Stadtbild Kapitalismus – Urbanes Elend und der Zynismus des Kaiser Friedrich

10. November 2025

Ein Kommentar zum rassistischen Klassenkampf von oben

Friedrich Merz ist ein Rassist, das wissen wir alle. Daher brauche ich auch keine Tochter, um zu verstehen, dass er mit den Problemen im Stadtbild nicht die Folgen der Zerstörung der sozialen Infrastruktur durch die Kürzungen des Berliner Senats gemeint hat. Für Merz bemisst sich der Wert nicht-deutscher Menschen an der Frage, inwiefern das deutsche Kapital auf ihre Arbeitskraft angewiesen ist. Es gehört neben dem Lobbyismus für die herrschende Klasse zur DNA seiner politischen Karriere, regelmäßig rassistische Diskurse vom Zaun zu brechen und überall nach unten zu treten, wo sich die Gelegenheit dafür bietet. Wie Fabian Lehr in seinem Podcast bemerkte, weiß Merz natürlich zu jeder Zeit, was er mit seinen Aussagen bewirkt, denn auch wenn er sonst keine positiven menschlichen Eigenschaften besitzt, ist er auf jeden Fall kein Trottel. Die Große Koalition setzt den Weg der Ampel-Regierung fort, den Aufstieg der AFD durch ausländerfeindliche Politik verhindern zu wollen. Die Aussagen über „kleine Paschas“ oder darüber, dass die Ausländer den Deutschen die Arzttermine wegnehmen, werden von der rechten Presse dankend aufgegriffen, um den öffentlichen Diskurs weiterhin um das Thema der Nationkreisen zu lassen, was seit der Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse schon immer die beste Strategie war, um von der Klassenfrage abzulenken. Da die Armut in Deutschland infolge der Aufrüstung und der damit einhergehenden Sparpolitik in den nächsten Jahren rasant anwachsen wird, wird der Bezug auf die Nation für die herrschende Klasse umso wichtiger.

Von Christoph Morich


Rassistische Diskurse als Rationalisierung des autoritären Charakters

Der rassistische Kommentar von Merz und die daraus erwachsene Debatte über das Stadtbild sind nichts Neues, sondern reihen sich ein in alle anderen rassistischen Diskurse, die in Deutschland mal mehr und mal weniger offen geführt werden. Die Methode der Debatte, das eigene rassistische Weltbild dadurch zu rationalisieren, dass man auf „Problem“ in Bezug auf Menschen bestimmter Herkunft hinweist, wurde bereits in den Studien zum autoritären Charakter von Adorno beschrieben:

„Der Ausdruck ‚Problem‘, dem Bereich der Wissenschaft entnommen, wird dazu benutzt, den Anschein eindringlicher und verantwortlicher Überlegung hervorzurufen. Wer auf ein ‚Problem‘ hinweist, behauptet implizit persönliche Distanz vom fraglichen Gegenstand, gibt Objektivität vor. Das ist eine ausgezeichnete Rationalisierung für Vorurteile, denn es wird der Eindruck erweckt, als sei die eigene Haltung nicht subjektiv motiviert, sondern das Ergebnis angestrengten Nachdenkens und gereifter Erfahrung.“

Die Inszenierung durch die rechte Presse, jetzt endlich einmal über diese sonst angeblich tabuisierten Themen sprechen zu dürfen, ist ein eingeübtes Spiel. Immer wieder werden Wörter in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht, um die Ausländer zur eigentlichen Ursache aller Probleme in der bestehenden Gesellschaft zu erklären. So sind es in regelmäßigen Abständen auch immer wieder „Parallelgesellschaften“, die das Zusammenleben in Deutschland bedrohen. Diese Debatte bot den Anlass für den Song „Parallelen“ von Celo & Abdi, in dessen ersten zwei Zeilen mehr Erkenntnis steckt, als wir in den kommenden Monaten in der bürgerlichen Presse über die Frage des Stadtbilds und die richtige bzw. falsche Anzahl an Ausländern darin lesen werden.

„Hör zu, was Abdi sagt, Hunger in Afrika/ Parallel dazu isst du Hummer und Kaviar“.

Welche Parallelen, ob der Yachtverein im Grunewald oder das Shisha-Café in Neukölln, zu einem Problem erklärt werden, verrät in erster Linie etwas über das Subjekt, nicht das Objekt der Aussage. Dasselbe gilt für das „Problem im Stadtbild“ und die Erklärung, warum es mittlerweile so schwer ist, in Deutschland an Arzttermine zu kommen. Wo eine sachliche Debatte für scheinbar objektive Probleme proklamiert wird, geht es in Wirklichkeit um die subjektiven Motive des autoritären Charakters.

