Neue Ordnung, Alte Regeln – Syrien im Schattenspiel: Wer zieht wirklich die Fäden?

8. Oktober 2025

Ein Esel läuft ganz gemächlich vor unserem zerbeulten Hyundai mit den schwarz getönten Scheiben. Unsere viel zu leise Hupe stört das Getier nicht und so geht es störrisch weiter, mitten auf der Fahrbahn. Gegenverkehr kommt keiner und eilig haben wir es auch nicht. Also lassen wir die Scheiben runter, drehen die Klima-Anlage aus und zünden uns eine Zigarette an. Rote Gauloises. So paffen wir vor uns hin, während die Sonne allmählich ihren Zenit erreicht haben dürfte. Den Esel scheinen die knapp 50 Grad nicht zu stören. Er setzt gemächlich einen Huf vor den anderen, bis das Bild langsam verblasst.

Das Aufwachen bringt die Erkenntnis mit sich, dass ich Nord- und Ostsyrien mittlerweile mit Berlin getauscht habe. Statt frisch gemolkener Kuhmilch und selbstgemachtem Joghurt ergießt sich zum Frühstück der letzte Schluck Hafermilch in die Kaffeetasse. Der durchdringende Blick auf den Kaffeesatz bringt mir heute keine Erkenntnis über die Zukunft, also dann schauen wir mal, was die Fakten sagen.

Von Ulrich Weber

Eine neue Realität in Syrien

Nur wenige hundert Kilometer vom kaputtgebombten Gaza entfernt sprechen auch an den Frontlinien in der Nähe des Euphrats wieder die Waffen. Nachdem seit April dieses Jahres vermeintliche Ruhe über der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens eingekehrt war, sind nun wieder Bilder von Grad-Raketenwerfern zu sehen, die in das Dunkel der Nacht ihre Raketen spucken.

Zeitgleich zu dem Vorstoß von HTS, dem syrischen Al-Qaida-Ableger, auf Damaskus griff die an der Seite der HTS kämpfende „Syrische Nationalarmee“ (SNA) die selbstverwalteten Gebiete Nord- und Ostsyriens an. Nach Monaten schwerster Gefechte und dem Rückzug der „Befreiungskräfte Afrins“ (HRE) aus der Region Shehba und schlussendlich der SDF aus der Großstadt Minbic verlagerte sich die Front zunehmend auf die natürliche Verteidigungslinie des Euphrat-Flusses. Zehntausende Islamisten und sämtliche türkische Kriegstechnik aus NATO-Beständen wurden von da an zur Frontlinie geworfen. Trotz der absoluten türkischen Lufthoheit konnten die Landzunge um Dair Hafir, der Tishrin-Staudamm und die Qerecozax-Brücke als die wichtigsten Verteidigungspunkte gehalten werden.

Alsbald wurde man Zeuge von den neuen militärischen Kapazitäten der SDF. Gerade an Tagen mit geschlossener Wolkendecke, an denen die türkischen Kampfdrohnen quasi blind waren, mussten die Islamisten schwere Schläge einstecken. In dutzenden von den SDF veröffentlichten Videos war zu bestaunen, wie kleine FPV-Drohnen im feindlichen Hinterland Jagd auf türkische Radarsysteme, Panzer und verschanzte Bandenmitglieder machten und mit einem kleinen Puff und Peng millionenschwere Kriegstechnik zerstörten. An den meisten Frontlinien war es also die Fähigkeit, auf Distanz kämpfen zu können, welche im Gegensatz zu vergangenen Kriegen die Entscheidung über Sieg oder Niederlage herbeiführte. Somit war aber auch unter den Gefallenen der SDF fast niemand mehr, der durch direkten Feindkontakt, sprich durch eine Kugel, gefallen ist.

