Die Nachricht, dass 950 Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren werden, scheint nicht mehr wert zu sein, als einen Tag Berichterstattung in der Presse und kurzzeitige Empörung vom Bezirksbürgermeister. Am 28. Mai wurde bekannt, dass die Neuköllner Zigarettenfabrik des Tabakmultis Philip Morris zum Jahresende ihren Betrieb einstellt und von 1.050 Angestellten nur 75 ihren Arbeitsplatz behalten können. 25 weitere werden in die Verwaltung nach Dresden und München ausgegliedert. Grund sei die Veränderung des Konsumentenverhaltens, welche eine deutliche Reduzierung der Produktionskapazitäten erfordere. Nach Unternehmensangaben solle es „faire und sozial verträgliche Lösungen“ für alle geben. Aus diesem Grund hätten sie sich auch gleich mit Bezirksbürgermeister Martin Hikel und der Arbeitsagentur zusammengesetzt. Hikel, der eher für unternehmerfreundliche Politik und den Wunsch, Neukölln „aufzuwerten“, bekannt ist, äußerte unglaubwürdiges Bedauern über die Schließung, sehe jedoch keine Hoffnung für den Erhalt der Arbeitsplätze. Die Entscheidung des Tabakkonzerns müsse „gesamteuropäisch“ gesehen werden – was auch immer das heißen mag.
Und seitdem? Nichts.
Der Einzige, der sich noch öffentlich zu äußern scheint, ist der stellvertretende NGG-Gewerkschaftsvorsitzende (Nahrung-Genuss-Gaststätten) Freddy Adjan. Da die Fabrik immer noch schwarze Zahlen schreibt, sei es „unverantwortlich und heuchlerisch, wenn Philip Morris seit Jahren die Leistungen und den Einsatz der Mitarbeiter – der ‚Berliner Originale‘ – betont und ein ‚verantwortungsvolles, langfristiges und stabiles Wachstum‘ proklamiert und mit einem Schlag diese Leute, die dem Unternehmen seit Jahrzehnten Milliardengewinne erwirtschaftet haben, auf die Straße setzt und ohne Not damit auch ihren Familien die Lebensgrundlage entzieht.“ Damit spricht er einen wichtigen Punkt an. Der Konzern erwirtschaftete 2018 einen Umsatz von 79 Milliarden Dollar und einen Gewinn von knapp acht Milliarden Dollar. Dieser Gewinn wurde von Arbeiter*innen erwirtschaftet und sie sind die Ersten, die die Konsequenzen zu spüren bekommen, wenn der Vorstand umstrukturiert. Dies ist natürlich kein seltenes Ereignis im Kapitalismus, sondern systemimmanent. Entscheidungen werden aus Profitinteresse über den Kopf von Arbeiter*innen hinweg getroffen.
Ein Grund für die Schließung ist sicherlich auch der Konkurrenzdruck auf dem Tabakmarkt. Innerhalb weniger Jahre sind durch Unternehmensfusionen weltweit nur noch vier private Tabakkonzerne übriggeblieben, der zweitgrößte ist Philip Morris International. Da der Tabakkonsum schrittweise zurückgeht, setzen die Hersteller seit einiger Zeit vermehrt auf die Produktion von Tabakerhitzern, welche weniger schädlich für die Gesundheit sein sollen. Da kann Philip Morris natürlich nicht hinterherhinken und nach mehreren Skandalen über katastrophale Arbeitsbedingungen bei Zulieferbetrieben und Tabakbauern beispielsweise in Italien und Kasachstan kann ein Wandel im Dienste der Gesundheit nicht schaden.
Nur eine gesichtslose Masse?