Das Märchen von der werturteilsfreien Analyse, die den Rahmen für diese Debatten absteckt, ist die Ideologie der herrschenden Klasse, durch die eine grundsätzliche Kritik an der bestehenden Ordnung verhindert werden soll. Doch niemand kann eine neutrale Beobachterposition einnehmen, die von außen auf die Gesellschaft blickt und nicht in einem normativen Verhältnis zu dieser Realität steht. Alle Individuen erschließen sich die Realität anhand bestimmter Kategorien, die sich durch die eigene Biographie herausgebildet haben. Jedes menschliche Bewusstsein ist das Produkt eines spezifischen Sozialisationsprozesses, in einer zeitlich und örtlich gebundenen Lebenswelt in einer bestimmten historischen Epoche der menschlichen Entwicklung. Die Wahrnehmung der Welt durch einen Neandertaler war eine andere als die eines Menschen des 21. Jahrhunderts, die eines Obdachlosen ist eine andere als die eines Bonzen, die von Kommunist:innen ist eine andere als die von Neonazis, die sich der eines Neandertalers wiederum annähert. Die Kategorien rassistischer Ideologien negieren die Freiheit und Gleichheit der Menschen, indem sie bestehende Unterschiede essentialisieren und auf erfundene Konstrukte wie Rasse, Nation oder Kultur zurückführen. Sie sind per definitionem ein Rückfall hinter die Aufklärung, egal wie sehr man sich anstrengt, den eigenen Rassismus durch den Bezug auf deren Errungenschaften, wie etwa Frauenrechte, zu legitimieren. „Das vornehme Wort ‚Kultur‘ tritt anstelle des verpönten Ausdrucks ‚Rasse‘, bleibt aber bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“ (Adorno). Rechte Parteien, deren einziges Glückversprechen für die arbeitende Bevölkerung darin besteht, es anderen noch schlechter gehen zu lassen, bedienen genau diesen Wunsch, die eigene Aggression gegen jene zu richten, die in der gesellschaftlichen Hierarchie noch weiter unten stehen. Und solange die Proletarisierten sich in diesen kulturellen Kämpfen verlieren, braucht sich Merz um seinen Privatjet nicht zu sorgen.

Das Stadtbild im Kapitalismus

Anders als Friedrich Merz es gemeint hat, ist das Stadtbild aber natürlich voll von Problemen. Diese Probleme müssen durch die theoretische Vermittlung mit den sie produzierenden gesellschaftlichen Verhältnissen in ihrer Entstehung begriffen werden. Dafür muss zunächst einmal bestimmt werden, was als Problem im Stadtbild wahrgenommen wird. Zunächst erscheint das „Stadtbild“ als eine abstrakte Kategorie, unter der man erst einmal verstehen kann, was immer man möchte. Jede Stadt der Welt weist ziemliche Differenzen zwischen den einzelnen Stadtteilen auf, da Menschen in der Stadt in erster Linie nach Einkommensunterschieden segregiert werden. Das Stadtbild im Grunewald hat auf der Ebene der Erscheinung daher wenig mit dem am Kottbusser Tor gemeinsam, das Stadtbild in Marzahn ist ein anderes als in Steglitz. Neben diesen objektiven Unterschieden hat der Diskurs über das Stadtbild auch immer eine subjektive Komponente. Ich kann gemeinsam an der Warschauer Straße stehen und mich am Amazon-Tower stören, während für andere die daran vorbeilaufenden Ausländer das eigentliche Problem sind. Macht der neue Fahrradweg für manche die Stadt sicherer und grüner, beschneidet er für andere die Freiheitsrechte des Autofahrers. Während sich die einen durch verschärfte Präsenz der Polizei sicherer fühlen, werden andere durch deren Präsenz vertrieben und müssen statt im U-Bahnhof auf der Straße schlafen.

