Am 14. Dezember 2018 fiel der deutsche Internationalist Michael Panser, Kampfname Bager Nûjiyan, bei einem Bombardement der türkischen Luftwaffe gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den Gebirgsregionen des Medya-Verteidigungsgebiets an der irakisch-türkischen Grenze.
Auf kurdisch gibt es viele Namen für den Wind. Bager ist einer davon und es ist der Wind, der um sich selbst wirbelt, der Tornado. Der Wind, der sich scheinbar aus dem Nichts seine Form gibt und sich auflösen und neu zusammensetzen kann. „Nûjiyan“ heißt „neues Leben“.
Beide Namen sind sicher kein Zufall. Ich durfte mit Bager Nûjiyan im Frühling und Sommer 2017 einige Monate in Westkurdistan, Rojava, gemeinsam verbringen. Und eine der Eigenschaften, die ich mit ihm verbinde, ist genau dieser Wunsch, sich selbst neu zu erschaffen. Und am besten alle anderen gleich mit. Xêlil, wie Bagers Kampfname damals noch lautete, war, als ich mit anderen neuen Freund*innen in Rojava ankam, einer von denen, die uns begrüßt, eingewiesen und aufgefangen haben.
Er gehörte zu jenen Menschen, die ständig von den ganz großen Fragen umgetrieben werden. Und er war, wie das Abdullah Öcalan mal über sich selbst sagte, ein „Wahrheitssucher“. Einer der ständig liest, sich überlegt, was an dem gelesenen dran ist und es dann anderen weitererzählt. Er war ein ausgezeichneter Kenner der Geschichte politischer und philosophischer Theorien und fest davon überzeugt, dass diejenige, die Abdullah Öcalan in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, eine echte Perspektive für gelingendes gesellschaftliches Leben bieten. Und wie das so ist mit jemandem von diesem Schlag konnte man ausgezeichnet und bis an die Grenze des Wutausbruchs mit ihm streiten. Aber Streiten in jenem Sinn, der heute schon viel zu oft verloren ist und bei dem es nicht um irgendwelche kleinlichen persönlichen Vorlieben, irgendwelche Kränkungen kleinbürgerlicher Eitelkeiten geht. Sondern um Sachen, die eben wichtig sind und bei denen man deshalb verbissen argumentiert, weil man das noch erkennt.
Ich erinnere mich an eine auf den ersten Blick schräge Kombination an Literaturtipps, die er mir gab. Von buddhistischen Schriften über harten Politkram bis Sci-Fi und Märchen war alles dabei. Ich verdanke Xelil so nicht nur meine im Vergleich zu seinen beschämenden Kurdischkenntnisse, sondern auch eine seit damals anhaltende Liebe zu Douglas Adams. Er erklärte die Philosophie Abdullah Öcalans mit Zitaten aus Winnie Puh, riet mir, unbedingt und unverzüglich die Lektüre des „Hitchhiker‘s Guide to Galaxy“ nachzuholen, die ich sträflich vernachlässigt hatte, und ließ keine Gelegenheit aus, Walter Moers zu loben, dem wir unser gesamtes Wissen über Zwergpiraten, Wolperdinger und Eydeeten verdanken. Jack London‘s „Iron Heel“ stand genauso auf Xelîls Empfehlungsliste dringlich zu verschlingender Werke wie „Herland“ von Charlotte Perkins Gilman.
Das mag vielleicht alles irgendwie komisch wirken – denn wer fährt schon in ein Kriegsgebiet, um sich dann fünf Bände „Hitchhiker‘s Guide to Galaxy“ oder die Abenteuer von Walter Moers‘ Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz auf einem E-Reader reinzuziehen? Aber es ist bei genauerer Betrachtung eigentlich recht logisch. Die Revolution weitet den Blick auf das Zukünftige, das Noch-Nicht-Seiende, Utopische in einem guten Sinn. Auf die tausenden unrealisierten Möglichkeiten in diesem und den parallelen Universen.
Im übrigen passt dann am Ende doch immer alles zusammen und so kann auch der Lindwurm Hildegunst ganz gut etwas dazu beisteuern, um uns zu verdeutlichen, was Menschen wie Xelîl antreibt. „Diese Geschichte handelt von einem Ort, an dem das Leben noch ein Abenteuer ist“, kündigt der heranwachsende Hildegunst zu Beginn der „Stadt der träumenden Bücher“ an. Er warnt die Leser: Die Kamillenteetrinker, die das Risiko nicht eingehen wollen, für eine gute Geschichte ihr Leben zu verlieren, sollen erst gar nicht weiter lesen. Ihnen wünscht Hildegunst ein langes und sterbenslangweiliges Dasein. „Jede Reise hat ihren Anlaß, und meiner hat mit dem Wunsch zu tun, aus den gewohnten Verhältnissen auszubrechen“, sagt der angehende Dichter trotzig und macht sich auf den Weg, um sich mit überdimensionalen Würmern, menschenfressenden Spinnen und allerhand sonstigen Fabelwesen zu messen. Hildegunst sucht das Orm, die Kraft der Kreativität der begnadeten Dichter, jene Inspiration, „die einen die ganze Nacht wie im Fieber schreiben und einen tagelang an einem einzigen Satz feilen lässt.“
Und auch Xelîl war kein Kamillenteetrinker. Er wusste um das Risiko des Lebens, das er gewählt hatte und er hat es dennoch gewählt, weil ihm die Dauer des Hierverweilens nicht so wichtig schien wie das Herausfinden dessen, warum und zu welchem Zweck man eigentlich hier verweilen soll.
Und weil er aus eben den gewohnten Verhältnissen ausbrechen wollte, in denen wir als deutsche Linke immer noch dahintümpeln. Er wollte das nicht für sich, individuell. Sondern in der festen Überzeugung, dass nur durch den Austausch und das Zusammenkommen mit einer wirklich revolutionären Bewegung auch in der westlichen Linken irgendetwas vorangehen kann.
Er fiel im Krieg gegen die menschenfressenden Spinnen. Gewonnen haben die aber dennoch nicht, denn er hatte ja sein Orm schon lange vorher gefunden und sie sind halt nichts als Spinnen. Wer weiß, wie gerne und wie bewusst er genau da war, wo er war, der wird nicht traurig darüber sein. Traurig kann man über die sein, die das Abenteuer der Suche nach dem Orm nie anfangen.