Wie organisiere ich die Klasse im Betrieb?

21. Oktober 2025

Die Klasse organisieren‘ ist eine häufige Parole, allerdings sind wir mit Organisierung in den Betrieben als kommunistische und sozialistische Bewegung in Deutschland noch keine wirkmächtige Kraft geworden. Umso interessanter ist die Initiative der „Ersten Roten Betriebs- und Gewerkschaftskonferenz“, die für den 25. Oktober in Waiblingen bei Stuttgart angekündigt wurde. Wir haben mit den Organisatoren u.a. über revolutionäre Betriebsarbeit, Streikerfahrungen, Organisierungsarbeit in und mit dem DGB, Nazis im Betrieb, das deutsche Arbeitsrecht, Klassenbewusstsein in Deutschland und die Konferenz gesprochen. Vincent ist Auszubildender zur Pflegefachkraft und Sergey arbeitet als Stahlbauschlosser. Beide sind Arbeiter, Kommunisten und aktive Gewerkschafter in Ludwigsburg:

Könnt ihr euch als Organisatoren der „Roten Betriebs- und Gewerkschaftskonferenz“ einmal vorstellen – wer seid ihr und was habt ihr vor?

Vincent: Das wären zweierlei Punkte, die in Zusammenarbeit entstanden sind. Rote Infos ist erst mal eine Plattform auf Instagram, über die wir den Marxismus verbreiten, Debattenbeiträge und Statements bringen, auf Aktionen und Veranstaltungen hier in der Region aufmerksam machen, Kommentare dazu abgeben und wenn es eine Aktion mit einem Klassenbezug oder marxistischen Standpunkten gibt, diese spiegeln.

Sergey: Und die Dinge, die wir auf der Straße tun auch über die Landkreisgrenze hinaus verbreiten. Z.B. die Aktivitäten zum 1. September-Antikriegstag, zum 1. Mai oder als wir letztens bei den Bosch-Kollegen waren, deren Standort hier in Waiblingen zugemacht werden soll. Da könnte man natürlich auch hingehen, ohne Bilder davon zu machen und Texte dazu zu schreiben, aber wir glauben, dass Arbeit im Betrieb in der linksradikalen Bewegung ein bisschen zu kurz kommt und wollen Gegenakzente setzen.

Vincent: Die Arbeit zu und mit betrieblichen Akteuren ist ein wichtiger Punkt. Da etwas auf die Beine zu stellen, ist im Prinzip das Ansinnen vom Roten Gewerkschaftstreffen. Das sind die zwei Dinge: Einmal Rote Infos quasi als unser Informationsportal und das Rote Gewerkschaftstreffen, das wir einmal im Monat machen. Es ist mittlerweile sehr gut besucht. Obwohl es zu Anfang ein bisschen Schwung gebraucht hat, ist mittlerweile die Bude voll.

Sergey: Es sind viele vor allem junge Leute, sowohl linke, radikale Marxisten, oder die, die es werden wollen, als auch mittlerweile viele Leute aus Betrieben, die mit uns kooperieren. Und wir haben gedacht: „Ok, das läuft nicht schlecht – wäre doch mal gut, mit Leuten aus anderen Städten über diese Arbeit ins Gespräch zu kommen.“ Vielleicht haben die ja auch gute Ansätze, die sie uns erklären können oder wir können denen Vorschläge machen, wie sie arbeiten können. Wir haben immer wieder gemerkt, dass es auf ein gewisses Interesse stößt, was wir tun. Das ist der Grund für die Konferenz. 

Vincent: Das heißt nicht, dass wir bei der Konferenz der Überzeugung wären, wir können jetzt die Weisheit auf dem Silbertablett präsentieren. Wir hatten auch im Laufe der Zeit des Roten Gewerkschaftstreffens immer wieder Aufs und Abs. Mal waren mehr da, mal waren weniger da. Das Ganze ist geprägt von Erfahrungen, wo man auch mal gemerkt hat, dass Sachen nicht funktioniert haben oder ein Griff ins Klo waren. Und das sollte auch ein Bestandteil der Konferenz sein. 

