Wahlen in Israel: Für Palästinenser*innen irrelevant

23. September 2019

Autor*in

Lena Spix

Am 17.09.19 wurde in Israel gewählt. Im Vorfeld kündigte Benjamin Netanjahu zunächst an, bei seiner Wiederwahl das Jordantal annektieren zu wollen, zwei Tage vor der Wahl ließ er auch noch kurzerhand den Bau einer neuen israelischen Siedlung in der Westbank genehmigen. Mittlerweile ist zwar klar, dass Netanjahu und seine Partei an Stimmen verloren haben, eine Ende seiner Herrschaft und des Staates Israels über die palästinensische Bevölkerung ist damit aber nicht in Sicht. Wir haben mit Baha Hilo, einem palästinensischen Aktivisten und Mitbegründer von „To Be There“ über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Wahlen, Netanjahus Ankündigung das Jordantal annektieren zu wollen und die Auswirkungen der Wahlergebnisse auf Palästina gesprochen.

In Deutschland war überall von den „Wahlen in Israel“ zu lesen. Wo liegen die Grenzen innerhalb der Wahl, wer darf wählen und wer nicht ?

Obwohl der Staat Israel das Leben und die Freiheiten von fast 7 Millionen Palästinenser*innen kontrolliert (2 Millionen in Gaza, 3 Millionen im Westjordanland, 300.000 in Jerusalem und 1,7 Millionen in Israel), wird die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung von der Wahl ausgeschlossen. Ihre Abwesenheit bei den israelischen Wahlen wird durch das israelisches Grundgesetz legitimiert. Sieben Millionen Palästinenser*innen haben keine sogenannte „israelisch jüdische Identität“, weder laut Pass noch real existierend. Deswegen dürfen die meisten von ihnen nicht wählen gehen. Konkret bedeutet das, dass alle in Gaza, in der West Bank und in Jerusalem lebende Palästinenser*innen nicht an Wahlen in Israel teilnehmen dürfen. Trotzdem werden sie vom israelischen Staat kontrolliert und stetig diskriminiert.

Die palästinensische Bevölkerung, die in Israel lebt, sind die einzigen Palästinenser*innen, die zur israelischen zur Wahl gehen dürfen. Die einzigen Bewohner*innen des Westjordanlandes, denen es erlaubt ist, an den israelischen Wahlen teilzunehmen, sind israelische Siedler*innen.

Menschen ohne „israelische Identität“ haben also kein Wort bei den Wahlen zu melden. Welche Bedeutung hat das für die palästinensische Bevölkerung?

Aus der Abwesenheit der palästinensischen Bevölkerung bei den israelischen Wahlen resultiert, dass diese Palästinenser*innen für viele einfach nicht mehr existieren. Das ist auch ein Ziel von Israel und seinen Unterstützer*innen. Vor allem für die Palästinenser*innen, die in Israel leben und die, welche innerhalb der israelischen Grenzen von Jerusalem leben, ist das hoch problematisch.

Die Palästinenser*innen, die in Israel leben, werden von Israel, auch im Pass, arabische Israelis genannt. Die Palästinenser*innen, die in den israelischen Grenzen von Jerusalem leben, werden von Israel „ständige Bewohner Jerusalems“ genannt. Durch ihre Nichtbenennung und damit Nichtexistenz als Palästinenser*innen kann somit auch vom Staat verschleiert werden, dass sie einer stetigen Diskriminierung ausgesetzt sind. Die Verteidiger des Staates Israels machen bei dem Motto „Wir benennen sie nicht, daher existieren sie nicht, daher sind sie auch keiner Diskriminierung ausgesetzt“ ebenso mit. Verteidiger des Staates Israels und Israel selbst verleugnen damit die diskriminierende rassistische Realität und die bloße Existenz von Palästina und Palästinenser*innen. Palästina existiert aber, ebenso Palästinenser*innen, überall auf der Welt.