Das Verhältnis der Menschen zu ihrer Stadt vermittelt sich in erster Linie ökonomisch. Die Architektur einer Stadt formt sich anhand einer kapitalistischen Logik, für die Grund und Boden sowie Wohnraum in erster Linie eine Ware darstellen, mit der sich Profit erwirtschaften lässt. Wie die Menschen in ihrer Stadt leben und wohnen können, wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, wie viel Geld sie besitzen, um sich die Stadt als Gebrauchswert zu erschließen. Für Menschen in Niedriglohnjobs und Sozialhilfeempfänger:innen sind die meisten Vorzüge der Stadt nicht zugänglich, da sie sich den Zutritt nicht leisten können. Die Gentrifizierung verschärft diesen Widerspruch, da Kommerzialisierung und Privatisierung für die meisten Menschen die Enteignung ihres Rechts auf Zugang zu diesen Gebrauchswerten bedeutet. Mit Freiräumen verschwinden in erster Linie Orte, die überhaupt noch frei zugänglich sind. Dieses Gewaltverhältnis wird durch das bürgerliche Recht gleichermaßen garantiert und verschleiert. „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.” (Anatole France) Gleichzeitig erlaubt es Reichen wie Armen sich eine Eigentumswohnung und jeden Morgen einen Chai Latte im neu eröffneten Café um die Ecke zu kaufen.

Die sozialen Verwerfungen, die diese Gesellschaftsform hervorbringt, sind im Stadtbild omnipräsent. Nicht im Grunewald, aber in den Teilen der Stadt, in denen die meisten Menschen hier leben. In Deutschland sind über eine halbe Millionen Menschen obdachlos, ca. 12 Millionen Menschen leben in Armut. Ob ich aber flaschensammelnde Rentner:innen und Obdachlose als ein Problem im Stadtbild erachte, hängt in erster Linie davon ab, inwieweit die menschliche Empathie in meiner Charakterstruktur durch die bürgerliche Kälte erstickt wurde. Daher auch die Gewissheit, dass Friedrich Merz diese Probleme nicht gemeint haben kann. Für die meisten Menschen aber ist eindeutig erkennbar, dass das sichtbare Problem von Armut in Berlin in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Die Schlangen an der Tafel und bei Essensausgaben für Obdachlose werden länger. Jede:r kennt den Anblick von Rentner:innen, die mit Taschenlampen die Mülleimer auf der Suche nach Pfand ableuchten. Und in den Berliner U-Bahnhöfen ist ein wachsender Anteil an jungen Migrant:innen unter den Menschen mit einem Drogenproblem zu beobachten. Ob ich mir nun einrede, dass diese Menschen mit dem Ziel ihr Heimatland verlassen haben, in Europa suchtkrank und kriminell zu werden, oder ob ich ein System aus Unsicherheit, Armut und Perspektivlosigkeit als die zugrundeliegende Dynamik begreife, die diese Menschen in den Abgrund treibt, ist eine Frage der Perspektive. Dieser Zusammenhang spielt aber genauso wie der Zusammenhang von Armut und Kriminalität in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. Das Scheitern an den gesellschaftlichen Anforderungen wird individualisiert, indem es als Ausdruck mangelnden Charakters interpretiert wird, oder im Fall von Migrant:innen generalisiert, indem die Herkunft zur Ursache der Probleme erklärt wird. Die Herstellung einer kausalen Beziehung von Herkunft, sei sie genetisch oder durch den Pass definiert, auf Kriminalität ist eine der tragenden Säulen rassistischer Bewegungen weltweit.

