In Gedenken an Mahir Serhat, ermordet am 15. August 2018 durch die Luftwaffe der Türkei
Irgendwann vor einigen Wochen wird eine Delegation von türkischen Anzug- und Uniformträgern auf eine Delegation von amerikanischen Anzug- und Uniformträgern getroffen sein. Man wird verhandelt haben. Es wird Dissens in einigen Fragen, Übereinstimmungen in einigen anderen zwischen den Vertretern der beiden Nato-Staaten gegeben haben. Die türkische Seite wird einiges gefordert haben, die amerikanische einiges gegeben, um die angeknacksten Beziehungen am Laufen zu halten. Eine der zahllosen Geheimdienstagenturen Washingtons wird dann die Koordinaten geliefert haben. Irgendwo in Ankara wird man die Koordinaten weitergeleitet haben an die Luftwaffe. Die USA, die den irakischen Luftraum kontrollieren, werden vor dem Abfliegen der Drohnen und Jets informiert worden sein.
Und jetzt ist mein Freund Mahir tot.
Er wurde bei einem Bombardement am 15. August im irakischen Jesidengebiet rund um die Sengal-Berge verwundet, vergangene Woche erlag er seinen Verletzungen. Mahir, seit 15 Jahren Kämpfer der kurdischen Bewegung im Mittleren Osten, war nicht das Ziel der Operation. Der gezielte Anschlag galt einem anderen, Zeki Sengali.
Und doch ist auch mein Freund Mahir tot.
Er ist einer von vielen tausenden Kurdinnen und Kurden, die der türkische Staat seit den 1970er Jahren umgebracht hat. Einer von vielen Tausenden, die sterben mussten, weil sie ein Leben ohne Würde und Selbstbestimmung nicht akzeptieren wollten. Einer von Tausenden, deren Köpfe und Rümpfe von Kugeln durchsiebt, die von Bomben in Stücke gerissen oder in Kellern verbrannt wurde. Und wie alle diese Menschen hatte Mahir eine Geschichte, ein Leben, hatte Träume, Ziele. Ein sehr kleiner Teil dieser Geschichte ist auch meine Geschichte.
Mahir Serhat war mein Ausbilder, mein Kommandant, aber mehr als das, er war mein Freund. Ich kam, zusammen mit einem anderen Deutschen, irgendwann im Hochsommer 2017 aus Rojava in den Sengal. Mahir war damals Leiter einer der Serwanen Nû, der Militärschulen der kurdischen Bewegung. Ich mochte Mahir sofort und er uns Internationalisten. Er hörte uns zu. Wir hörten ihm zu. Wir lernten voneinander, wir sicher mehr von ihm, als er von uns.
Mahir war robuster Kerl Mitte 40 aus der Region Serhat, selbstverständlich ausgestattet mit jenem Oberlippenbart, den türkische und kurdische Revolutionäre seit Menschen Gedenken ihr Gesicht zieren lassen. Mahir war immer zu Scherzen aufgelegt, aber ernst, wo Ernst angebracht war. Mit ihm konntest du über alles reden. Er konnte hart sein. Aber er war hart, weil er die Menschen mochte. Und weil er Kritik als einen Freundschaftsdienst verstand.
Wenn wir bei der täglichen Tekmil, jenem Plenum der Truppe, bei dem Kritik und Selbstkritik geübt werden sollen, schwiegen, uns selbst und unsere Genossen nicht kritisierten, wurde seine Stimme laut: »Wenn keiner von euch etwas zu sagen hat, dann habt ihr allesamt nichts gelernt«, sagte er streng. »Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Ihr habt alle Verhaltensweisen der alten Gesellschaft überwunden und macht keine Fehler mehr. Das können wir ausschließen. Oder ihr traut euch aus Angst oder falscher Rücksichtnahme nicht, einander zu kritisieren. Dann aber seid ihr euch schlechte Freunde. Ihr sabotiert einander. Kritik ist, was ihr füreinander tun könnt. Sie ist die Hand, die ihr euren Genossen reichen könnt.«
Es trafen Welten aufeinander. Wir Europäer, aufgewachsen mit Schulbildung und ohne andauernden täglichen Überlebenskampf. Und unsere Kameraden, jesidische Jugendliche, die oft nicht Lesen oder Schreiben konnten, geboren in eine Gesellschaft, die so lange Opfer von Genoziden wurde, bis sie sich beinahe aufgegeben hatte. Und Mahir. Der Ruhige, Gelassene, der alte Kämpfer aus dem nordkurdischen Serhat, der uns verstand und auch die jesidischen Jugendlichen. Und der versuchte, uns zu zeigen, was es heißt, Revolutionär zu werden.