Was wir spannend finden und anregen wollen, ist dass andere Menschen, andere politische Organisationen und Strukturen, diese Erfahrungen auch machen. Es ist der Versuch, tatsächlich eine organisatorische Zusammenarbeit mit Leuten aus einem Betrieb hinzukriegen, die davor zu Marxismus, Kommunismus oder Linksradikalen noch überhaupt keinen Bezug hatten, aber eben in der betrieblichen Auseinandersetzung oder einfach durch die Tatsache, dass man im Kapitalismus arbeiten muss, tagtäglich Erfahrungen sammeln, wo sie von ihrem Chef ausgebeutet werden. So eine Lebensrealität ist aber mit dem durchschnittlichen linksradikalen Treffen eigentlich nicht wirklich vereinbar. Das findet oft eher nach Feierabend statt. Das ist auch eine Beobachtung, die wir auf die radikale Linke in der BRD allgemein haben. Man befindet sich in einer Rolle von einem Theaterpublikum und steht so ein bisschen außerhalb der Dinge. Man betreibt seinen politischen Aktivismus zwar aus einem guten Ansinnen heraus, aber wenn man ehrlich ist, dann doch meistens nach Feierabend. Man lässt seine Gesinnung auf der Arbeit auch nicht immer raushängen, weil Sozialismus dann schon irgendwie als etwas anrüchig gesehen wird – „dann wollen die mit mir auf der Arbeit wieder gleich über die DDR diskutieren“ oder so. Und so ist man dann ein bisschen außen vor und bewertet von außen die Frage: „Wie läuft es denn gerade im Klassenkampf? Wo ist was los? Wo macht jemand was gut, wo macht jemand was schlecht?“ Und gerade das wollen wir aufbrechen.

Wen erwartet ihr zur Konferenz? Habt ihr Kontakt zu anderen solcher Treffen oder organisierten Arbeitskämpfen? Wer kommt da – politische Gruppen, Branchen oder Arbeitssektoren, die vertreten sind?

Sergey: Das Interesse ist groß, wir haben uns erst gestern einen größeren Raum angeguckt. Wenn es gut läuft – das ist das erste Mal, dass es so etwas bei uns hier gibt – wird es dreistellig.

Natürlich melden sich da auch Menschen an, die politischen Gruppen nahestehen, aber das ist durchaus vielschichtig.Im Wesentlichen aus dem marxistischen, kommunistischen, linksradikalen Bereich. 

Was uns aber recht wäre, ist weniger eine Diskussion zwischen Gruppen zu führen – klar wird das ein bisschen mitschwingen – aber eher eine Diskussion zwischen Menschen, die im Betrieb politische Arbeit leisten wollen. Also wie mache ich denn das? Jetzt bin ich im Betrieb, da gibt es einen Betriebsrat oder gewerkschaftliche Strukturen – arbeite ich da mit? Wenn ja, wie? Oder lasse ich das lieber? Was mache ich stattdessen? Ich bin neu im Betrieb, da ist der Kapitalist, der will mir nichts Gutes. Wie kämpfe ich denn jetzt gegen den? Geht das alleine, oder muss ich das mit anderen Menschen zusammen tun? Wie finde ich die, wie formiere ich die zu einer Fraktion im Klassenkampf? Diese Fragen zu diskutieren, das ist eigentlich der Kern der Konferenz.

Wenn ich einen Tipp abgeben dürfte: Ich denke das werden überwiegend junge Leute sein. Wir wollen, wie gesagt, Praktiker:innen aus dem Klassenkampf und aus dem Betrieb haben, oder solche die dort Praxis entwickeln wollen. Es geht um kein Expertengespräch, um Profis, die erzählen, was sie alles schon gerissen haben, sondern wir wollen uns gemeinsam nach vorne entwickeln. Es geht um Praxis und nicht allein um theoretische Debatten, ob Lenin früher Recht hatte oder doch nicht. Das kann man zwar auch diskutieren, ich habe da eine stabile Meinung zu (lacht), aber die Praxis ist das Entscheidende.

Was erwartet die Teilnehmer:innen? Was steht auf dem Programm?

Sergey: Lange Powerpoint-Präsentation ohne Bilder (lacht).

