ist eine Hölle aus Feuer und Asche. Ein Ort, der traurig und wütend macht. Wie ist so etwas möglich? Wieso werden den schäbigen Interessen imperialistischer, mörderischer Kriegstreiber so viele Menschenleben geopfert? Wer auf Ras al-Ain nur aus diesem Blickwinkel sieht, muss verzweifeln.
Doch Serekaniye ist heute mehr als das. Es ist ein Symbol der Hoffnung – so abwegig das auf den ersten Blick auch erscheinen mag. Serekaniye ist, wie 2014 Kobane, ein klares Zeichen einer Bewegung, die keine Unterwerfung – wie widrig die Umstände auch sein mögen. Jede Nacht kommen die Bomber. Und jeden Morgen meldet sich Ersin Caksu für die kurdische Nachrichtenagentur ANF aus den Trümmerhaufen der Stadt, spricht mit den Verteidiger*innen. Sie wirken nicht traurig. Sie wirken nicht verzweifelt. Sie wirken wie Menschen, die wissen, wofür sie gerade kämpfen. Und denen es wichtiger ist, ein möglicherweise kurzes Leben in Würde als ein langes in Siechtum und Knechtschaft zu führen.
„Es geht nicht darum, zu leben oder nicht zu leben, sondern richtig zu leben. Selbst wenn uns das richtige Leben nicht gelingen sollte, das Wichtigste ist, sich niemals von dieser Suche abbringen zu lassen und Reisender auf diesem Weg zu sein“, schreibt Abdullah Öcalan, der inhaftierte Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung. Und er meint damit nicht die individuelle Suche nach einem immer neuen Modelifestyle, wie sie ein an Langeweile zugrunde gehendes liberales Kleinbürgertum betreibt. Er meint das kollektive Leben in einer Gesellschaft der Gleichen, die Rehevaltî, die Weggefährtenschaft im Kampf genauso wie das solidarische, demokratische Zusammenleben im Frieden.
Das, woran sich die NATO-Armee in Serekaniye seit neun Tagen die Zähne ausbeißt, ist diese Kollektivität. Es ist nicht der einzelne Soldat, gedrillt wie ein US-Marine. Es ist auch nicht die Technik, davon haben die Verteidiger*innen ja nicht allzu viel. Es ist die Freundschaft und Genossenschaft untereinander, die einen immer wieder durchhalten lässt, immer wieder weitermachen lässt. Klar, die Spezialkräfte von YPG und YPJ sind ausgezeichnete Kämpfer*innen. Aber was sie bestehen lässt, ist das Wissen um ein aus einer gemeinsamen Idee von Leben gespeisten Netz, das bei ihnen anfängt, sich über die Mütter, die ihr Brot backen, die Dorfbewohner*innen, die ihnen ihre Tür öffnen, die Reporter*innen, die bei ihnen bleiben, wenn die bomben einschlagen, die Ärzt*innen, die ihre Verwundeten zusammenflicken, bis zu den Genoss*innen in den irakischen Bergen, den türkischen Metropolen oder ins europäische und US-amerikanische Hinterland zieht.
Die kurdische Bewegung hat eine Geschichte geschrieben, die ihre eigenen Landmarken hat. Vom Gefängniswiderstand im Folterknast Diyarbakir in den 1980er-Jahren über die Verteidigung Kobanes gegen den Islamischen Staat zieht sich diese Erzählung bis in die winzig kleine Grenzstadt Serekaniye. Jeder Schuss, den die Verteidiger*innen Rojavas dort abgeben, ist ein Buchstabe in dem Buch, das diese Bewegung schreibt.
Und unabhängig davon, ob diese Stadt fallen wird oder sich hält, diese Buchstaben bleiben geschrieben. Die Frage ist, ob sie jemand lesen wird. Ob auch wir hier in Deutschland die Sprache verstehen lernen werden, in der sie verfasst sind.
Bild: YPJ – presse