Um die Öffentlichkeit von dieser Realität abzulenken, denke ich, dass uns der Staat Israel erlaubt, noch teilweise das besetzte Westjordanland (mit Ausnahme von Jerusalem) und den Gazastreifen zu bewohnen. Damit können wir an den Wahlen zur PA (Palestine Authority, Palästinensische Autonomiebehörde, Anmerkung Redaktion) teilnehmen, einer Behörde, die unter jeglicher, vor allem finanzieller und militärischer, Herrschaft des Staates Israel im Westjordanland und im Gaza Streifen tätig ist. Sie steht unter totaler Kontrolle von Israel. Die Wahlen zur PA finden also unter israelischer Militärherrschaft statt.

Du sagst zwar, dass euch im besetzten Westjordanland erlaubt wird zu leben, allerdings gestaltet sich die Situation hier ja auch sehr kompliziert für Palästinenser*innen.

Ja, in der West Bank gibt es drei Zonen, A, B und C. In den Zonen A und B, ebenso wie in Gaza, erlaubt Israel der PA, öffentliche Dienstleistungen zu kontrollieren und zu versorgen, dazu gehören z.B. der Bekämpfung der Kriminalität, Organisation von Straßenverkehr, Gesundheitswesen, Schulen und so weiter. Aber die sogenannte „Sicherheit“ kontrolliert Israel, ebenfalls ist es der PA nicht erlaubt, Palästinenser*innen vor israelischen militärischen Angriffen zu schützen oder die Grenzen zu kontrollieren. Als zum Beispiel die US-Kongressabgeordnete Rashida Talib ihre Großmutter besuchen wollte, welche in der Nähe von Ramallah lebt (Ramallah gehört zur Zone A, die Umgebung zur Zone B, Anmerk. Redaktion), hinderte sie der Staat Israel daran. Kann er ja auch, er kontrolliert ja die Grenzen.

Die Zone C steht unter voller Kontrolle von Israel, also auch öffentliche Dienstleistungen.

Alle Zonen werden regiert von der israelischen Militärregierung.

Zurück zu den Wahlen: Netanjahu kündigte an, das Jordantal annektieren zu wollen. Welche Konsequenzen hätte das für die palästinensische Bevölkerung?

87% des Jordantals sind Gebiet C, also sowieso schon unter totalen Kontrolle von Israel. Im Jordantal leben etwa 120.000 Palästinenser*innen, wobei Jericho (Zone A, Anm, d. Red.) die größte palästinensische Gemeinschaft ist. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt dort. Der Rest ist über alle Gebiete verstreut. Die meisten der 50 palästinensischen Gemeinschaften, welche sich in der Region befinden, müssen jetzt schon entweder damit leben, dass ihre Häuser abgerissen werden oder flüchten. Der israelische Staat hat das Land palästinensischer Familien beschlagnahmt und geraubt, indem er in diesem Bereich militärische Zonen, militärische Ausbildungsplätze oder, falls eine Militärzone nicht in Betracht kam, Naturschutzgebiete eingerichtet hat.

Allein an diesem Beispiel zeigt sich, dass das diskriminierende und kriminelle Verhalten Israels gegenüber den Palästinenser*innen seit der Gründung der israelischen Regierung in unserem Land präsent ist. Es ist nicht schockierend, dass ein solcher Ministerpräsident ein solches Wahlversprechen geben wird. Palästinenser*innen wurde der freie Zugang zu ihrem Land und Besitz im Jordantal verweigert, seitdem der Staat Israel die Mehrheit genau diesen Tals zu geschlossen militärischen Zonen erklärt hat. Das Jordantal ist schon jetzt de facto eine geschlossene israelische Militärzone. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die vollständige Annexion des Gebietes erklären. Netanjahus Ankündigung, das Jordantal zu annektieren, verstehe ich deswegen nur als weiteres Versprechen des amtierenden Premierministers, uns noch mehr zu kontrollieren, als eh schon.

