Die Streikwelle im türkischen Metall- und Automobilsektor und der Kampf der ArbeiterInnen von Arçelik-LG
Einer der letzten Bastionen des Metallarbeiterwiderstandes in der Türkei im Jahre 2015 waren die KämpferInnen von Arçelik-LG, einer Klimaanlagenproduktionsfabrik im Industriegebiet von Gebze in Istanbul. 500 der 680 ArbeiterInnen der Fabrik traten vergleichsweise spät in den Streik und besetzten Anfang Juli die Fabrik, nachdem die Fabrikleitung und die dort organisierte Gewerkschaft Türk Metal-Iş zunehmend mehr Druck auf sie ausübten. Die ArbeiterInnen forderten ein Ende des Mobbings, bessere Löhne und ihren Austritt aus der Türk Metal-Iş. Am 4. Tag, dem 5. Juli, ließ Koç, der türkische Partner der Fabrik, den Laden kurz vor dem Fastenbrechen von Bereitschaftspolizisten stürmen und die ArbeiterInnen rausschmeißen. Damit begann der 109-tätige Widerstand der 173 ArbeiterInnen, die fristlos gekündigt werden, während die restlichen der 500 ArbeiterInnen nach und nach wieder zum Arbeitsplatz und zur Gewerkschaft Türk Metal-Iş zurückkehrten.
Unter den 173 ArbeiterInnen, die ein Zelt direkt am Eingangstor zur Fabrik aufbauten und dort in den Widerstand traten, befinden sich viele, die dort schon seit über zehn Jahren gearbeitet haben. Ein Kollege hat dort schon seit 23 Jahren gearbeitet – auch er wurde ohne Abfindung rausgeschmissen.
Was die ArbeiterInnen in den 109 Tagen durchmachten, ist atemberaubend. Innerhalb kürzester Zeit bilden sie, die meisten zuvor nicht besonders politisch noch belesen, Klassenbewusstsein aus und bringen gleichzeitig eine kämpferische Klassenpraxis hervor. Sie sind stets im Kontakt mit den anderen ArbeiterInnenwiderständen im Industriegebiet und sind überall in Form von Solidarität und Besuchen präsent. Die ArbeiterInnen organisieren Demos, Besuche, Presseerklärungen; die Wache am Zelt wird schichtenweise organisiert, Essen und Trinken ebenfalls kollektiv organisiert. Irgendwann sind sie im gesamten Gebiet und darüber hinaus bekannt; sie schaffen es, die Propaganda der Arbeitgeber nach dem Motto „das sind PKK-Unterstützer, Kommunisten, Chaoten, Krachmacher“ zu zertrümmern. Jedes Mal, wenn ich mit ihnen am Zelt sitze und mich mit ihnen unterhalte, fahren Autos und Lastwagen vorbei und hupen als Ausdruck ihrer Solidarität oder halten an und grüßen den Widerstand der ArbeiterInnen.
Andererseits haben die ArbeiterInnen innerhalb kürzester Zeit aufgrund ihrer kollektiven Praxis – und dem Einsatz organisierter Elemente und linker Gewerkschafter – ein recht umfassendes, kritisch-politisches Bewusstsein herausgebildet. Wir unterhalten uns mit ihnen über die Umstrukturierung des Nahen Ostens, die Funktion des IS, die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Staatsapparaten in der Türkei, 9/11, den Militärputsch vom 12. September 1980, ja sogar über Deniz Gezmiş, Mahir Çayan und über den großen ArbeiterInnenstreik vom 15. und 16. November 1970. All das haben sich die meisten der streikenden ArbeiterInnen in den letzten knapp drei Monaten aneignet. Und zugleich kämpfen sie für ihre Rechte. Vor Gericht kämpfen sie für eine Wiedereinstellung respektive zumindest Auszahlung der Abfindungen, ihre politisch-ökonomischen Forderungen haben sich sogar etwas radikalisiert: sie fordern, dass Türk Metal-Iş die Fabriken verlässt und dass sie selbst ihre Gewerkschaftsdelegierten wählen können.
