Wie Kai aus der Kiste tauchten sie auf der Bildfläche auf. Jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Ich gebe zu, bis vor wenigen Wochen hatte ich von „Extinction Rebellion“ (soviel wie „Aufstand gegen das Aussterben“, kurz: XR) schon mal gehört, wusste aber nicht wirklich etwas mit dem Begriff anzufangen. Doch je näher ich mich dann mit dem Thema befasste, desto suspekter kam mir das Ganze vor. Man bezeichnet sich selbst als „radikal“ und als „Grasroots-Bewegung“, ist aber offenbar weder das eine noch das andere.
Streckenweise wirkt die in England gegründete Gruppe, die in diesen Tagen Berlin und andere westliche Metropolen blockieren will, eher wie eine esoterische Endzeitsekte oder eine popkulturelle Truppe, die Radikalität nur simuliert. Das soll nicht das Engagement der Leute schmälern, die da mitmachen, denn die meinen es sicher ernst. Nur spricht einiges dafür, dass ihr Engagement in dieser „Bewegung“ abgeschöpft und kanalisiert wird. Ein Protest mit bürgerlichen Vorzeichen.
„Graswurzelbewegung“ – das soll natürlich suggerieren, dass diese „Bewegung“ organisch von unten gewachsen ist, von der Basis. Davon kann allerdings keine Rede sein, denn XR ist offensichtlich eine Gründung mit akademischem Hintergrund. Als Gründer werden im Internet der ehemalige Biolandwirt und Soziologe Roger Hallam und die Biophysikerin Gail Bradbrook genannt, die in England bereits Vorgängerorganisationen ins Leben rief. Die englischsprachige Wikipedia datiert die Entstehung von XR auf den Mai 2018, als knapp 100 britische Wissenschaftler einen Aufruf zum zivilen Ungehorsam angesichts der sich verschärfenden ökologischen Krise unterschrieben. Der Guardian veröffentlichte ihn Ende Oktober. Im November 2018 und April 2019 machte man mit ersten Straßenblockaden, unter anderem einer Themsebrücke in London, auf sich aufmerksam.
Der Auftritt der Gruppe erweckt den Eindruck einer generalstabsmäßigen Planung am grünen Tisch. XR ist perfekt durchdesigned, als hätte das Ganze eine Werbeagentur aufgezogen. Die Ästhetik dockt geschickt an die Ängste und Verzweiflung von Menschen angesichts der drohenden ökologischen Krise an. Das Logo mit der stilisierten Sanduhr ist so simpel wie einprägsam, der Name „Extinction Rebellion“ klingt kämpferisch und entschlossen, die Aktionen der Gruppe sind aufsehenerregend und zielen ganz offenbar auf eine große Medienresonanz.
Da werden vor laufenden Kameras theatralische Inszenierungen gezeigt, bei denen gern eimerweise Kunstblut vergossen wird. Um zu demonstrieren, dass das Blut der kommenden Generationen an unseren Händen klebt, wenn wir so weitermachen wie bisher. Diese Aktionen wirken oft unangenehm überzogen und haben meist keinen konkreten Bezug zum Thema. Etwa als beim Kreuzfahrtspektakel „Cruise Days“ in Hamburg Kunstblut eingesetzt wurde. Die Aktion von BUND und Hamburgs Linksfraktion bei der Veranstaltung, bei der die Protagonisten Atemschutzmasken trugen, hatte wesentlich mehr Substanz – fand aber erheblich weniger Aufmerksamkeit in den Medien.
Auch die Homepage von XR-Deutschland mit ihren großen Fotos, knalligem Design und plakativen Sprüchen passt da ins Bild. „Komm, wir retten jetzt die Welt!“, heißt es etwa unter einem Bild von fröhlich tanzenden junge Leuten. Natürlich werden auch die drei Forderungen und zehn Prinzipien der Gruppe präsentiert, so etwas wie das Mantra von XR. Es lohnt sich, die zu zitieren, denn sie illustrieren die politische Naivität, die man der Organisation attestieren muss.
Angesichts der Ignoranz und Skrupellosigkeit westlicher Regierungen mutet schon die erste Forderung geradezu rührend an: „Sagt die Wahrheit“ (im Original: „Tell the Truth“). Die Regierungen sollen die „Wahrheit“ über die klimatischen Veränderung und deren Folgen öffentlich kommunizieren. Nachvollziehbarer, aber ebenso unerreichbar, wenn an Regierungen gerichtet, wirkt Forderung Nummer zwei: „Handelt jetzt“ (Act now). Mit einem sofortigen Umsteuern in der Klimapolitik soll die Netto-Null-Treibhausgas-Emission bis zum Jahr 2025 erreicht werden. Skurril erscheint schließlich die dritte Forderung: „Politik neu leben“. XR möchte, dass Bürgerversammlungen einberufen werden, die dann gemeinsam mit „Experten“ rechtlich bindende Maßnahmen zur Überwindung der Klimakrise beschließen.
