Als das Erdogan-Regime das nordsyrische Afrin Anfang 2018 militärisch besetzte, wurden hunderttausende Menschen vertrieben. Ein Besuch bei Geflüchteten in Til Temir.
Seit einigen Wochen werden die Angriffsdrohungen der Türkei gegen die verbleibenden beiden Kantone der demokratischen Selbstverwaltung im Norden Syriens, Kobane und Cizire, konkreter. Der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan will die Auslöschung aller kurdischen Verbände. Schon Anfang 2018 durfte er, unterstützt von den USA, Russland und Deutschland, diesen Vernichtungswillen an einer nordsyrischen Provinz – Afrin – erproben. Das Gebiet wurde besetzt, türkisiert, geplündert, hunderttausende wurden vertrieben. Heute wird Afrin von islamistischen Terrorbanden und der türkischen Armee verwaltet.
Unser Reporter in Syrien, Bernd Machielski, besuchte Ende November Til Temir, eine Stadt, in deren Umgebung zahlreiche geflüchtete Familien aus Afrin Zuflucht fanden. Er sprach mit dem Vorsitzenden der lokalen Kommune, Bave Demhat, über den Krieg in Afrin.
Es ist kalt geworden in Rojava. Das Thermometer klettert gerade über die drei Grad Grenze, als der Morgen in Til Temir anbricht. Til Temir ist eine kleine, für Rojava typische Stadt. Wenn du über den Marktplatz läufst, werden dir frisches Brot und allerlei Backwaren, Früchte und andere Leckereien angeboten. Du hörst die verschiedensten Sprachen, arabisch, kurdisch, assyrisch.
Ich bin auf dem Weg in das lokale Navenda Ciwanen, das Jugendzentrum. Es trägt den Namen von Sehid Navdar, wie mir mein Begleiter, Heval Xalil, berichtet. Navdar, sagt Xalil, habe eine große Rolle in den Jugendarbeiten Rojavas gespielt, bis er vor einiger Zeit gefallen ist. Auch für die Jugendbewegung sind die eigenen Gefallenen fester Bestandteil der Gedenk- und Erinnerungskultur. Ihre Träume und Ziele, so hört man immer wieder, will man im eigenen Kampf weiterleben lassen.
Insgesamt werde ich einige Tage in Til Temir verbringen, heute gehen Xalil und ich allerdings zu einem besonderen Ort, das nahegelegene Dorf Til Nesri. Til Nesri ist jenes Dorf, bei deren Verteidigung die deutsche Internationalistin Ivana Hoffman fiel. Bis vor der Übernahme durch Daesh, den Islamischen Staat, war es eines von vielen mehrheitlich assyrischen Dörfern in der Umgebung von Til Temir. „Als Kobane befreit wurde intensivierte Daesh seine Angriffe auf Til Temir und die die Stadt umgebenden Dörfer. Über 400 unser Kämpfer*innen sind bei der Verteidigung und Rückeroberung Til Temirs und seiner Dörfer gefallen“, berichtet Xalil.
„Unter dem Regime gab es eine klar konstruierte Klassengesellschaft“, holt der Freund weiter aus. „An der Spitze der Pyramide standen diejenigen, die dem Baath-Regime angehörten, ihnen folgten die schiitischen Aleviten und die Assyrer. Dann kamen die sunitischen Araber*innen und zum Schluß die Kurd*innen. Durch das Einbeziehen der assyrischen Bevölkerung in die Politik des Baath-Regimes haben sie sich damals eine künstliche Mittelschicht geschaffen, die mit dem Regime zusammenarbeitete, um sich an der Macht zu halten. Gerade in den 1950er Jahren wurden viele Assyrer*innen gezielt hier angesiedelt. Und am Ende der Pyramide wurde eine weitere Spaltung forciert: die von Kurd*innen und Araber*innen“.
Als wir das Dorf Til Nesri betreten, können wir mit eigenen Augen betrachten, was die Schreckensherrschaft des Islamischen Staates für „Ungläubige“ bedeutete. Die gesamte Kirche wurde von Daesh in die Luft gesprengt. Wir gehen schweigend und nachdenklich über die Ruinen, ein verstaubtes Kirchengewand liegt neben dem gesprengten Altar.
Eigentlich sind wir nach Til Nesri gekommen, um uns mit dem Vorsitzenden der örtlichen Kommune zu treffen. In dem winzigen Til Nesri wohnen seit dem Angriffskrieg der Türkei gegen Afrin über 110 Familien. Hier fanden einige von denjenigen Zuflucht, die mit deutschen „Leopard II“-Panzern aus ihrem Zuhause vertrieben wurden, deren Häuser nun von Dschihadisten bewohnt oder geplündert und von der Türkei verwaltet werden.