… als Teil einer der größten Streikwellen in der Türkei
Aber wie gesagt, der Kampf bei Arçelik-LG ist Teil und einer der letzten Bastionen einer viel größeren, ja einer der größten Streikwellen in der Geschichte der modernen Türkei überhaupt, die Ende 2014, Anfang 2015 losging und die gesamte Westküste erschütterte. Laut dem Gewerkschaftsaktivisten und -theoretiker Aziz Çelik beteiligten sich Zehntausende ArbeiterInnen an der Streikwelle. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn ausnahmslos alle Streiks ab Mitte April 2015, als die Streikwelle erst so richtig an Fahrt aufnahm, waren wildcat-Streiks, also gewerkschaftsunabhängige, spontane, wilde Streiks der ArbeiterInnen selbst.
Wie immer waren die unmittelbaren Auslöser die Lohnfrage, die Frage nach den Kollektivverträgen und die Gewerkschaftsbürokratie. Dass diese ansonsten recht „normalen“ Gründe und Formen der ökonomischen Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital spontan solche massiven Formen annahmen, deutet darauf hin, dass sich die Widersprüche massiv zugespitzt haben und eine gewisse Vorgeschichte existiert.
Unmittelbarer Auslöser war eine Auseinandersetzung in der Fabrik von Bosch in Bursa im Jahr 2012. Dort traten 3500 ArbeiterInnen mit einem Schlag aus der dort organisierten Gewerkschaft Türk Metal-Iş aus und wollten der Birleşik Metal–Iş beitreten. Türk Metal-Iş ist eine MetallarbeiterInnengewerkschaft und gehört zur größten der drei großen Gewerkschaftsdachverbände in der Türkei, zur Türk Iş. Birleşik Metal-Iş hingegen gehört zum traditionell linken Gewerkschaftsdachverband DISK. Der Vorläufer der Birleşik Metal-Iş vor dem Militärputsch am 12. September 1980, die Maden-Iş, gehörte zu den kämpferischsten Gewerkschaften der Türkei. Deshalb wurde ihr linker Vorsitzender Kemal Türkler, gleichzeitig der Begründer und erster Vorsitzende der DISK sowie Mitbegründer der Arbeiterpartei der Türkei (TIP), am 22. Juli 1980 von faschistischen Paramilitärs der Partei der Nationalen Bewegung (MHP) ermordet.
Die Türk-Iş hingegen ist eine Gewerkschaft, die den Namen einer Gewerkschaft nicht verdient. Sie ist nicht mal eine gelbe Gewerkschaft, die nur Marginales für die Beschäftigten rausholen würde, um gleichzeitig irgendwie den Burgfrieden zu bewahren. Sie holt gar nichts für die Beschäftigten raus, ihre Bürokraten leben im High-Class-Luxus und sitzen wortwörtlich mit der Unternehmensführung am selben Tisch, wenn es darum geht, ArbeiterInnen, die aus der Gewerkschaft austreten, wieder zu „überzeugen“ zur Türk Iş zurückzukehren. Klappt die Überzeugung am Tisch nicht, werden, oft genug auch dokumentiert, bezahlte Schlägertrupps, Mafiosi und andere Gauner und sonstiges Gesindel eingesetzt, um die nötige „Überzeugungsarbeit“ zu leisten. Während eine solche Organisation in der Türkei als „Gewerkschaft“ anerkannt wird, sind internationale Gewerkschaftsorganisationen anderer Meinung: Türk Iş ist bis heute aufgrund seiner strukturellen Unternehmerfreundlichkeit und fehlenden inneren Demokratie bei keiner internationalen Gewerkschaftsorganisation Mitglied und regelmäßig werden diesbezügliche Anträge von ihr von den jeweiligen internationalen Gewerkschaftsorganisationen abgelehnt.