Eines Tages, während wir kochten, begann Cihan, der jüngste, kleinste und schwächste der Runde, mit der Kevarnok, der Zwille, auf kleine Vögel zu schießen. „Das macht man nicht“, schimpfte ich, als er mich holte und mir einen von ihm erlegten Vogel präsentierte. Das kleine Tier zuckte, versuchte sich aufzurichten, schaffte es aber nicht mehr. „Man tötet nichts aus Spaß, nicht einmal einen Vogel“, argumentierte ich. „Wenn du hungrig bist und ein Tier töten musst, ok. Wenn es dich angreift, ok. Aber nur weil dir langweilig ist, kannst du doch nicht irgendwas umbringen.“ Cihan schaute reuig zu Boden. Er nahm den in den letzten Zügen liegenden Vogel und hielt seinen Kopf unter Wasser. Jetzt hatte ich Mitleid mit Cihan, weil der nun offenkundig traurig über das war, was er getan hatte. „Lass es, ist schon gut. Der schaffts nicht mehr.“ Cihan warf den Vogel auf ein Vordach, er blieb in der Sonne liegen und verendete. Wir einigten uns darauf, dass das nicht noch einmal vorkommen sollte. Cihan schien zu verstehen. Wenige Stunden später aber wurde meine Argumentation einer harten Prüfung unterzogen. Heval Qenco, einer unserer Ausbildner, kam von einer seiner Touren zurück in die Basis. Um ihn bildete sich eine Traube, Worte der Anerkennung wurden laut. Der Grund des Aufruhrs: Qenco hatte, ebenfalls aus Langeweile und wohl um zu beweisen, wie er mit seinem Gewehr umgehen kann, ein Eulenbaby erschossen. Ein Eulenbaby. Das wohl süßeste Lebewesen, das in dieser Einöde, die uns umgab, zu finden war. Der Kopf mit den großen Runden Augen hing leblos zur Seite, in der Brust klaffte ein Loch. „Erklär doch mal, was für einen Sinn macht das denn, dass du die Eule jetzt erschossen hast“, sagte ich zornig. Qenco verstand aufrichtig das Problem nicht.
Ich ging zu Mahir. Formal gesehen war Qenco ja mein Vorgesetzter, aber natürlich war er im Unrecht. Mahir ermahnte ihn scharf. Wir versuchten beide, ihm zu erklären, warum man aus Gaudi keine Eulen meuchelt. Qenco war bockig und verwirrt. Ich musste härtere Geschütze auffahren, also zitierte ich Öcalan. Er verstand immer noch nicht, aber die Erwähnung Serokatîs zog. Er sagte kleinlaut „Ok, Entschuldigung“, warf das Eulenbaby in die Mülltonne und trat ab.
Nachdem Qenco gegangen war, wandte sich Mahir nun an mich. Ich hätte Lob erwartet, schließlich hatte ich doch das ökologische Paradigma verteidigt. Mahir aber lobte mich nur nicht, er meinte, mein Fehler in der Auseinandersetzung sei noch dramatischer als der des Eulenmörders. „Du kannst in dieser Gesellschaft nicht als Revolutionär bestehen, wenn du keine Geduld und kein Verständnis für die Menschen entwickelst“, mahnte Mahir. „Das ist das um und auf. Sauer zu werden, sich aufzuregen, bringt überhaupt nichts. Du musst verstehen, warum die Leute so geworden sind, und du musst nach Möglichkeiten suchen, sie an der Hand zu nehmen. Und das braucht Zeit. Geduld ist vielleicht das Entscheidendste, was du hier lernen kannst.“
Es sind viele kleine Geschichten, an die ich mich erinnere, wenn ich an meinen Freund Mahir denke. An stundenlange Gespräche bei Tee und Baklava, daran, wie er uns einen Disko-Pumper-Haarschnitt verpasste, wie wir uns in die Arme schlossen, als wir viele Monate später nach einem Fronteinsatz in Raqqa noch einmal in den Sengal zurückkehrten. Tatsächlich war das Wichtigste, was wir Ausländer von unserem Kommandanten mitnahmen, diese Jugendlichen, unsere Genossen, wirklich zu lieben.
Aber jetzt ist mein Freund Mahir tot.
In Washington und Ankara werden sie einander die Hände schütteln. Ein Terrorist weniger. Und sie werden zurückkehren in ihre holzgetäfelten Sitzungsräume, um die über die nächsten Gegenleistungen der Gegenleistungen zu verhandeln, die es braucht, um seine Gebiete im Mittleren Osten abzustecken. Und auch nächste Woche wird eine der zahllosen Geheimdienstbehörden der Vereinigten Staaten Koordinaten an das türkische Regime überreichen. In Incirlik wird eine israelische Drohne starten oder in Afrin wird ein Soldat einer Spezialeinheit sein deutsches Gewehr durchladen. Und wieder werden sie einen Menschen umbringen, der nicht bereit ist, auf den Knien zu leben. Auch dieser Mensch wird einen Namen haben. Auch dieser Mensch wird eine Geschichte haben und es wird andere Menschen geben, die ihn vermissen.
So wird es gehen, bis die Henker besiegt sind. Und das wird geschehen, weil es geschehen muss. Und es muss geschehen, weil die Henker nicht verstehen, dass sie zwar einen Revolutionär umbringen können, aber nicht die Revolution. Mahir war einer von vielen tausenden Menschen, die anderen Menschen eine Perspektive im Leben gezeigt haben. Und die, die zurückgeblieben sind, werden keinen Frieden machen mit denen, die zur Aufrechterhaltung ihres maroden Systems der Unterdrückung töten.
Und so ist auch mein Freund Mahir nicht tot.
# Von Peter Schaber