Fest steht, dass das, was dort passiert nur ein Beispiel unter Vielen ist. Auch bei Siemens, Paypal und Karstadt stehen Firmeninteressen über denen der Menschen – auch diese Unternehmen bereiten in Berlin massiven Stellenabbau voran. Aber hat eigentlich mal jemand die Arbeiter*innen gefragt, wie es jetzt für sie weitergeht? Es ist auch Bestandteil solcher signifikanten Änderungen, dass sie entpersonalisiert ablaufen, als wären die 950 Menschen eine gesichtslose Masse, für die das Leben dann halt anders weitergeht. Interessant wäre auch zu wissen, was in Zukunft auf dem Gelände passiert. Für 75 Arbeiter*innen braucht man keine so riesige Fabrik. Wird dort dann etwas anderes produziert oder wird neu gebaut? Eine Zigarettenfabrik will sowieso nicht so recht in das Konzept der Aufwertung von Neukölln passen. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn dort, wie schon an vielen anderen Orten wie dem Hermannplatz oder in der Karl-Marx-Straße, teure Wohnungen und Bürogebäude entstünden. Das würde in das Muster der schleichenden Veränderung in Neukölln passen, welche in letzter Zeit rasant an Fahrt aufgenommen hat. Sei es die durchschnittliche Mieterhöhung von 146% innerhalb der letzten zehn Jahre, die Verdrängung von Kleingewerbe und Mieter*innen, die Entlassung von Arbeiter*innen oder die Abwertung von Sozialhilfebezieher*innen – es findet ein Angriff auf uns alle statt und es ist Zeit, sich dagegen zu organisieren.
Widerstand ist notwendig
Ein Beispiel aus Argentinien im März diesen Jahres zeigt, dass auch Arbeiter*innen die Möglichkeit haben, sich zu wehren. In der Metallfabrik Canale in Llavallol, Provinz Buenos Aires, begannen die Arbeiter*innen sich zu organisieren, um sich aus der Ohnmacht angesichts der Unternehmenskrise in der eigenen Fabrik zu befreien. Die Krise spitzte sich immer weiter zu und äußerte sich in Form von Zahlungsverzögerungen, nicht eingehaltenen Tarifvereinbarungen, sowie einer allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Als die Fabrik dann endgültig geschlossen werden sollte, bauten die Arbeiter*innen auf dem Gelände ein Lager auf, um die Produktionsmittel zu schützen und organisierten Grillaktionen, um die Einkünfte aus der Arbeitslosenversicherung aufzubessern. Nach 130 Tagen der Besetzung gründeten die Arbeiter*innen die Kooperative COTRAMEL und übernahmen die Fabrik.
Solidarität mit den Beschäftigten
Dies ist nur eines von vielen Beispielen weltweit, wo Organisation und Widerstand Früchte tragen. Auch wenn in der jüngeren Vergangenheit andere Kämpfe präsenter waren, haben Arbeitskämpfe hier eine lange Tradition, die durch die gelebte Solidarität unter den Arbeiter*innen geführt werden konnten. Beispielsweise der siebentägige wilde Streik bei Opel 2004, der über Tage hinweg die Produktion von Opel europaweit lahmlegte. Diese Solidarität der Arbeiter*innenklasse wird durch die Politik der letzten Jahre untergraben. So kommt es, dass in den Kommentarspalten über die Schließung der Fabrik salopp geurteilt wird, dass es doch gut sei, wenn die Leute weniger rauchen – es sei gar eine “schmutzige Arbeit” und die Arbeiter*innen hätten ja jetzt die Möglichkeit, sich einen “sauberen Verdienst” zu suchen.Klar, könnte man machen, wenn der Arbeitsmarkt ein einziges Wünschdirwas wäre…Ist er aber nicht und daher gilt als Erstes die Solidarität mit denen, die ab Januar 2020 ohne Job dastehen. Die Schließung der Fabrik können wir nicht mehr verhindern. Wir können allerdings dazu beitragen, dass die Momente, in denen der Kapitalismus sein zerstörerisches Gesicht zeigt, nicht einfach widerstandslos über die Bühne gehen können. Es ist an der Zeit, sich entgegen der Spaltungen in der Gesellschaft, solidarisch mit den Betroffenen zu zeigen und uns zusammenzutun.
# Sabot44
#Titelbild: Sabot 44