Bei Bosch ging es ab 2012 ähnlich zu. Bis 2014 arbeiteten die Chefs, die Gewerkschaft und der Staat gemeinsam und mit den unterschiedlichsten Mitteln daran, die ArbeiterInnen wieder zur Gewerkschaft zurückzuführen. Das klappte großteils, als Krönung und als „Dank“ wurde allein den ArbeiterInnen von Bosch eine Lohnerhöhung von 60 Prozent in der Tarifrunde Ende 2014 versprochen, während dies für die anderen Fabriken im Metallsektor nicht vereinbart wurde.
Dabei funktionieren Kollektivverträge im Metallsektor nach einem eingespielten Muster: die MESS, der Unternehmerverband der Metallbranche und zugleich größter Unternehmerverband der Türkei überhaupt, „handelt“ mit der im Metallsektor am besten organisierten Türk Metal-Iş einen neuen Kollektivvertrag aus, der dann allen anderen Beschäftigten und Gewerkschaften der Branche mehr oder minder aufgedrückt wird. Allein die Birleşik Metal-Iş kämpft immer mal wieder, mal stärker mal schwächer, gegen dieses abgekartete Spiel an und setzt dort bessere Kollektivverträge durch, wo sie organisiert und zur Verhandlung von Kollektivverträgen ermächtigt ist.
So auch diesmal. Eine Mitgliederbefragung führte zu dem Ergebnis, dass die bei der Birleşik Metal-Iş organisierten ArbeiterInnen eindeutig den neuen Branchenvertrag ablehnten, eine zweite Umfrage führte zu einer überwältigenden Zustimmung zu einem Generalstreik, der am 29. Januar 2015 mit 15.000 ArbeiterInnen an 22 Fabriken in zehn Städten begann. Die Forderungen waren so simpel wie grundlegend: gleiche Lohnerhöhung wie bei Bosch, vor allem eine stärkere Erhöhung der Niedriglöhne, um die Schere zwischen Stammbeschäftigten und Neubeschäftigten aus Subunternehmen zu minimieren (60 Prozent im Metallsektor arbeiten zum Mindestlohn, der weniger als 300 Euro im Monat beträgt), freie Wahl der Gewerkschaft, die Forderung, dass Türk Metal-Iş die Betriebe verlässt und die Kompetenz, selbst die eigenen GewerkschaftsvertreterInnen wählen zu können.
So schnell wie der Generalstreik anfing, so schnell endete er auch, nämlich am Tag drauf, am 30. Januar. Und zwar per Staatsbeschluss. Der Ministerrat erklärte, auf Initiative des Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherheit, dass der Generalstreik die „nationale Sicherheit“ [!] gefährde und „verschob“ den Streik. Diese Befähigung des Staates, Streiks auf Grund hanebüchener Vorstellungen aufzuschieben, läuft laut Gewerkschaftern auf ein de-facto-Streikverbot beziehungsweise Aufhebung des Streikrechts hinaus. Denn sollte sich der Konflikt nicht binnen 60 Tagen nach „Aufschiebung“ des Streiks lösen, ist der ebenfalls staatliche Oberste Schiedsrichterausschuss (YHK) dazu ermächtigt, eine Einigung zu forcieren. Gestreikt werden kann nur dann nochmal, wenn innerhalb der 60 Tage eine Klage gegen den Streik„aufschub“ beim Staatsrat (Danıştay) gewonnen wird. Eine entsprechende Klage wurde vom Danıştay natürlich, da mittlerweile von AKP-Leuten besetzt, abgelehnt. Hinzugefügt werden muss, dass die Birleşik Metal-Iş dieses pseudo-legale und jedenfalls illegitime, antidemokratische und arbeiterfeindliche Spiel mitgespielt hat oder jedenfalls keinen Widerstand geleistet hat. Dafür wehrten sich aber die ArbeiterInnen und überholten so die linke Gewerkschaft links.