Vincent: (Lacht auch) Genau. Schriftgröße 8. Keine Bilder. 

Nein, natürlich nicht. Wir haben es aufgegliedert in mehrere inhaltliche Themenblöcke. Sergey hatte ja seine Karriere als Stahlbauschlosser damals in Bremen, die ihn auf die schwarze Liste geführt hat. Das war natürlich seiner politischen Arbeit im Betrieb, seiner politischen Herangehensweise geschuldet. Er und ein Kollege von damals werden ein bisschen aus der Zeit berichten.

Sergey: Wir waren damals in einem Betrieb mittlerer Größe, 300 Beschäftigte, und wir haben es dort quasi von einem am Anfang abgefuckten Betriebsrat, der nichts auf die Reihe gekriegt hat und praktisch nicht existenten Gewerkschaftsstrukturen zum kampfstärksten, bestorganisiertesten Betrieb Bremens gebracht.

Auf dem Weg dorthin haben wir eine Reihe von Erfahrungen gesammelt, teilweise Erfolge, teilweise Misserfolge, und diese Erfahrungen wollen wir teilen, weil wir glauben, dass dieses Wissen heute der nachwachsenden jungen Generation von Kommunistinnen und Kommunisten – und das sind echt viel mehr als noch vor 20 Jahren – ein bisschen fehlt. Aber nicht von oben herab nach dem Motto: „Jetzt erzählen wir euch mal, wie der Hase läuft“, sondern auf Augenhöhe.

Wir wollen einen Rahmen schaffen, wo man einfach mal Fragen stellen und diskutieren kann: Ich bin in dem Betrieb, bei mir ist das so und so, wie würde ich das denn angehen? Wie organisiert man den ersten Streik? Wie war das bei euch früher, als ihr das erste Mal gesagt habt, dass die Leute rausgehen sollen? Habt ihr auch Angst gehabt? Habt ihr auch Niederlagen erlebt? Woran lag das? Wie habt ihr euch dann wieder aufgerappelt? Wie ging es weiter? Also Praxisaustausch – das ist der Auftakt der Konferenz. 

Vincent: Der zweite Block ist: Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind zusehends vom Rechtsruck, den man auf allen Ebenen der Gesellschaft erlebt, mitgepackt. Und wie kann man dem begegnen? Was ist da die richtige Herangehensweise? Wie geht man mit Rechten im Betrieb um? Das ist ja auch eine Debatte, die in der AfD geführt wird: Welche Rolle sollen Vorfeldorganisationen einnehmen? Also eine Diskussion zu dem, was es an organisierten Rechten mittlerweile gibt. Und da natürlich besonderes Augenmerk auf Vorfeldorganisationen, die versuchen, sich in Betrieben festzusetzen, allen voran so etwas wie Zentrum Automobil (Rechtsradikale Scheingewerkschaft in der Automobilindustrie im Raum Stuttgart, Anm. d. Redaktion).

Sergey: Das ist der zweite Block der Konferenz, weil die Rechtsentwicklung in unserer Gesellschaft natürlich vor dem Werkstor nicht Halt macht. Dahinter geht es weiter, aber auf eine andere Art und Weise und das hat alles miteinander zu tun. Alle Menschen, die wirklich was gegen die Rechtsentwicklung tun wollen, sollten auf diesen beiden Ebenen kämpfen. Gegen Nazis auf der Straße und gegen Nazis in Betrieben. Mit den jeweils wirksamen Mitteln, die es dort gibt. 

Vincent: Warum wir da einen besonderen Stellenwert drauf gelegt haben, ist nicht nur, weil es etwas ist, was vielen Menschen unmittelbar begegnet, sondern weil wir da von Kommunist:innen in der BRD im Betrieb eine enorme Schwäche beobachten können. Die ist auch auf die Marginalisierung der radikalen und kommunistischen Linken zurückzuführen.