Trotz der schweren Schläge, die ohne Zweifel durch den Rückzug aus Shehba und den militärischen Fall Minbics eingesteckt wurden, konnte mit der zunehmenden Länge des letzten Krieges unter Beweis gestellt werden, dass die SDF durchaus in der Lage dazu sind, trotz eines an Feuerkraft und Technik weit überlegenen Feindes die Frontlinien zu stabilisieren und teilweise die militärische Initiative zu übernehmen.

Jolani und Mazlum Abdi reichen sich die Hand

Der Blick auf den Kalender verrät, dass fast ein halbes Jahr seit dem Abkommen vom 10. März vergangen ist, welches zwischen dem Generalkommandanten der SDF und Jolani in Damaskus unterzeichnet wurde. (Jolani hat mittlerweile diesen Kampfnamen, den er als Chef des syrischen Al-Qaida Ablegers HTS getragen hat, abgelegt. Mittlerweile ist er der selbsternannte syrische Übergangspräsident und nennt sich wieder nach seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa) 

Wie später aus Erklärungen des SDF-Generalkommandanten Mazlum Abdi hervorging, wurde das Abkommen zu diesem Zeitpunkt geschlossen, um eine weitere großflächige militärische Eskalation zu verhindern. Wenige Tage zuvor war es nämlich zu Kämpfen an der Küste gekommen, in deren Folge tausende Alawit:innen von der HTS massakriert wurden.

Logistisch soll die Zusammenkunft insbesondere von den USA ermöglicht worden sein. Als Ergebnis des Treffens wurde eine Frist bis zum Jahresende gesetzt, innerhalb derer die zwischen Jolani und Mazlum Abdi unterschriebenen acht Punkte umgesetzt werden sollten. Infolge der Gespräche wurden somit ab April die Angriffe der SNA zunehmend weniger. Auch türkische Luftschläge blieben erstmals seit Jahren des intensiven Drohnenkriegs aus.

Die Spuren der Kämpfe sind aber in der sonst so friedlich anmutenden Landschaft noch lange nicht verwischt. Der zersplitterte Stahlbeton und die Einschusslöcher in den Wänden der kleinen Gemeinde Sirrin, südlich von Kobane, kommen einer Mahnung und dem Ruf zu Wachsamkeit gleich. Bis hierhin hatte es nämlich um den letzten Jahreswechsel die SNA geschafft – bis sie wieder auf die andere Seite des Euphrats gejagt wurde.

Wenig Zeit ist ebenso vergangen seitdem die ausgebrannten Autowracks auf dem Tishrin-Staudamm zusammengestellt und das gesprungene Glas weggefegt wurde. Das Schwarz von den Granat-Explosionen konnte der wenige Regen noch nicht vom Asphalt wegwaschen. Diese Spuren sind bleibendes Zeugnis von den über 100 Tagen des Protestes, bei denen 24 Menschen getötet und über 700 teilweise schwer verletzt wurden. Nach Monaten, in denen die SNA versuchte, mit türkischer Unterstützung in die Gebiete östlich des Euphrats zu gelangen, wurde am 5. Mai der symbolische Sieg der militärischen Verteidigung und der zivilen Proteste über die dschihadistischen Angreifer erklärt.

Öl ins Feuer – Showdown in Aleppo

Jetzt haben die Angriffe der SNA auf die Verteidigungsstellungen der SDF um den Staudamm erneut begonnen. Auch weiter südlich kommt es bei der Landzunge von Dair Hafir wieder zu regelmäßigen Gefechten. Eine neue Militäroperation scheint somit nur eine Frage der Zeit zu sein, wofür auch die türkischen Transporte schwerer Waffensysteme in die Gegend zwischen Aleppo und Dair Hafir sprechen. Ganz unabhängig davon, ob der sich anbahnende Angriff einen begrenzten Umfang haben wird oder nicht, birgt er das Potenzial einer weitaus größeren Eskalation. Zum jetzigen Stand ist das neue Regime noch damit beschäftigt, zu gucken, wie weit es gehen kann, und mit Einzelangriffen die Defensivkapazitäten der SDF abzuklopfen. Konkreter wird es bei der Straße nach Dair Hafir, die vor wenigen Tagen mit Geröll zugeschüttet wurde. Ebenso bleibt die Situation der beiden kurdischen Bezirke, Sheikh Maqsoud und Ashrafiyah in der ansonsten von HTS kontrollierten Metropole Aleppo auch nach Einstellung der Gefechte gespannt.