Mitte April hieß es ya basta! und Tausende ArbeiterInnen in den Fabriken von Renault und Tofaş demonstrierten spontan zum Türk-Metal-Gewerkschaftshaus, die KollegInnen von Mako schlossen sich alsbald an. Sie stellten dieselben Forderungen wie beim illegalisierten Generalstreik vom 29. Januar 2015. Am 21. April fand eine Riesendemo im Stadtzentrum von Bursa statt. Die Türk Metal lehnte alle Forderungen der ArbeiterInnen ab, während die Fabriken von Coşkunöz, Delphi, Vako und SKT sich dem Widerstand anschlossen. Auch der Arbeitgeberverband MESS gab am 14. Mai bekannt, dass die Tarifverträge nicht revidiert werden und drohte den ArbeiterInnen damit, dass ihre Aktionen illegal sein.
Daraufhin traten am 15. Mai tausende ArbeiterInnen in den Streik: sie besetzten die Fabriken oder stoppten die Arbeit. Während der Vorsitzende der Türk Metal, Pevrul Kavlak, die ArbeiterInnen dazu aufrief, den Widerstand aufzugeben und darauf hinwies, dass es das gute Recht der von diesen illegalen Streiks betroffenen Unternehmer sei, die jeweils illegal streikenden ArbeiterInnen fristlos zu kündigen, breitete sich der Widerstand über Bursa hinaus zum Beispiel auf Ford Otosan in Kocaeli und Eskişehir (20. Mai) sowie auf Türk Traktör in Ankara (21. Mai) aus. Wie ein Lauffeuer sprach es sich in den Fabriken des Metall- und Automobilsektors herum, dass KollegInnen von anderen Fabriken für ihre Rechte streikten, und so wurden immer mehr ArbeiterInnen dazu motiviert, ebenfalls zu streiken. Die massive, aber spontane Streikwelle breitete sich an der gesamten Westküste der Türkei aus. Organisiert und koordiniert wurden die Streiks kaum miteinander, das ergab sich teils im Laufe der Zeit, vor allem mit dem Einsatz organisierter Linker und GewerkschaftsaktivistInnen.
Kapital, Staat und Arbeit seit dem Militärputsch vom 12. September 1980
Dass in der Türkei Staat und staats- und unternehmensnahe Gewerkschaften zusammenarbeiten, staatliche Institutionen de facto Streiks verbieten können und Gewerkschaftsorganisation sowieso nur unter äußerst widrigen legalen wie praktischen Umständen stattfindet – all das dient freilich der Unterdrückung der relativen Autonomie der ArbeiterInnenklasse, d.h. der Unterdrückung der potenziellen Dynamiken, die der ArbeiterInnenklasse aufgrund ihres antagonistischen Verhältnisses zum Kapital erwachsen. Historisch betrachtet war es der Militärputsch vom 12. September 1980, der diese Unterdrückung durchsetzen sollte. Denn die Periode von 1960 bis 1980 war für das Kapital ein „Alptraum“, wie es einmal der Großindustrielle und Monopolkapitalist Vehbi Koç (dessen Holding übrigens Arçelik, den türkischen Partner von Arçelik-LG besitzt) gegenüber dem Putschistenführer Kenan Evren ausdrückte. Das stimmt schon: Die ArbeiterInnenbewegung erstarkte massiv in diesen zwei Jahrzehnten, konnte am 15. und 16. November 1970 ganz Istanbul mit einem Generalstreik lahmlegen, gewann die umfassendsten Rechte, erstritt einem würdigen Leben entsprechende Löhne und war verbunden mit einer recht großen und starken sozialistischen und revolutionären politischen Bewegung, die eine Demokratisierung der Türkei und den Sozialismus anstrebte. Dies fand das Kapital und der eiserne Kern des Staates, das Militär, Scheiße. Ergo folgten faschistischer Terror und letztlich der Militärputsch, den die Linke aufgrund von Problemen und Fehlern, die andernorts zu erörtern wären, nicht besiegen konnte. Kein Wunder jedenfalls, dass der damalige Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes TISK, Halit Narin, kurz nach dem Militärputsch den ArbeiterInnen zugewandt meinte: „Bisher habt ihr gelacht; nun sind wir dran.“ So etwas nennt man landläufig Klassenkampf.