„Bevor die Revolution in Afrin und ganz Rojava losging, war Afrin bereits ein wirtschaftlich starker Ort. Vor allem im landwirtschaftlichen Bereich“, erinnert sich der Kommunen-Vorsitzende Bave Demhat. „Die Oliven, deren Qualität weltweit bekannt ist, auf deren Verkauf die Bevölkerung angewiesen war, wurden den Bauern allerdings vom Baath Regieme nur für den Bruchteil ihres Werts abgekauft, genau wie die meisten anderen Waren.“
Bave Demhat ist Kurde. Seine Muttersprache habe er nicht sprechen dürfen, als das Baath-Regime noch die Kontrolle im Norden Syriens hatte. „Wir waren unsichtbar. Erst nach der Revolution haben wir unsere eigene Sprache, und auch die Sprachen der anderen Bevölkerungsgruppen neu entdeckt. Unsere Selbstverwaltung wurde langsam aufgebaut und von Tag zu Tag stärker. Unsere Kulturen konnten aufblühen“, sagt Demhat. „Auch wirtschaftlich wurde in Afrin nach der Revolution viel aufgebaut und erste Modernisierungen, zum Beispiel neue Fabriken, wurden erreicht. Das Kooperativensystem wurde ausgebaut. Afrin war einer der am besten funktionierenden Kantone Rojavas. Deshalb hat Erdogan ihn auch gezielt angegriffen, um eines der Musterbeispiele der Revolution zu zerstören“, erzählt mir der Vorsitzende. „Heute ist es weltweit bekannt, dass der türkische Staat ein faschistischer Staat ist. Ein Staat, der auf Besatzung und Unterdrückung der Völker, besonders des kurdischen Volkes, aufgebaut ist.“
Der Angriff gegen Afrin sei barbarisch gewesen, unglaubliche Verbrechen hätten sich ereignet, berichtet Bave Demhat. Gezielt habe die türkische Armee Wohnviertel und unbewaffnete Zivilisten bombardiert. „Wir haben es mit unseren eigenen Augen gesehen, wie unsere Freunde, Väter, Mütter, Kinder mit deutschen Waffen von dschihadistischen Milizen und der türkischen Armee ermordet wurden. Für uns war damit klar, dass Deutschland ein Kriegspartei ist“, sagt Demhat aufgebracht.
Die Kriegsführung sei auf die Vertreibung der Bevölkerung ausgerichtet gewesen. „Wir wollten nicht weg, aber unsere Kinder sind vor uns getötet wurden. Wir verstanden, dass das keine Kollateralschäden sondern gezielte Angriffe waren“, so Bave Demhat. Viele Zivilist*innen machten sich irgendwann auf den Weg Richtung Afrin Stadt. „Nahezu eine Million Menschen haben sich zeitweise in Afrin versammelt und gegen den türkischen Angriff Widerstand geleistet.“
Als die Zivilbevölkerung Afrins immer stärker zum Rückzug gezwungen war, weil die Kämpfe das Stadtzentrum erreichten, machten sich die Familien in Richtung Til Temir oder Sheba auf. Direkt nach der Ankunft in Til Nesri begannen die Familien ihre Selbstverwaltung erneut aufzubauen. Gemeinsam mit Hilfe kurdischer Hilfswerke und der lokalen Institutionen ist innerhalb von wenigen Monaten nun ein gut funktionierendes System der Selbstverwaltung nach den Prinzipien des demokratischen Kornföderalismus Abdullah Öcallans aufgebaut wurden. „Wir verwalten uns hier komplett selbst mit unserem Kommunensystem“, ist Bave Demhat stolz. „Es gibt verschiedene Komitees, die das Zusammenleben hier organisieren. Aber abseits der kurdischen Freund*innen und ihren Institutionen unterstützt uns hier niemand. Die UNHCR kommt selten vorbei. Die bringen dann ein bisschen Milch, ein paar Decken schießen ein Werbefoto für ihre eigenen Interessen und fahren wieder.“ Beschweren wolle er sich nicht. Und betteln schon gar nicht. Es mangle zwar manchmal selbst an Nahrungsmitteln. „Aber wir werden gemeinsam einen Weg finden. Wir setzen auf unsere eigene Stärke anstatt auf die der Staaten.“ Nur eine Forderung habe man, explizit an Deutschland: „Hört auf, der Türkei Waffen zu liefern“, ruft Demhat zornig.
# Bernd Machielski