Was war eigentlich los? Nachdem die Mehrzahl der Verbindungsstraßen in die beiden selbstverwalteten Stadtteile bereits vor einigen Tagen abgekappt und Kampfstellungen von HTS rund um diese errichtet wurden, folgten Montag Nacht, den 6. Oktober, erste schwere Gefechte. Vorausgegangen waren Proteste kurdischer und arabischer Einwohner gegen die Blockade, welche zunächst von Drohnen der HTS aufgeklärt und dann später von der neuen Anti-Riot Polizei des Regimes angegriffen wurden. Nachdem ein wahrer Regen von Steinen auf die Cops niederging, wurde scharf geschossen und Schützenpanzer und Soldaten wurden von HTS und der SNA zum Angriff herangezogen. Bis in die tiefe Nacht ging der Schlagabtausch, wobei die Banden keinen Fuß in die selbstverwalteten Stadtteile setzten konnten. Stattdessen konnten die inneren Sicherheitskräfte von Sheikh Maqsoud und Ashrafiyah zahlreiche der neuen Gefechtsstellungen einnehmen.

Als Reaktion auf den Angriff begann kurz darauf die Mobilisierung der an der Dair-Hafir-Front stationierten SDF-Spezialeinheiten. Im Falle einer anhaltenden Eskalation wäre es vermutlich zu einem Interventionsversuch in der ca. 60 Kilometer von Dair-Hafir entfernten Stadt gekommen. Bereits im vergangenen Jahr konnte ein solcher Korridor bis nach Aleppo etabliert werden. Zum jetzigen Zeitpunkt haben die Gefechte aber aufgehört, auch wenn Berichte über einen Waffenstillstand noch nicht von offizieller Seite aus bestätigt wurden. 

Warum gerade Aleppo eine so wichtige Rolle zukommt, lässt sich dadurch erklären, dass die Stadt de facto das Pilotprojekt der Umsetzung des 10. März-Abkommens darstellt. Nach einem gegenseitigen Gefangenenaustausch im April wurden ebenso gemeinsame Kontrollpunkte der beiden Sicherheitskräfte etabliert. Somit sollte eine Koexistenz aufgebaut werden, in der aber die Kontrolle über die Inneren Sicherheitskräfte bei den Räten der selbstverwalteten Bezirke verbleibt. Als Zeichen des guten Willens und im Rahmen der Vereinbarungen war vor wenigen Monaten ein öffentlichkeitswirksamer Abzug der in der Stadt stationierten Einheiten der YPG und YPJ zu sehen. Es ist absehbar, dass hier aber nichts dem Zufall überlassen wurde und die militärische Selbstverteidigungsfähigkeit davon unberührt blieb.

Versuch eines Ausblicks

In Rojava ist die Möglichkeit eines großen Krieges seit Jahren ein dauerhaftes Thema. Drohungen à la „Eines Nachts kommen wir über euch“ rufen mittlerweile nur noch ein müdes Lächeln hervor. Was auch immer kommen mag – die SDF und die Bevölkerung sind vorbereitet und ein Krieg, so schlimm auch seine Folgen wären, schafft auch immer die Möglichkeit, das Kräftegleichgewicht zu eigenen Gunsten zu verschieben. Nicht ohne Grund heißt es dieser Tage aus den Führungsebenen der SDF immer wieder, dass diese im Falle eines Kriegs selber entscheiden würden, wie er geführt werde und wo dieser ende. Darin steckt der klare Fingerzeig in Richtung Damaskus und Jolani: Weder akzeptieren wir dich noch eure sogenannte Übergangsregierung.