Danach wurde es zappenduster für die ArbeiterInnenklasse. Wie gewöhnlich bei faschistischen Machtübernahmen wurde sofort der damals noch sehr militante und revolutionäre Gewerkschaftsverband, die DISK, verboten, viele Kader wanderten in die Gefängnisse und viele ihrer Mitglieder aus ihrem Kernsektor, der Metallbranche, wurden gezwungen der Türk Iş beizutreten. Erst 1992 wieder erlaubt, konnte die DISK nur einen Bruchteil ihres ehemaligen Vermögens und ihrer ehemaligen Mitglieder zurück klagen. Mittlerweile erstarkte die staats- und unternehmernahe Türk Iş und der dritte große Gewerkschaftsverband, die Hak-Iş, die traditionell den islamischen Parteien nahesteht und mit der AKP mehr Bedeutung gewann. Jedenfalls ist aber auch deren Erstarkung relativ zu betrachten. Die eisenharte, repressive und staatsautoritäre Umformierung des gesamten Arbeits- und Gewerkschaftsrechts im Zuge des Militärputsches erschwerte die gewerkschaftliche Organisierung massiv, hob die Arbeitsplatzsicherheit zunehmend auf und grenzte die Effektivität von Gewerkschaften ebenfalls massiv ein.
Die Folgen sind eindeutig: Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad beträgt nach amtlichen Zahlen nur elf Prozent, der niedrigste unter allen OECD-Ländern. Aber kritische Gewerkschaftsaktivisten wie z.B. Aziz Çelik sind der Meinung, dass die Sachlage noch schlimmer ist, weil nur ein Teil der gewerkschaftlich Organisierten von Kollektivverträgen profitiert, nämlich insgesamt sieben bis acht Prozent oder eine Million von 14 Millionen ArbeiterInnen. Finden denn überhaupt Streiks statt, können sie durch den „Aufschubsbescheid“ der Exekutive verboten werden – was auch passiert.
Der Mindestlohn beträgt nicht einmal mickrige 300 Euro (um die 960TL), was in Städten wie Istanbul kaum für das Überleben ausreicht. 60 Prozent der Werktätigen im Metallsektor bekommen diesen Lohn. Das Akkumulations- und Exportmodell der türkischen Industrie, die sowieso schon unter schlechter Konkurrenzfähigkeit leidet, ist gekennzeichnet vom Einsatz von Niedrigtechnologie, sehr niedrigerer Arbeitsplatzsicherheit und Überausbeutung der Arbeitskraft. Regelmäßig zahlen ArbeiterInnen mit ihrem Leben für diese beschissenen Arbeitsverhältnisse: insgesamt 14.587 ArbeiterInnen im Zeitraum von 2003 bis 2014. KritikerInnen sprechen von systemisch hervorgebrachten Arbeitsmorden. Auch hier gehört die Türkei zu den Weltrangschlechtesten.
Es sind diese strukturell miesen Arbeitsbedingungen und die Vertiefung des Regimes vom 12. September 1980 seitens der AKP, die den Hintergrund für die Streikwelle im Metallsektor abgeben. Und natürlich war auch Gezi ein Auslöser dieser Welle. Was Gezi mit dem Industrieproletariat zu tun hat, das man beim Gezi-Aufstand kaum gesehen hat? Sehr viel. Gezi war eine populäre Massenbewegung, die von mehreren Millionen Menschen getragen wurde, sich auf fast alle Städte der Türkei ausbreitete und auf die eine oder andere Art und Weise gegen Unrecht und für Demokratie kämpfte. Gezi bestimmte den Alltag der gesamten Türkei. Staunen müsste man eher darüber, wenn Gezi jemanden nicht beeinflusst hätte. Jeder, und ganz sicher die KämpferInnen von Arçelik-LG, haben Zugang zu Twitter und Facebook, oder, wenn sie auf der anderen Seite des politischen Lagers stehen, zur staatlichen Revolverpresse, die ihnen verzapft, dass Gezi eine Machenschaft böser fremder Mächte war und den Regierungsumsturz anvisierte. Bei Teilen der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Marginalisierten jedenfalls hat Gezi offensichtlich den Kämpfergeist erweckt und bewiesen, dass sich sehr wohl für die eigenen Rechte erfolgreich kämpfen lässt. Es hatte eben auch in der Metallbranche nur mehr eines Funkens bedurft, um einen Aufstand und eine spontane Selbstorganisierung der ArbeiterInnen auszulösen.
