Minerva, 28, ist marxistische Feministin aus dem Iran. Sie hat an verschiedenen linken Kampagnen teilgenommen und arbeitet mit einer Organisation, die Bildungsangebote für Arbeiter*innenkinder und Kinder aus Familien, die aus Afghanistan in den Iran geflohen sind, organisiert. Zu ihrer Sicherheit benutzt sie ein Pseudonym, da ihr Inhaftierung und Folter drohen, sollte die iranische Regierung von ihrem Kontakt zu linken oder feministischen Organisationen oder Medien erfahren. Minervas echter Name ist der Autorin bekannt.
In Deutschland hören wir selten von Kämpfen von unten aus dem Iran. Generell ist in der Linken hier wenig über die gesellschaftliche Realität dort bekannt. Für einen ersten Überblick: Wie sieht die aktuelle sozio-ökonomische Situation aus?
Die Regierung setzt mit ihrem neoliberalen Ansatz die Privatisierung aller öffentlichen Sektoren fort. Dieser Vorgang ist nicht transparent und oft wird öffentliches Eigentum an militärische Organisationen oder Personen mit Regierungsbeziehungen gegeben. Die Regierung kürzt in den Bereichen Gesundheit und Soziales. Mit dem wachsenden Wohlstandsgefälle ist es fast unmöglich, auf der sozialen Leiter nach oben zu kommen. Diese Bedingungen haben dazu geführt, dass wir fast mitten im sozialen Zusammenbruch stecken. Wir sind mit vielen Krisen konfrontiert: Arbeitslosigkeit, Arbeitskräftemangel, Kinderarbeit, verstärkte Prostitution, die Ausbreitung von Armut, reduziertem Sozialkapital und mangelndem Vertrauen der Öffentlichkeit in staatliche Institutionen.
Du hast am 8. März 2018 an Frauenprotesten in Teheran teilgenommen und bist nur knapp der Verhaftung entkommen. Wie sieht die aktuelle Frauenbewegung im Iran aus?
Im Jahr 2018 gab es viele Soziale Bewegungen und Streiks im Iran. Frauen haben diese Bewegungen prominent angeführt. So waren beispielsweise während der Streiks der Lehrerinnen und Lehrer und der pensionierten Lehrerinnen und Lehrer mehr als die Hälfte der Streikenden Frauen. Während der Arbeiterstreiks in Fabriken im ganzen Land, wie wir sie bei den Streiks der Zuckerfabrik Haft Tappeh erlebt haben, haben sich auch die Familien der Arbeiter organisiert. Selbst Frauen, die nicht mit den konkreten Problemen der Fabrikarbeiter zu tun hatten, haben sich dem Streik angeschlossen und ihn unterstützt. Es gibt Videos online, in denen diese Frauen vor einer Menschenmenge über häufige Probleme sprechen. Im Moment befindet sich die Frauenbewegung im Iran in einem grundlegenden Wandel und nähert sich den Protesten der Unterschicht an. Es gibt auch Proteste gegen den Zwang ein Hijab zu tragen, der vor etwa 14 Monaten begann. Frauen begannen, ihr Kopftuch auszuziehen, standen mitten in der Stadt und hielten ihr Tuch demonstrativ in den Händen. Fast alle diese Frauen wurden zumindest für eine Weile verhaftet und zu unterschiedlichen Haftstrafen verurteilt. Eine öffentliche und breite Bewegung existiert jedoch aufgrund staatlicher Repression nicht.
Wir hören hier oft ganz allgemein von Frauenunterdrückung im Iran. Wie sieht die Situation für Frauen wirklich aus?