Die Logik der Ausgrenzung in Zeiten der Überflüssigkeit

Eine materialistische Kritik der Gesellschaft zielt auf die systemischen Ursachen dieser Probleme, um ihre Entstehung zu begreifen. Armut und Obdachlosigkeit, die natürlich auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, sind nicht naturgegeben oder eine Frage des Charakters, sondern werden gesellschaftlich produziert. In der DDR war die Obdachlosigkeit ein marginales Phänomen. In der BRD ist die Zahl der Obdachlosen in den letzten Jahren angewachsen, da viele sich eine Wohnung in den Städten schlichtweg nicht mehr leisten können. Während Familien sich am Wannsee eine Villa mit Seeblick teilen, wohnen andere zu sechst in einer 2-Zimmer-Wohnung in Neukölln. Wer heute wegen Eigenbedarf gekündigt wird, hat kaum noch eine Chance bezahlbaren Wohnraum zu finden. Das Recht auf Profit setzt sich über das Recht auf Wohnen hinweg. In letzter Konsequenz entsteht Obdachlosigkeit dann in Form der Zwangsräumung durch Gerichtsvollzieher und Polizei, deren Funktion es ist, die Bewegungsgesetze des Kapitals mittels Anwendung von Gewalt zu gewährleisten. Diese Dynamik wird sich durch die beschlossene Politik von CDU und SPD in den nächsten Jahren weiter verschärfen. Die massive Aufrüstung der deutschen Gesellschaft steht in einem direkten Zusammenhang mit der Verarmung der breiten Massen, die sich in den nächsten Jahren auch auf das Stadtbild auswirken wird. Die geplanten Haushaltskürzungen in Berlin sind ein Rundumschlag gegen die soziale Infrastruktur der Stadt und betreffen u.a. kulturelle Angebote für Kinder und Jugendliche, Suchthilfeprogramme und Frauenhäuser. Die Meinung der Töchter spielt hierbei natürlich keine Rolle. Die Orte und Angebote, die für Menschen mit wenig Geld noch zugänglich sind, werden durch die Kürzungen immer weiter aus dem Stadtbild verschwinden und die Gentrifizierung wird die Städte für einen Großteil der Bevölkerung immer unbewohnbarer machen. Die Verschärfung der Asylgesetze und die Stilisierung von Migrant:innen zu einer Bedrohung, die ihnen die Teilhabe an der Gesellschaft verweigern, lässt deren Lebenssituation noch perspektivloser erscheinen und wird eine berechtigte Wut bei diesen Menschen entstehen lassen. Und natürlich ist nicht davon auszugehen, dass alle diese Menschen ihr Schicksal einfach regungslos hinnehmen und aus dem Stadtbild verschwinden werden, so wie es das „Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit“ für sie vorsieht.

Die neoliberale Politik, mit der die westlichen Staaten in den letzten Jahrzehnten auf die Überproduktionskrise des Kapitalismus reagierten, konzentriert den Reichtum in immer weniger Händen und lässt auf globaler Ebene weite Teile der Bevölkerung für die kapitalistische Produktion überflüssig werden. Diese Dynamik erzeugt eine verschärfte Logik der Ausgrenzung, durch die sich die Profiteure des Systems versuchen gegen dessen Verlierer abzuschotten. Auf internationaler Ebene werden die Grenzen des globalen Nordens militarisiert, um die Menschen aus den ärmeren – meist ehemals kolonialisierten – Ländern daran zu hindern, in die Zentren des Kapitalismus zu kommen, deren Bedarf nach billiger Arbeitskraft gesättigt ist. In seinem Buch ‚Planet of Slums‘ beschreibt Mike Davis wie in den Städten des globalen Südens eine „surplus humanity“, die keine Anstellung mehr im formellen Sektor des Kapitalismus findet, in den Slums unter unmenschlichen Bedingungen ihr Leben fristet. Da die Reichen sie als ein Sicherheitsrisiko betrachten, militarisieren sie die Städte und leben von Zäunen und Sicherheitsfirmen geschützt in gated communities. Bereits in den 90ern prophezeite die Weltbank, dass die Armut in den urbanen Räumen „das bedeutendste und politisch brisanteste Problem des nächsten Jahrhunderts“ werden wird. Zwar verlaufen die Grenzen in den europäischen Städten noch deutlich unschärfer, doch wird auch hier die Überwachung und die Aufrüstung der Polizei forciert. Die angekündigte Militarisierung der Gesellschaft, mit der eine Verarmung weiter Teile der Bevölkerung einhergehen wird, wird diese Tendenz weiter verstärken. Die Gentrifizierung wird die Kluft zwischen arm und reich in den Städten zusätzlich vergrößern. Die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft werden das Stadtbild als Ganzes weiter nach dieser Logik der Abgrenzung formen; der Amazon-Tower, die Villa im Grunewald und die Obdachlosen am Kottbusser Tor stehen in einem Verhältnis, dass sie gegenseitig hervorbringt. Der Preis einer Villa im Grunewald lebt nicht zuletzt davon, dass die Obdachlosen am Kottbusser Tor bleiben. Und zahlungskräftige Investoren, die Menschen aus ihren Wohnungen vertreiben, haben nicht zu befürchten, vor den Eingängen ihrer Renditeobjekte durch den Anblick von Obdachlosencamps belästigt zu werden. Die Aufwertung einzelner Kieze wird immer von zunehmenden Razzien der Polizei begleitet, die Obdachlose aus dem dortigen Stadtgebiet vertreiben. Parallel zur Privatisierung des Reichtums erzeugt diese Gesellschaft eine Privatisierung des Leidens: die Überflüssigen sollen mit all ihren Problemen aus dem Stadtbild verschwinden.

Foto: The White House, Public domain, via Wikimedia Commons