Im Rahmen eines Betriebs ergeben sich aber Ansätze, die in einen Klassenkampf führen, der sich gegen oben richtet und nicht in diesen Kulturkampf gegen Rechts verfällt. Da hat die radikale Linke im Moment nicht viel aufzuweisen. Es gibt immer mal wieder größere Proteste auf der Straße, aber auch das hat abgenommen. Und im Betrieb merkt man bei den größten Teilen unserer Klasse, dass es nicht ankommt. Dann ist man eben sehr verfangen und anfällig für rechte Hetze. Wenn Arbeiterinnen und Arbeiter mit Dingen unzufrieden sind, z.B. den sozialen Abstieg vor Augen haben, der Betrieb zugemacht werden soll oder ähnliches, dann müssen sie als Alternative den Klassenkampf sehen und führen. Das ist Aufgabe der radikalen Linken, diesen Klassenkampf anzufachen und das als Ausgangspunkt für eine Gesellschaftskritik zu nehmen. Das ist sehr wirksam gegen Nazis im Betrieb und das wird viel zu wenig gemacht. Deswegen profitieren Nazis im Betrieb oder auch so Halb-Nazis, Rechtskonservative und sonstige Arschlöcher, die dem Kapital hinten drin stecken, sehr von dieser fehlgeleiteten Unzufriedenheit der Arbeiterklasse.

Sergey: Der dritte Teil der Konferenz ist: Wir arbeiten auch in gewerkschaftlichen Gremien, ohne Illusion, z.B. in Vertrauenskörpern im Betrieb mit. Aber dieses Format hat natürlich Grenzen. Darüber zu diskutieren, wo die sind, wie man die verschiebt oder ob es zusätzlich noch etwas anderes braucht, wie ein rotes Gewerkschaftstreffen. Das Thema mit den gewerkschaftlichen Gremien und DGB-Gewerkschaften ist ja etwas, was am ehesten noch in der radikalen Linken diskutiert wird. Ausgangspunkt für uns ist aber immer die Arbeit im Betrieb und die Arbeit in der Klasse unmittelbar. Was ergibt sich denn für eine Arbeit in gewerkschaftlichen Gremien? Was kann man über diesen Weg bewegen und verändern? Wie sind da die Zusammenhänge? Keine Fachsimpelei, sondern für die Praxis. Wir sind Teil der Inszenierung des Theaterstücks und sollten da als Kommunisten unsere Rolle einfordern.

Wie ist euer Verhältnis zum DGB und seinen Untergewerkschaften? Werden Leute aus diesen Kreisen kommen?

Sergey: Es werden auf jeden Fall Mitglieder der DGB-Gewerkschaften da sein und das ist für uns auch das Ausschlaggebendste. Ich denke jetzt nicht, dass da Funktionäre aus der Region kommen werden. Das sind teils auch Leute, die uns nicht wohlgesonnen sind und schon eine politisch vorgefertigte Meinung haben, welche nicht in unserem Sinne ist. Ich finde in dem Zusammenhang die Frage wichtig: Wer ist denn die DGB-Gewerkschaft und wer sind die Funktionäre? Für mich sind die Gewerkschaften die Mitglieder der Gewerkschaft. Das ist meine Perspektive als Arbeiter. Und die sollten sich selbstbewusst und mit einer eigenen Art um ihre Belange kümmern. 

Der DGB hat auch große Vorteile. Er ist zumindest die einzige Kraft, die zurzeit in der Lage ist, Kapitalisten etwas abzutrotzen. Man kann sagen, das machen sie nicht gut oder zu wenig und die eigentlich zu führenden Kämpfe vermeiden sie. Ich finde z.B. die Gewerkschaften müssten sich viel klarer zur Aufrüstung positionieren und zum Sozialabbau, der diese gegenfinanziert – das ist alles zu brav und angepasst. Da wird sich weggeduckt, weil es ein heikles Thema ist und auch innerhalb der Mitgliedschaft wahrscheinlich polarisiert. Gegen die ganzen Massenentlassungen, die gerade in der Industrie stattfinden, müsste man viel härtere Abwehrkämpfe führen. Teilweise gibt es die, aber die müsste es in der Fläche geben und man müsste probieren, die normalen Tarifrunden mit diesen Abwehrkämpfen zu verbinden und daraus eine große Streitbewegung zu initiieren. Das wäre meine Kritik. Eine Einheitsgewerkschaft – das ist ja der historische Kompromiss, der dem DGB zugrunde liegt – soll eine Bandbreite von Kommunisten bis Christen abbilden und die DGB-Gewerkschaft ist keine Richtungsgewerkschaft, auch nicht der verlängerte Arm der SPD, auch wenn es Leute gibt, die das gerne so hätten. Deswegen braucht es natürlich etwas Eigenes noch daneben.