Das Ende ist der Anfang
Am Ende der massiven Streikwelle lassen sich einige sehr eindeutige Siege und einige eindeutige Niederlagen feststellen. Bei Renault, dessen Besitzer die Holding der Militärs (OYAK) ist, wurden alle Forderungen akzeptiert, bei den meisten Fabriken, die zur Koç Holding gehören, wurden viele Versprechungen gegeben, die wenigsten wirklich erfüllt und normalerweise trotz gegenteiliger Behauptungen massive Repression gegen die Streikenden ausgeübt. Bei einigen Fabriken, wie z.B. bei Tofaş und Mako, konnten einige Forderungen erfüllt werden, bei anderen, etwa bei Türk Traktör, nur sehr wenige.
Von großer Bedeutung allerdings ist, dass die Türk Metal-Iş ihren arbeiterfeindlichen Charakter entlarvte. Sie verlor deswegen bis zu 11.000 Mitglieder, viele gingen zur Birleşik Metal-Iş. Zusätzlich hierzu machten die ArbeiterInnen, viele von ihnen zum ersten Mal, eine von ihnen selbst getragene und organisierte Kampferfahrung durch. Sie entwickelten die Keime eines anderen Gewerkschaftsverständnisses, eines Verständnisses von der Gewerkschaft als einer demokratischen Klassenorganisation mit selbstgewählten und selbstbestimmten Gewerkschaftsdelegierten und Streiks statt einer bürokratischen, antidemokratischen Apparatur, die tendenziell mit den Arbeitgebern zusammenarbeitet und von oben herab bestimmt, wie Tarifverhandlungen zu führen sind und ob und wie Streiks stattfinden. Es wurde schon eine neue Gewerkschaft seitens der MetallarbeiterInnen selbst, die TOMIS, gegründet.
Und sie entwickelten natürlich ein Klassenbewusstsein. Beim Widerstandszelt der ArbeiterInnen von Arçelik-LG sehen wir einige Türkeifahnen, ein Kollege posiert immer mit dem islamischen Tekbir-Zeichen (in die Luft gestreckter Zeigefinger). Aber neben diesem Kollegen steht der kurdische Kollege, der mit dem in der Türkei nur von Kurden und Linken genutzten Victory-Zeichen posiert, die meisten recken die linke Faust, die Slogans drehen sich oft um die Einheit der ArbeiterInnenklasse und die Einheit des Kampfes. Einer der Sprecher der KollegInnen meint: „Wir kämpfen hier alle gemeinsam. Moslems, Kurden, Türken, Männer, Frauen. Das ist unser geeinter Kampf als ArbeiterInnen und wir lassen uns nicht teilen.“
Mücadeleye devam! – Der Kampf geht weiter!
Am 109. Tag des Widerstandes von außerhalb der Fabrik, dem 16. Oktober, geben die Kämpfer von Arçelik-LG eine letzte Presseerklärung ab. Sie werden das Zelt vor der Fabrik räumen müssen. Die meisten von ihnen sind mittlerweile hoch verschuldet, sie haben immerhin drei Monate lang nicht mehr lohngearbeitet. Im Industriegebiet von Gebze nach einer Arbeit zu suchen können sie sich sparen. Ein Kollege erzählt mir, dass es bei Vorstellungsgesprächen heißt: „Du gehörst doch zu denen, die den Widerstand in der Arçelik-LG Fabrik mitorganisierten.“ Die Unternehmer legen black lists mit politisch oder gewerkschaftlich Aktiven, jedenfalls „auffälligen“ ArbeiterInnen an und teilen sie untereinander. Wer einmal für seine Rechte kämpft, der wird in diesem Industriegebiet keine große Chance mehr auf einen neuen Arbeitsplatz haben.