Hast du eine Ahnung, warum das Jordantal Israel so wichtig ist?

Der Staat hatte, wie in vielen anderen Fällen, den Aufbau des Militärs im Jordantal mit der israelischen „Sicherheit“ begründet. Im Zusammenhang damit ist interessant, was die Weltbank herausgefunden hat. Wenn die Palästinenser*innen ihr Land im Jordantal zurückgewinnen würden, könnten sie wohl mit dem Land etwa eine Billion USD jährlich erwirtschaften. Wirtschaftlich unabhängige Palästinenser*innen scheinen also eine Gefahr für die israelische Sicherheit darzustellen.

Kann durch die israelische Wahl dann noch irgendetwas für die palästinensische Bevölkerung verändert werden?

Genau das diskutiert die palästinensische Bevölkerung in Israel. Es gibt diejenigen, welche die (arabische) Partizipation als einen Weg sehen, den Staat zu verändern und Diskriminierung zu verringern. Und es gibt diejenigen, welche gegen die Teilnahme an den Wahlen sind, weil sie denken, das eine Wahl niemals grundlegende Rechte für Palästinenser*innen in Israel bringen kann. Das ist auch logischer, denn eine Gleichstellung wird ja schon vom israelischen Grundgesetz an und für sich verweigert, indem es nur Menschen zur Wahl zulässt, die eine israelische Identität haben. Und es ist auch sehr wichtig zu betonen, dass auch die Palästinenser*innen, die eine „arabisch israelische“ Identität haben, niemals die selben Rechte erfahren werden, wie die Menschen mit einer israelisch jüdischen Identität.

Unter der israelischen Herrschaft haben die Palästinenser*innen alle Arten von staatlicher Gewalt erlebt. Mord, Diebstahl von privaten Besitz und Land, Verweigerung aller möglichen Freiheiten, Wohnungsabrisse, massive Einschnitte in die Bewegungsfreiheit, Beschränkung des Zugangs zu den Ressourcen, einschließlich Land und Wasser. Alles, was dem Staat Israel einfällt um unser Leben zu kontrollieren, hat er schon gemacht.

Die Parteien, die man in Israel wählen kann, egal ob linker oder rechter Flügel, sind sich in einem alle gleich: sie stehen unter zionistischer Herrschaft (auch die arabischen Koalitionen). Die Unterschiede zwischen ihnen sind sehr gering, zum Beispiel bei Fragen, ob mehr oder weniger Lebensmittel in den Gazastreifen gelangen sollten oder nicht. Kleine Zugeständnisse gab und gibt es immer. Aber bei wesentlichen Fragen, zum Beispiel nach der generellen Frage der Freiheit der Palästinenser*innen oder dem generellen Zugang zur Nahrung, sind sie sich einig. Diese Fragen stehen nämlich gar nicht zur Debatte. Es wird also keine großen Veränderungen geben. Der Kampf im israelischen Parlament war schon immer ein Kampf zwischen verschiedene Parteien, welche die israelische Kontrolle über Palästina und die Palästinenser*innen behalten wollen.

Es ist daher falsch anzunehmen, dass die israelischen Wahlen dazu verhelfen können, in Palästina weniger Schaden zu verursachen, geschweige denn uns einen Schritt näher an Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und Selbstbestimmung zu bringen.

Egal was am Ende jetzt nach der Wahl noch rauskommt: die Palästinenser*innen werden weiterhin unter israelischer Kontrolle leben müssen, unabhängig davon, wer die israelische Exekutive inne hat. Solange der Staat Israel auf der Grundlage einer ausschließenden nationalistischen Ideologie basiert, und das tun linker und rechter Flügel, wird die palästinensische Bevölkerung unterdrückt und ihnen alle Grundfreiheiten verweigert.

# Interview mit Baha Hilo

# Interview und Übersetzung Lena Spix

# Titelbild : Mauer in Bethlehem

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