Wir haben als rotes Gewerkschaftstreffen ein kritisch-solidarisches Verhältnis zum DGB. Das muss man nicht teilen. Ich ärgere mich auch über Leute im DGB, die uns Steine in den Weg legen, aber wir müssen trotzdem zur Kenntnis nehmen, dass wenn du im Betrieb bist, du feststellen wirst, dass wenn der halbwegs organisiert ist und die Gewerkschaft halbwegs kampfbereit, dann sind die Leute meistens in DGB-Gewerkschaften.

Vincent: Aus einer guten Organisierung und einer Kampfbereitschaft ergibt sich dann auch ein Bewusstsein oder ein Kollektiv von Arbeiterinnen und Arbeitern, das auch wenn eine DGB-Gewerkschaft versucht, Steine in den Weg zu legen, in der Lage ist, kreativ zu werden. Das ist der ausschlaggebende Punkt und das ist auch der Aspekt, der am ehesten dazu führt, dass DGB-Gewerkschaften wieder mehr in die Lage versetzt werden, sich anders zu aktuellen Themen zupositionieren und auch einfach mal endlich zu der Erkenntnis zu kommen, dass die Sozialpartnerschaft einseitig aufgekündigt wurde und dass es leider nicht wir waren, sondern die Gegenseite, aber viele dem noch hinterher rennen.

Sergey: Es ist ja nicht so, dass die Belegschaften in der Regel total kampfgeil sind und schon kurz vor dem Barrikadenbau und die roten Fahnen gerade noch nähen, sondern meistens wählen sich die Belegschaften ja Funktionäre. Funktionäre sind oftmals Betriebsräte, die dann wiederum eine Rolle in Gewerkschaften einnehmen, gerade wenn es Großbetriebe sind, wobei Betriebsräte und Gewerkschaft eigentlich nicht dasselbe ist, aber oftmals überschneidet es sich. Und du musst mit dem arbeiten, was du vorfindest. Du kannst nicht auf einem weißen Blatt Papier die neue Welt aufbauen. Und das ist, dass wenn du in einem Betrieb eingestellt wirst, du oft auch gar nichts vorfindest – keinen Betriebsrat, keine Gewerkschaft. Dann soll jeder, der denkt, er kann es besser als die DGB-Gewerkschaften, beweisen, dass er es hinkriegt. Also ohne Ironie, die meisten Betriebe in der BRD haben keinen Betriebsrat und keine Gewerkschaft. Dann ist die Praxis das Entscheidende und dann bin ich durchaus für Wettbewerb: Wer es besser hinkriegt, soll es machen! Dann darf man auch gerne die DGB-Gewerkschaften links überholen – aber in der Praxis, nicht auf dem Papier. Wenn du in einen Betrieb kommst wie Mercedes, Porsche, Bosch oder Stihl, das sind Betriebe hier aus der Region, dann wirst du dort einen Betriebsrat vorfinden, wo du vielleicht nicht mit allem einverstanden bist, aber du wirst merken: Ohne den würde wahrscheinlich das Management komplett machen, was es will. Wenn du nicht möchtest, dass der Betriebsrat aus deiner Sicht einen Tick zu nah am Management ist, dann solltest du überlegen, was machst du? Bekämpfst du den Betriebsrat oder bist du Teil dessen und versuchst, die Koordinaten nach links zu verschieben? Oder machst du beides? 