Im Iran reichen Sexismus und
Geschlechterungleichheit von den Seiten der Gesetzesbücher bis hin
zu Universitäten, Büros und Familien. Auf dem Arbeitsmarkt werden
Männer eindeutig bevorzugt eingestellt. In gleicher Position haben
Frauen im Schnitt 23 Prozent weniger Einkommen als Männer. Frauen
dürfen weder in die Armee noch zur Feuerwehr. Außerdem dürfen
Frauen weder Richterin werden, noch kann eine Frau das höchste Amt
in der Islamischen Republik bekleiden. Eine Studie hat sogar ergeben,
dass zwischen März 2016 und März 2017 64 Prozent aller Männer,
aber nur 14 Prozent aller Frauen im erwerbsfähigem Alter im Iran
einer bezahlten Arbeit nachgingen.
In den Ehegesetzen ist alles
zugunsten von Männern. Es ist sehr schwer für eine Frau die
Scheidung einzureichen und Männer haben sogar das Recht, gegen ihren
Willen Sex mit ihrer Frau zu haben. Der Führer der Islamischen
Republik Iran sagt, dass das größte Ziel einer Frau das Gebären
von Kindern sei. Außerdem kann der Ehemann oder der männliche
Vormund einer Frau sie davon abhalten ins Ausland zu reisen oder
einer Lohnarbeit nachzugehen. Die Unterdrückung von Frauen im Iran
ist nicht nur imperialistische Rhetorik. Sie ist sehr real und trifft
Frauen der Arbeiterklasse am härtesten, da sie sich zum Beispiel
nicht auf ein Erbe ihrer Eltern verlassen können, welches ihnen ein
klein wenig erkaufte Freiheit erlauben würde.
Welche Art von Aktivitäten zum 8.März gab es im Iran dieses Jahr?
Aufgrund der starken Repression der Regierung gibt es jedes Jahr am 8. März unterschiedliche Aktivitäten. Der erste massive Widerstand gegen die Islamische Republik war, weniger als einen Monat nach der Revolution, am 8. März 1979 und wurde von Frauen geführt. Sie erhoben Einspruch gegen das obligatorische Hijab-Gesetz. Im Jahr 2005 protestierten Frauen am 8. März öffentlich. Den Protestierenden wurde mit gewaltsamer Repression begegnet. Die meisten Frauen wurden inhaftiert und gefoltert. Letztes Jahr am 8. März organisierten Frauen einen Protest vor dem Arbeitsministerium, um gegen die ungleichen Arbeitsgesetze im Iran zu demonstrieren. Die meisten der Demonstrantinnen wurden verhaftet und einige von ihnen einen Monat lang verhört und gefoltert. Dieses Jahr gab es keine Demonstration, aber in der ganzen Stadt gab es gesprühte Parolen, Graffiti und Poster, die die Probleme der Frauen im Iran thematisierten. Dies war sehr eindrucksvoll.
Wie kann eine gemeinsamer Kampf von Frauen im Iran und außerhalb des Irans gegen patriarchale Gewalt, imperialistische Aggression und kapitalistische Ausbeutung aussehen?
Um die Kräfte der iranischen Frauen und die der globalen Kämpfe von Frauen zu bündeln, bräuchten wir eine effektive Korrespondenz zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der Frauenkommissionen, der Vereinigungen von Studierenden, Arbeiterinnen und Arbeitern usw. aller Länder. Aufgrund des hohen Maßes an Repression, mangelnder Versammlungsfreiheit und mangelnder Aufmerksamkeit für die Rechte der Frauen bei den meisten iranischen Oppositionsgruppen im Ausland, ist dies jedoch bisher nicht geschehen. Wir erwarten jedoch, dass internationalistische Aktivistinnen auf der ganzen Welt ihre Solidarität mit uns bekunden, unsere Stimmen sind, und ihre Medien und andere Möglichkeiten nutzen, um für eine freie Organisierung von Frauen und Arbeiterinnen und Arbeitern im Iran zu kämpfen.
#Interview und Übersetzung: Amanda Trelles Aquino
#Titelbild: Graffiti „Die Religion soll sich aus meinen Rechten zurückziehen“ März 2019/Iran