Für uns sind die Kämpfe der Vergangenheit eine Verpflichtung. Deswegen gibt es hier einen Beitrag der radikalen linken | berlin zur Gedenkpolitikdebatte, der zugleich ein Aufruf zur linksradikalen Mitgestaltung der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration ist
Am 23. Oktober 1998 wurde Andrea Wolf, Kampfname »Ronahî«, bei Catak in der südostanatolischen Provinz Van von türkischen Soldaten ermordet. Andrea, geboren in München, war als Internationalistin nach Kurdistan gegangen, hatte sich der Frauenguerilla der PKK angeschlossen und mit ihr gekämpft. Als Person steht sie für viele Kampffelder, die auch in der heutigen linksradikalen Bewegung in Deutschland eine Rolle spielen: Sie kam aus der autonomen Szene, beteiligte sich an direkten Aktionen, war in der RAF-Soli und der Hausbesetzer_innenbewegung aktiv.
Die Ermordung Ronahîs ist nicht allzu lange her. 2018 wird sie sich zum 20. Mal jähren. Und dennoch: Vielen in der deutschen Linken ist ihr Name kaum ein Begriff. Anders verhält es sich in der kurdischen und türkischen Befreiungsbewegung. Das Bild Andrea Wolfs hängt in vielen Sehitliks, den Friedhöfen gefallener Genoss_innen. Ihre Geschichte wird erzählt, gehört und weitererzählt. Der bekannte türkisch-kurdische Dichter Ahmed Kaya widmete ihr die berührende Ballade »Mavinin türküsü« (Die Ballade der Blauen).
Nicht Opfer, sondern Kämpfende
Für uns ist ihre Geschichte wichtig – so wie zahlloser anderer im Kampf getöteter Genoss_innen in der Geschichte der anarchistischen und kommunistischen Bewegung. Aber warum? Wir fühlen den Mut und die Entschlossenheit von Ronahî und all den anderen als einen Anspruch an uns selbst, dem wir immer noch zu wenig gerecht werden. Als eine Mahnung, nicht klein beizugeben, den Kampf in allen seinen Facetten zu führen, bis zum Gelingen.
Das Erinnern an die vom Feind umgebrachten Genoss_innen ist so für uns ein Versprechen. Die türkischen und kurdischen Slogans »Devrim şehitleri ölümsüzdür, sehid namerin« bedeuten auf Deutsch: Die Märtyrer der Revolution sterben nie. Die Parole meint nicht, dass sie in den Himmel oder sonst wohin kommen, sondern dass ihre Träume, ihre Ziele und Hoffnungen weiterleben in dem, was wir tun.
Jenseits der in unserer Gruppe nicht abschließend geklärten Frage, ob und in welchem Fall man die Genoss_innen, die im Kampf starben, »Gefallene«, »Märtyrer« oder schlicht »Ermordete« nennt, gibt es in der deutschen Linken Bedenken gegen dieses Gefühl der Verpflichtung. Man erkennt zu viel »Pathos«, man möchte – eingestanden oder nicht – den Fokus auf die Gewalt des Feindes legen und die eigenen Vorkämpfer_innen lieber als »Opfer« betrauern.
Nun macht uns jedes Opfer der Gewalt von Staat und Kapital, von Faschismus und Krieg betroffen. Und ja, auch sie alle dürfen wir nicht vergessen. Das Andenken derer, die im Kampf ihr Leben ließen, aber auf »Trauer« und Bestürztheit über die Gewalt des Feindes zu verkürzen, löscht einen wichtigen Teil der Geschichte der Beweinten aus: Sie waren aktiv Handelnde in einem die Geschichte aller Klassengesellschaften durchziehenden Krieg.
Wenn wir dies nicht vergessen, sehen wir auch: Wir befinden uns immer noch in demselben Krieg. Und diejenigen, die auf unserer Seite der Barrikade ihr Leben ließen, wollen wir nicht vergessen. Die Entschlossenheit und Größe, die Klarheit und Schönheit der Lebensgeschichten von Max Hoelz und Ulrike Meinhof, von Tamara Bunke und Kevin Jochim, von Petra Schelm und Hans Beimler geben uns Kraft in den Kämpfen, die wir heute führen.
Die eigene Geschichte aneignen
Das Gedenken an die im Kampf Gestorbenen ist ein Spezialfall linker Gedenkpolitik. Wir sollten uns nicht nur an Personen erinnern, sondern an unsere gesamte Geschichte. Hundert Jahre ist die Oktoberrevolution vergangen, Anfang 2019 jähren sich die Niederschlagung des Spartakus-Aufstands und die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts auf Befehl der deutschen Sozialdemokratie ebenfalls zum hundertsten Mal.
Klar, wir sollten nicht an Jubiläen hängen. Aber wir können sie als Gelegenheiten nehmen, auszuwerten, kritisch und stolz zurückzublicken, und auch in der Öffentlichkeit unsere Geschichte, die viel zu tief unter einer Schmutzschicht bürgerlicher Propaganda verschüttet ist, zum Thema zu machen.
Im Alltagsgeschäft scheint uns oft keine Zeit zu sein, um über Hexenverfolgung und Bauernkrieg, Kolonialgeschichte und Faschismus, Spanienkrieg und Startbahn West zu forschen. Aber wir sollten es tun. Denn wir sind, das ist unsere Überzeugung und Hoffnung, auch in Deutschland wieder auf dem Weg, eine ernstzunehmende Bewegung zu werden. Und eine solche braucht das (selbstkritische) Wissen um ihre Tradition, ihre Geschichte. Um es mit den Worten des alten Sozialdemokraten August Bebel zu sagen: »Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.«
In diesem Sinne werden wir uns in den antifaschistischen-internationalistischen Block bei der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration einfinden. Im Vorfeld der Demonstration gibt es eine Veranstaltungsreihe, die wir euch ans Herz legen wollen.
Lasst uns Schritt für Schritt die Geschichten unserer Vorkämpfer*innen kennenlernen und sie lebendig machen in unserem täglichen Handeln.
radikale linke | berlin, Januar 2018