Wir haben uns Formen überlegt, wie man sich noch zusätzlich organisiert. Aber hätten wir einfach nur gesagt: „Ne, Betriebsräte brauchen wir nicht, die dürfen ja noch nicht mal zum Streik aufrufen, was ist das denn für ein Looserladen, wir machen gleich wilder Streik“, das hätte wahrscheinlich nicht funktioniert, obwohl es sich geil gelesen hätte. Ohne Gewerkschaft hast du kein Streikrecht – das heißt, wenn du dann gegen das Kapital kämpfen musst, dann ist es sofort das Sich-Hinwegsetzen über die bestehenden Gesetze. Das kann man tun. Das muss man auch tun in einer revolutionären Situation. Aber wenn du das als Eintrittskarte für noch nicht organisierte Arbeiter machst: „Du darfst bei uns mitmachen, aber du musst bereit sein, alles zu riskieren“, liegt die Latte am Anfang zu hoch. 

In Italien hat die größte Gewerkschaft gerade zu einem erneuten Massenstreik für Palästina aufgerufen. In Frankreich findet seit dem 10. September auch wieder eine große Streikbewegung statt. In Deutschland haben wir ein sehr restriktives Arbeitsrecht, was maßgeblich von dem Nazi Hans Carl Nipperdey (führender Arbeitsrechtswissenschaftler unter Hitler und in der BRD erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts von 1954-63) konstituiert wurde und auf den Erfahrungen der Unterdrückung des Klassenkampfes im Faschismus aufbaut. Z.B. sind politische Streiks in der BRD verboten. Wie sollte ein Umgang damit sein und was ist eure Perspektive darauf für Deutschland?

Vincent: Wir hatten ja gesagt, dass es nicht nur hauptamtliche Gewerkschafter waren, die sich teils sehr über unsere Inhalte aufgeregt haben, sondern auch Teile der Mitgliedschaften und auch altgediente Teile der Mitgliedschaften. Es gibt, wenn sich Gewerkschaften dann mal politisch verhalten und sei es nur eine Gegen-Rechts-Demo von einem ganz breiten Bündnis, jedes Mal Scharen an Mitgliedern oder bösen Mails, die dann sagen: „Jetzt lasst doch mal den Scheiß, ihr müsst euch um Tarifverhandlungen kümmern und die Politik überlasst ihr den Politikern.“ Du hast Beispiele aus Italien und Frankreich herangezogen. Der eine Aspekt ist da glaube ich die Protestkultur, wie sie in Deutschland besteht und das andere ist der Bewusstseinsstand, der dazu führt, dass jemand sagt: „Die Gewerkschaft hat sich um Tarifpolitik zu kümmern und der Rest ist scheißegal.“

Ich glaube aus den beiden Punkten ergibt sich so ein bisschen das spezifisch deutsche Problem in dem Fall. Da müsste man versuchen, Ansätze zu finden. Eins zu eins die Herangehensweisen oder Inhalte von Mobilisierungen aus Italien oder Frankreich zu übertragen, ließe sich da wahrscheinlich nicht zum Erfolg führen. 

Was die Proteste in Frankreich angeht – ich mag die sehr gern, muss ich ehrlich sagen! Ich freue mich jedes Mal darüber, wenn ich Riesendemonstrationen sehe, die sich dann klar gegen Sozialabbau der Regierung im Dienste der Aufrüstung richten. Ich bin auch immer wieder freudig beeindruckt von der Intensität, mit der da auf die Straße gegangen wird. Dasselbe bei den italienischen Protesten für Gaza. Was allerdings die Streiks in Frankreich angeht, bleibt festzuhalten, dass auch wenn die eine beachtliche Intensität haben, sie das Problem zum aktuellen Stand nicht beheben können. Also schlummert irgendwo dahinter auch ein spezifisch französisches Problem. Es ist natürlich lohnenswert, immer wieder rüber zu schauen und auch einen persönlichen Austausch anzustreben. Aber ich glaube was das Problem in der BRD angeht, ist es vor allem der Bewusstseinsstand der Klasse.

Sergey: Du hast gerade sehr richtige Sachen gesagt mit deiner Frage. Das deutsche Arbeitsrecht ist Nazirecht in großen Teilen. Der von Hans Nipperdey verfasste Grundgesetzkommentar zum Streikrecht und dieses eingeschränkte Streikrecht sind ein großes Problem. Dazu kommt natürlich, das ist weitestgehend vergessen, dass es für die Industriebetriebe nochmal seit 1984 bzw. 1986 das Verbot für die Bundesagentur für Arbeit gibt, kalt ausgesperrten Arbeitern Kurzarbeitergeld zu zahlen. Das ist ein Riesenproblem.