Eingeschüchtert sind die KollegInnen aber trotzdem nicht. Bevor wir nach der Presseerklärung wieder ein letztes Mal zurück zum Zelt fahren um ein letztes Mal gemeinsam zu grillen, treffen wir per Zufall auf einen Kollegen von den ursprünglichen 500 KollegInnen von Arçelik-LG, die ihre Mitgliedschaft bei der Türk Metal-Iş kündigten. Er ist einer von denen, die wieder zur Türk Metal-Iş gegangen sind und die Arbeit wieder aufgenommen haben – ohne irgendeine Forderung erfüllt bekommen zu haben. Er wirft den kämpfenden KollegInnen vor, sie seien zu weit gegangen und hätten nun alles verloren. Einer der kämpfenden Kollegen lacht nur und erwidert erzürnt: „Wärt ihr Feiglinge nicht abgesprungen, hätten wir alles gewonnen. Was hast du jetzt? Einen Scheißjob für 1500TL. Auf den verzichte ich gerne, irgendwo treibe ich mir schon wieder eine Arbeit für 1500TL auf. Was ich jedoch gewonnen habe, ist meine Würde und unser gemeinsamer Kampf.“
Jetzt schauen sich die Kämpfer von Arçelik-LG erst mal nach neuen Arbeitsplätzen um und treiben ihren Kampf um ihre Abfindungen vor Gericht voran. Es ist wahrscheinlich, dass sie diesen Kampf gewinnen werden. Die Fabrik haben sie natürlich verloren, denn Unternehmer, Staat und unternehmernahe Gewerkschaft haben es wieder einmal geschafft, die ArbeiterInnen zu spalten. Der kämpferische Teil von ihnen, die 173 alten KollegInnen, werden jedoch sicherlich ihre Erfahrung und ihren Kampfgeist behalten und in die neuen Verhältnisse hineintragen.
Zum Abschied umarmen wir uns noch einmal alle herzlich. „Ja also wir sehen uns dann einfach wieder, vielleicht mal in Kadıköy“, meint einer der Arbeiter zu mir. „Oder einfach beim nächsten Kampf“, geb ich lachend zurück. Findet der Kollege gut und meint, ebenfalls lachend: „Ja sicher, warum nicht“.
Die Streikwelle im türkischen Metall- und Automobilsektor, die zu den größten Streikwellen der Geschichte der modernen Türkei gehört, hat in kürzester Zeit einen massiven Klassenbewusstseinsprozess und eine Klassenpraxis in Gang gesetzt, die die Türkei in dieser Form lange nicht mehr erlebt hatte. Um einen solchen Prozess zu verhindern setzten Staat und Kapital ihre Pseudo-Gewerkschaften, chauvinistische Ideologien und Schlägertrupps ein. Diese Mauer haben die ArbeiterInnen von Arçelik-LG und diejenigen, die tapfer weiter streikten, durchbrechen können. Der Sturm an der Oberfläche mag zwar abgeebbt sein, aber die Erfahrung und die Entwicklung der ArbeiterInnen wird sich halten und sich bei der nächsten Gelegenheit noch willensstärker ausdrücken. Wie damals ist es auch heute für Kapital und Staat ein „Alptraum“, falls sich dieser Prozess weiterentwickeln und wieder eine selbstbewusste und kämpferische Klassenbewegung mit demokratischen Massengewerkschaften hervorbringen sollte. Für die für ihre demokratischen Rechte kämpfenden Völker und Minderheiten sowie die Werktätigen selbst wäre es ein Segen. Grund genug jedenfalls, trotz widriger Umstände optimistisch in die Zukunft zu schauen.
– Von Alp Kayserilioğlu