Auf ein derart blauäugiges Programm kommt wohl nur, wer sich mit den Realitäten und Machtverhältnissen in den Staaten des kapitalistischen Westens nicht wirklich befasst hat. Von Analyse und Systemkritik ist bei XR so gut wie nichts zu entdecken, das Wort „Kapitalismus“ kommt auf der Homepage nicht vor. Für die ökologische Krise werden ganz allgemein die „Auswirkungen unseres Handelns“ verantwortlich gemacht oder „Wirtschaft und Politik“.
Ebenso naiv erscheint das ständige Herumreiten darauf, dass man gewaltfrei und menschenfreundlich agiere. „Wir wenden keine Gewalt, sondern Kreativität an und respektieren alle Menschen. Wir schließen niemanden aus und begegnen Passanten mit Herzlichkeit“, heißt es etwa auf der Website von XR. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil dieser Grundsatz die Repressionsbehörden einschließt. „Es empfiehlt sich, immer höflich und freundlich gegenüber anderen Menschen zu sein, das beinhaltet auch Polizeibeamt*innen“, heißt es in einer Broschüre mit Tipps zum Verhalten bei Aktionen, die Berliner Arbeitsgruppen von XR erarbeitet haben. Es sei „DNA und Kultur von XR, die Herzen aller zu gewinnen und mit Respekt und Herzlichkeit offen allen Menschen gegenüber zu sein“. Das schließe „ausdrücklich auch Polizei“ ein.
Was soll das für eine Rebellion werden? Das fragt man sich als radikaler Linker angesichts solcher Formulierungen. Über solche Haltungen hat sich der Anarchist Erich Mühsam bereits 1907 in seinem Gedicht „Der Revoluzzer“ lustig gemacht. Es handelt von einem Lampenputzer, der Revolution machen will, aber ohne dass dabei Lampen zu Bruch gehen. „Doch die Revoluzzer lachten/Und die Gaslaternen krachten/Und der Lampenputzer schlich/Fort und weinte bitterlich“, heißt es da. Und zum Schluss: „Dann ist er zuhaus geblieben/Und hat dort ein Buch geschrieben:/Nämlich, wie man revoluzzt/Und dabei doch Lampen putzt.“
Das Dogma der Gewaltlosigkeit führt zu skurrilem Verhalten von XR-Aktivisten, zum Beispiel bei der Sitzblockade einer Kreuzung in Hamburg am Tag des globalen „Klimastreiks“, dem 20. September. Die Aktivisten nahmen an der Aktion teil, standen aber plötzlich auf. Begründung: Jemand habe „Fuck Cops!“ gerufen, was man nicht billigen könne, weil man „gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg“ praktiziere. Dieses vom US-Psychologen Marshall B. Rosenberg in den 60ern entwickelte Konzept sieht eine empathische Kommunikation als zentral an, um Konflikte zu lösen, vernachlässigt dabei aber die Machtverhältnisse, die jede Kommunikation grundieren. Die prügelnde Hamburger Polizei schert sich nicht um Rosenberg, wenn sie Blockierer abräumt.
Das Verhalten der XR-Aktivisten bei der Sitzblockade in Hamburg kontrastiert merkwürdig mit der, zumindest auf der Homepage signalisierten, Bereitschaft, in den Knast zu gehen: „Wir sind bereit, persönliche Opfer zu bringen. Wir sind bereit, uns verhaften zu lassen und ins Gefängnis zu gehen“, heißt es da vollmundig. „Wir wollen mit unserem Beispiel zu ähnlichen Aktivitäten auf der ganzen Welt inspirieren.“ Wie man im Gefängnis landen will, wenn man immer „gewaltfrei und höflich“ bleibt, erschließt sich nicht.
Dass Kritik von links an XR in den „sozialen Netzwerken“ in den vergangenen Wochen wächst, kann nicht verwundern. Erheblich dazu beigetragen hat ein Fragebogen, mit dem die Gruppe über Wochen auf ihrer Homepage sensible Daten abfragte. Wer an den Aktionen in Berlin teilnehmen wollte, wurde außer nach persönlichen Daten wie E-Mail und Handynummer auch danach gefragt, an welchen Aktionen man teilnehmen würde und ob man bereit sei, „ins Gefängnis zu gehen“. Mit den Antworten aus dem Fragebogen seien politische Einordnungen, „aber auch Gefährdungsanalysen möglich gewesen“, schrieb das Portal netzpolitik.org. Nach heftiger Kritik habe XR den Fragebogen vom Netz genommen und die besonders sensiblen Daten gelöscht.
Dass die Aufmerksamkeit für „Extinction Rebellion“ derzeit so groß ist, das ist im übrigen vor allem dem Erfolg der Schülerbewegung „Fridays for Future“ zu verdanken. Das ist tatsächlich eine Bewegung, deren Auftreten authentisch und überzeugend wirkt, auch wenn die Systemkritik sicher noch deutlicher werden kann. Agenda und Aktivitäten von XR werfen dagegen jeden Menge Fragen auf. Es wird sich in den kommenden Wochen hoffentlich erweisen, mit wem wir es da wirklich zu tun haben.