Früher hieß das Paragraph AFG 116 (heute §160 SGB III, auch als „Anti-Streik-Paragraph“ bekannt, Anm. d. Redaktion). Das kennt heute keiner mehr. Aber wir müssen immer bei Streiks im industriellen Bereich die sogenannten Fernwirkungen bedenken. Wenn das Mercedes-Werk in Stuttgart streikt, das Motoren herstellt, dann stehen auch in Bremen – ein anderes Kampfgebiet, weil anderer Arbeitgeberverband – die Bänder. Wenn dort dann keiner ausgesperrt wird, gibt es kein Streikkurzarbeitergeld für die unmittelbar betroffenen Leute, das heißt, die müssen das aus der eigenen Streikkasse bezahlen. Das können die auch, aber wenn die Aussperrung in den sechsstelligen Bereich geht, was die Erfahrungen großer Streiks früher gewesen sind, 1984 zum Beispiel, dann bist du relativ schnell pleite. Das ist ein Riesendruckmittel. Das ist so ähnlich, als wenn man Verdi sagen würde, im öffentlichen Dienst müssten die Streiks am Flughafen drei Tage vorher angekündigt werden, damit man umplanen kann.

Vincent: Das ist ja neulich gefordert worden. 

Sergey: Ja, das sind Drohungen aus der aktuellen Zeit. Einschränkungen der Streikmöglichkeiten, die noch über Nipperdey hinausgehen, gibt es im industriellen Bereich und betrifft vor allem die IG Metall seit 40 Jahren. Die IG Metall hat nicht das Mindset gehabt, das in Frage zu stellen und das volle Streikrecht zurück zu erkämpfen. Aber wie kommt man trotzdem dazu, diese eingeschränkten Rechte zu überwinden und mehr Rechte zu gewinnen? Indem man die Grenzen des Rechts überschreitet. Zu warten, dass irgendwer kommt und sagt: „So, jetzt machen wir das Streikrecht wieder schön“, wird nicht funktionieren. Du musst als Gewerkschaft und als Arbeiterbewegung über die Grenzen hinausgehen. Dadurch veränderst du dann die Gesetze. Das wäre jetzt mal meine steile These, die ich in den Raum stellen möchte. Das heißt, wenn wir jetzt als Gewerkschaften sehen, dass Milliarden in die Aufrüstung gepumpt werden und der Sozialstaat, für den die Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften gekämpft haben, zerschlagen wird, dann kann ich ja nicht warten bis Nipperdey gecancelt wird oder so. Dann nennst du es halt Aktionstag und dann wird es aber praktisch ein politischer Generalstreik.

Um da hinzukommen, braucht es eine andere Einstellung, ein anderes Mindset in der Arbeiterklasse. Dazu müssen die Leute in den Betrieben, die die Last des Ganzen tragen, sagen: „Wir wollen das jetzt! Liebe IG Metall-Hauptamtlichen oder DGB, bitte organisiert das für uns. Wir bezahlen für unsere Mitgliedsbeiträge und wählen euch zu großen Teilen und wenn wir das wieder machen sollen, dann tut jetzt das, wofür wir euch bezahlen.“

Ein anderer Gedanke: Man darf natürlich wenn man Deutschland mit Frankreich oder Italien vergleicht, nicht vergessen, dass Deutschland weder eine bürgerliche Revolution hatte, die erfolgreich war, noch sich selbst vom Faschismus befreit hat und dass diese Demokratiedefizite (lacht) oder Defizite beim Entwickeln bürgerlichen und demokratischen Bewusstseins in allen Gesellschaftsbereichen nachwirken. Das ist in Frankreich mit deren Geschichte ein anderer Fall. Wobei ich dagegen wäre, in anderen Ländern zu sagen: „Oh, das ist total geil, geiler als in Italien geht’s nicht.“ Ich finde super, dass Gewerkschaften dort politisch gestreikt haben gegen Kriegsverbrechen und Genozid. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass in Italien eine Faschistin Ministerpräsidentin ist – wahrscheinlich auch von vielen Arbeitern gewählt. Und in Frankreich ist der Rassemblement National bei 30 Prozent. Insofern würde ich in allen Ländern vorschlagen, die positiven wie auch die negativen Seiten zu sehen, sich davon inspirieren zu lassen und einen eigenen radikalen kämpferischen Weg für das Land, in dem man lebt, zu entwickeln. Mit all den Schwierigkeiten, die es hier gibt, die es woanders nicht gibt.

