Als italienischer Autonomer in der Revolution in Kurdistan. Gespräch mit Heval Xwinsor
Heval Xwinsor ist in der italienischen Gruppe Autonomia Contropotere organisiert. Auf seiner Reise durch Rojava traf LCM-Reporter Bernd Machielski ihn in Til Temer.
Lieber Genosse, stell Dich unseren Leser*innen doch bitte etwas vor. Woher kommst Du, was machst Du so?
Mein Name ist Xwinsor. Ich komme aus Italien, und bin organisiert in einer Gruppe namens „Autonomia Contropotere“, das bedeutet soviel wie „autonome Gegenmacht“. Autonomia Contropotere ist eine Organisation, die in ganz Italien in lokalen Gruppen organisiert ist. Die Organisation ist ein Ergebnis der Kämpfe in den 1980er Jahren.
Wir haben auch einen Internetblog namens „Infoaut“, der vor mehren Jahren gegründet wurde. Dort werden Analysen der politischen Situation Italiens, aber auch Reportagen über verschiedene politische Kämpfe auf der ganzen Welt veröffentlicht.
Warum bist du nach Rojava gekommen?
Ich war bereits vor zehn Monaten in Rojava mit einer Delegation von 20 Genoss*innen unserer Organisation. Diese hat ca. zwei Monate gedauert. Die Erfahrungen in der Delegation waren sehr gut, aber ich hatte noch immer viele offene Fragen, die ich diskutieren wollte. Danach bin ich zuerst einmal wieder nach Italien gereist, um dort weiter zu arbeiten. Aber nach einiger Zeit und vor allem mit dem Beginn der türkischen Angriffe auf Afrin habe ich immer stärker gemerkt, dass ich wiederkommen muss. Auch um die Revolution hier in Rojava besser zu verstehen. Aber auch, weil die Antworten, die wir in Italien auf den Angriff auf Afrin gefunden hatten, meiner Meinung nach nicht ausreichend und nicht effizient waren.
Ich wollte hier direkt vor Ort daran mitwirken, diese Revolution zu verteidigen. Deshalb habe ich mich auch von vorne herein entschlossen, in einer bewaffneten Einheit hier zu kämpfen. Aber es geht mir nicht nur ums kämpfen. Es ist wichtig, dass die Beziehungen unserer Bewegung und der kurdischen Bewegung fortgeführt werden. Einige Genoss*innen waren bereits länger hier und haben sich an der zivilen wie militärischen Verteidigung von Afrin beteiligt. Ich führe diese Arbeiten jetzt fort.
Was hat dich bisher am meisten beeindruckt?
In der Delegation vor zehn Monaten hatte ich die Möglichkeit an einer langen ideologischen Bildung teilzunehmen, die sehr gut und tiefgehend war. Dieses mal hatte ich die Möglichkeit eine Bildung in einem Tabûr (militärische Einheit, d.Red.) zu erhalten, welches aus lokalen Kräften, also der lokalen Bevölkerung Rojavas besteht. Das hat mich sehr beeindruckt. Die Realität von YPG und vor allem der Jugend in Rojava besser zu verstehen, wurde mir so möglich. Von jungen Menschen in Rojava, die verglichen mit der Jugend in Europa ideologisch so stark sind, schon an so vielen Orten gekämpft haben, und deren Genossenschaftlichkeit, Hêvaltî so stark ausgeprägt war. Zeit mit ihnen zu verbringen war etwas ganz besonderes.
Aber natürlich haben wir auch die Widersprüche hier gesehen, die in dieser Volksmiliz existieren. Zum Beispiel denken auch hier einige darüber nach, nach Europa zu gehen, weil sie stark von der Ideologie der kapitalistischen Moderne und Europa beeinflusst sind. Darüber haben wir sehr viel diskutiert. Und ich habe gesehen, wie wichtig in dieser Revolution die Kaderinnen und Kader sind. Ihre Fähigkeit, mit den Widersprüchen und Angriffen der kapitalistischen Ideologie umzugehen und so starke Überzeugungsarbeit zu leisten, war sehr beeindruckend.
Welche Bedeutung hat die Revolution in Rojava für Europa und im besonderen für Italien aus deiner Perspektive?
