Der Staat war als Kind schon Scheiße

26. September 2019

James C. Scotts „Mühlen der Zivilisation“ rekonstruiert den Ursprung der ersten Staaten der Menschheitsgeschichte

Uns allen kommt es ganz natürlich vor, in einem Staat zu leben. Bei Geburt wird uns eine Urkunde ausgestellt, die uns von nun an als Staatsbürger*in verbrieft und wir wissen es dem mächtigen Leviathan fortan zu danken, indem wir ihm zubilligen, die Regeln für unsere Gesellschaft zu machen, die er mit dem Gewaltmonopol gegen unsere potentielle Aufmüpfigkeit absichert. Da, wo der Staat „funktioniert“, greift er in alle Lebensbereiche ein: er entwirft die Lehrpläne, nach denen die Untertanen erzogen werden; er legt den juristischen Rahmen fest; welches Eigentum wie zu schützen ist; und wenn er es für nützlich hält, ruft er uns gegen andere Staaten zu den Waffen.

Dass es den Staat gibt und wir in ihm leben, kommt uns meistens – wenn wir nicht durch kommunistische oder anarchistische Ideen in Verwirrung geraten – total normal vor. Man lernt ja schon in der Schule, wie wichtig der Staat ist, und dass ohne ihn alles in Chaos, einen unkontrollierbaren, Mad-Max-ähnlichen Naturzustand oder noch Schlimmeres zurückfallen würde. Der Staat ist unser Retter.

Aber ist das wirklich so?

Nö. Um sich das immer wieder mal zu vergegenwärtigen, lohnt ein Blick in die Frühgeschichte der Menschheit, in jene Zeit, als die ersten uns bekannten (Stadt-)Staaten die Bühne betraten. Und wer sich diese Story auf dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft, lesbar und spannend aufgeschrieben reinziehen möchte, der sollte sich eine neu im Suhrkamp-Verlag erschienene Monographie des Politikwissenschaftlers und Anthropologen James C. Scott holen: „Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten“.

Scott sollte im Jahr 2011 zwei Tanner-Lectures in Havard halten. Er hatte nicht viel Vorbereitungszeit und entschloss sich, zwei ältere Vorträge über die Geschichte der Domestizierung und die agrarische Struktur der frühen Staaten zu aktualisieren, weil er das für eine machbare und nicht allzu komplizierte Sache hielt. „Nie stand mir eine größere Überraschung bevor“, gesteht er am Beginn seines Buches.

Als Scott begann, den Forschungsstand zum Thema zu sichten, bemerkte er, dass viele der – auch in der Intellektuellencommunity – gängigen Meinungen über die Entstehung der ersten Stadtstaaten in Mesopotamien dem aktuellen Wissensstand nicht gerecht werden: Die Domestizierung von Tieren und Pflanzen etwa führte nicht unmittelbar zur Sesshaftigkeit; feldgebundene Landwirtschaft war nicht generell und immer produktiver oder gar angenehmer als die zuvor bestehenden, diverseren Formen von Produktion und Reproduktion etwa nomadischer Völker – im Gegenteil; und: „Der Staat und die frühen Zivilisationen galten oft als Magneten, die die Menschen dank ihres Luxus, ihrer Kultur und ihres Chancenreichtums angezogen hätten. In Wirklichkeit mussten die frühen Staaten einen Großteil ihrer Bevölkerung erbeuten und in Knechtschaft halten“, bilanziert Scott.

Scott führt die Leser durch die fruchtbaren Feuchtgebiete zwischen Euphrat und Tigris, mit gelegentlichen Exkursen ins frühe Ägypten oder zur chinesischem Qin- und Han-Dynastie, um die These zu untermauern, dass die Entstehung von Staaten keine total „natürliche“ Angelegenheit war, sondern durch Akte der Gewalt vollzogen wurde.

Für einen Großteil der Bevölkerung bedeutete sie zunächst keine Verbesserung der Lebensqualität. Die von den Staaten favorisierte Getreidelandwirtschaft eignete sich zwar hervorragend zur Besteuerung (das Getreide ist portionierbar, leicht zu quantifizieren, kann eingelagert werden), aber bringt den Produzent*innen ein Mehr an Mühsal und Risiko. Epidemien brachen in den dicht besiedelten Stadtstaaten viel eher aus, als in kleineren Gemeinschaften. Die Mauern, die viele der frühen Staaten umgaben, so eine der Thesen, seien nicht nur Schutz gegen Eindringlinge gewesen– sie sollten ebenso die Untertanen vom Abhauen abhalten.

Zudem ist der Staat nicht der Urheber von Sesshaftigkeit, Landwirtschaft, Hausgemeinschafter Bewässerung und dergleichen. „All diese menschlichen Errungenschaften des Neolithikums waren längst vorhanden, bevor wir in Mesopotamien so etwas wie einem Staat begegnen“, schreibt Scott. „Es ist vielmehr genau umgekehrt. Nach unserem heutigen Wissen entsteht der embryonale Staat aus der Nutzung des spätneolithischen Getreide- und Arbeitskraftmoduls als Basis von Kontrolle und Aneignung.“

Was der Staat aber neu einbringt, ist im Dienst der ihn beherrschenden Klassen die von ihm beherrschten Klassen dazu anzuhalten, mehr zu produzieren, als sie verbrauchen und diesen Surplus abzuschöpfen: „Ein großer Teil der frühen Staatskunst stand unter dem Gebot, Menschen einzusammeln, sie nahe am Zentrum anzusiedeln, dort zu halten und einen Überschuss über ihre eigenen Bedürfnisse hinaus produzieren zu lassen“, so Scott. Das wiederum aber geht nicht von selbst, denn es zeigt sich, dass „eine Bauernschaft – vorausgesetzt, sie hat genug, um ihren Grundbedarf zu decken – nicht automatisch einen Überschuss produzieren wird, den sich die Eliten aneignen können, sondern gezwungen werden muss, ihn zu produzieren.“

Scotts „Mühlen der Zivilisation“ – übrigens in vielen Aspekten nahe an den Thesen des kurdischen Guerilla-Chefs Abdullah Öcalan – sind thematisch viel breiter aufgestellt, als sich in einer kurzen Rezension widerspiegeln ließe: Man lernt was über die Domestizierung von Tieren – und die von Menschen; über Agrogeographie und Bewässerung; über verschiedene Formen der Sklaverei; und über die „Barbaren“, die „Wilden“, die nicht-staatlichen Akteur*innen der Frühgeschichte.

Am Ende des bunten Panoramas bleibt der untrügliche Eindruck zurück, dass die Geschichte des Staates schon an ihrem Beginn keine Heilsgeschichte ist. Und das immerhin ist recht viel an subversivem Gehalt für ein Buch, das von Dingen handelt, die rund 6000 Jahre zurückliegen.

#Titelbild: Szene aus dem Gilgamesch-Epos, Quelle: https://live.staticflickr.com/754/22010645002_baf89d1213.jpg

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