Vincent: Um zurück zu kommen zu dem Punkt, was wir mit dieser Konferenz leisten wollen:

Das Bewusstsein unserer Klasse ist das eine, aber was wir als Kommunistinnen und Kommunisten konkret dazu beitragen können, ist das andere. Und dieser Aspekt – wie kann ich mit dem Betriebsverfassungsgesetz als Werkzeug umgehen, wo kann ich das auch ausspielen, wo gibt es Schlupflöcher? – da haben wir noch viel zu lernen. Das ist durchaus möglich, aber man muss sich halt daran machen. Das kann einen riesigen Unterschied machen. Einerseits für die Kommunistinnen und Kommunisten selbst, als auch für die Art und Weise, wie man im Kampffeld des Betriebs arbeiten, vorangehen und die Klasse führen kann. 

Was sind eure konkreten Ziele und Erwartungen für die erste Rote Betriebs- und Gewerkschaftskonferenz

Sergey: Im Optimalfall wiederholen wir die Konferenz in einem Jahr und dann sagen die Leute aus anderen Städten: „Wir haben jetzt eine Betriebsrevolution gemacht. Es gibt jetzt einen kämpferischen Betriebsrat, wir haben in der Tarifrunde so viel erkämpft, wie wir uns nie zu träumen gewagt hätten. Wir haben dafür gestreikt und wir haben noch zusätzlich ein Rotes Gewerkschaftstreffen in der Stadt gegründet und angefangen, uns mit Marxismus zu beschäftigen, weil wir nicht bei ökonomischen Kämpfen stehen bleiben wollen. Wir wollen die Welt verändern, dazu müssen wir die Eigentumsverhältnisse verändern, den Kapitalismus zerschlagen und genau da habt ihr uns bei der Konferenz einen guten Vorschlag gemacht und wir haben ihn angenommen.“ Das wäre der Best Case (lacht). Und der normale Case wäre vielleicht Teile davon. 

Vincent: Das Minimalziel wäre auf jeden Fall, dass man die Konferenz ein Jahr später wiederholen kann und dass es dann Erfahrungsberichte aus anderen Bereichen gibt, dass man sieht, dass andere Leute beginnen das anzuwenden und man anfängt, das Ganze in der Praxis zu überprüfen und sich daran weiterzuentwickeln. 

Sergey: Ja, das war jetzt ein bisschen ehrgeizig formuliert von mir eben und auch mit Augenzwinkern gesagt, aber guck mal: Ich habe 1993 eine Ausbildung gemacht und bin 1994 Jugendvertreter geworden, 1995 Betriebsratsmitglied und 1998 Betriebsratsvorsitzender. Das ist ein relativ kurzer Zeitraum. Wenn ich das hinkriege, können andere das auch hinkriegen.

Natürlich wird Vieles auch nicht klappen. Ein paar werden vielleicht raus fliegen wenn sie die Fresse aufmachen im Betrieb. Ein paar werden auch Fehler machen und sich isolieren von den Kollegen oder frustriert sein, dass man es gut gemeint hat und dann doch alles anders läuft. Aber ich bin mir sicher, dass viele davon inspiriert sein werden und Dinge in ihrer Praxis vor Ort ändern und beginnen, die Klasse im Betrieb zu organisieren. Das ist das Ziel.

Nicht nur Erkenntnis, sondern die Erkenntnis mit der Praxis zu verbinden. Und wenn man dann in einem Jahr wieder zusammenkommt, haben das hoffentlich einige gemacht.