Die Revolution in Rojava hat eine globale Bedeutung. Sie ist eine der wichtigsten aktuellen revolutionären Ereignisse weltweit. Für mich ist es wichtig, hier her zu kommen, diese Revolution verstehen zu wollen. Zu sehen, wie sieht eine Revolution aus und diese nicht zu idealisieren. Ihre Widersprüche zu sehen und einen Umgang damit zu finden. Die Bewegung hier ist sehr offen für Internationalist*innen. Wir bekommen hier alles gezeigt, es werden dir nicht nur die Zuckerstücke präsentiert.
Was können wir von der Revolution in Rojava lernen?
Was hier völlig klar wird, ist die Relevanz einer starken revolutionären Organisation als Motor gesellschaftlicher und revolutionärer Entwicklungen. Wir können lernen, wie wir unsere Theorie und Ideologie in einer Sprache und Praxis transformieren können, die die Bevölkerung versteht. Wir können lernen, unsere eigene Geschichte wieder bewusst wahrzunehmen, die Geschichte von Widerstand und Kultur zu entdecken und anzueigenen. Denn in Europa gibt es oft diese Lücke zwischen uns und den Menschen, die wir erreichen wollen.
Abdullah Öcalan hat eine dieser Theorien geschaffen. Die PKK hat sich nicht einfach so von einer Marxistisch-Leninistischen Partei weiterentwickelt zu ihrer aktuellen Verfassung. Öcalan war fähig, seine Ideen für die Kurdinnen und Kurden fühlbar zu machen, Werte und Kultur des mittleren Ostens revolutionär zu deuten.
Ein weiterer Punkt ist die Relevanz von Hêvaltî (kurdisch für Freundschaft, Genossenschaft, d.Red.). Es existieren ja auch genossenschaftliche und freundschaftliche Beziehungen bei uns in Europa. Aber wir müssen verstehen, was die Bewegung hier darunter versteht, z.B. Kritik und Selbstkritik oder Persönlichkeitsentwicklung hin zu Militanten, und daraus lernen und unsere Beziehungen zu Hause weiterentwickeln.
Die Stärke der wêlat-parêz-Familien (wörtlich übersetzt „patriotische Familien“, meint die mit der Bewegung sympathisierenden Familien, d.Red.) hier hat mich auch sehr beeindruckt. Ich denke, dass wir aktuell die Fragen um Liebe zum Land, nicht zum Nationalstaat, oft den Faschisten und Rechten überlassen, weil wir es nicht schaffen diese Gefühl, was ja existiert bei tausenden von Menschen, revolutionär zu besetzen. Wir haben in einer Stadt in Italien gerade angefangen, diese Diskussion zu führen und wollen schauen, worauf das hinausläuft. Wir wollen zum Beispiel die italienische Widerstandsgeschichte stärker hervorheben und die italienischen politischen Gefallenen.
Was ist die Rolle von Internationalist*innen in der Rojava-Revolution?
Zuallererst: Zu lernen und offen für Neues zu sein. Herauszutreten aus unserer europäisch-westlichen Arroganz und zu verstehen: Du bist jetzt im mittleren Osten. Und hier sind viele Dinge anders und manchmal vielleicht auch irritierend. Aber meine Annäherung war immer, und ich denke dass sollte sie generell sein: Sei offen.
Die Bewegung hier ist sehr offen und ich denke, wir können hier insgesamt viel lernen und aber auch viel beitragen. Entweder hier in Rojava direkt vor Ort, denn in einer Revolution gibt es tausende Dinge zu tun. Auch wir können uns hier mit unseren Fähigkeiten einbringen, oder aber in unseren Ländern. Denn die Revolution in Rojava braucht, um zu überleben, die Unterstützung der internationalen Revolutionär*innen. Afrin hat dies sehr deutlich gezeigt. Und auch auf die aktuellen Angriffe auf Kobane müssen international beantwortet werden. Wir müssen starke Revolutionäre Organisationen in unseren Ländern aufbauen, damit helfen wir hier der Revolution besonders. Denn es sind die Waffen unserer Staaten, die tausende unserer Genoss*innen und Zivilisten töten und die an den Kriegen verdienen.