Noch verbleiben für die Umsetzung des 10. März-Abkommens auf dem Papier knappe drei Monate. Für die kurdische Freiheitsbewegung steht dabei fest, dass Rojava und die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens eine rote Linie darstellen. Zur gleichen Zeit ist der türkische Staat wenig erbaut darüber, dass die SDF keine Anstalten machen, die Waffen niederzulegen oder sich bedingungslos unter das neue Verteidigungsministerium einzugliedern. Gerade deshalb, wird die Möglichkeit einer gemeinsamen HTS-Türkei Militäroperation heiß diskutiert und am Mittwoch den 8. Oktober wollen der syrische und türkische Außenminister konkret darüber beratschlagen.

Die jetzige Realität der Jolani-Herrschaft spricht Bände über die Verfasstheit der syrischen „Übergangsregierung“. Die unterschiedlichen Gruppen innerhalb der SNA wurden nämlich nur formell in das neue Verteidigungsministerium eingegliedert. Zur Realität gehört auch die Tatsache, dass die Anzahl der unter dem Befehl von Damaskus stehenden Soldaten weitaus geringer ist, als die der SNA. Diese wollen wiederum in den von ihnen kontrollierten Gebieten de facto nichts von der Befehlsgewalt Damaskus wissen und agieren nach eigenem Belieben. Bei genauerem Blick auf die Charaktere innerhalb der SNA kann sich auch der Letzte versichern, dass mit diesen Gestalten kein Gut-Kirschen-Essen ist. Vor wenigen Monaten wurde der Milizführer Abu Hatem Shaqra, der für die Hinrichtung der kurdischen Politikerin Hevrin Xelef auf offener Straße im Jahr 2019 verantwortlich ist, offiziell zum Kommandanten der 86. Division im Norden des Landes ernannt. Ebenso mit von der Partie ist ein gewisser Abu Amsha, der in den Wirren des syrischen Bürgerkriegs durch seine Verbindung zur Türkei vom Landwirt zu einem der berüchtigsten Warlords mutierte und kurz vor seiner offiziellen Eingliederung in das Ministerium die Massaker an den Alawit:innen befehligte.

Schon wieder die USA

Nicht erst die Massaker an der Küste und später an den Drus:innen im Süden des Landes haben gezeigt, wessen Geistes Kind Jolani ist. Und so hört man nicht selten auf den Straßen, dass nun der IS mit gestutztem Bart und gebügelter Krawatte die Macht übernommen hat. Der Panarabismus, der bis zum Sturz Assads die oberste Losung war, wurde damit gegen einen nationalistischen Islamismus getauscht. Besonders brisant, wie sollte es auch anders sein, war das Mitwirken Großbritanniens und der USA, welche durch NGOs bereits vor geraumer Zeit daran arbeiteten, Jolanis Ansehen in der Weltöffentlichkeit aufzupolieren. Später sollten diese inoffiziellen Organisationen um den Jahreswechsel auch den direkten Kanal für den Dialog zwischen HTS und den SDF herstellen.

Syrien ist mittlerweile wieder aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt. Die nächsten Monate, komme was wolle, haben das Zeug dazu, das Machtgefüge im gesamten Mittleren Osten zu verändern. Wie mit dem Sturz des Assad-Regimes die Verbindung der „Achse des Widerstands“ zwischen dem Iran über Irak bis in den Libanon und nach Palästina gekappt wurde, so werden weitere Auseinandersetzungen zwangsläufig die Regionalmächte Israel und Türkei auf den Schirm rufen, welche seit dem 7. Oktober 2023 fleißig die Säbel rasseln lassen. In all diesem Gewirr von Machtinteressen sind es aber auch die USA, die zu guter Letzt für einen möglichen Angriff von HTS und der Türkei grünes Licht geben müssen. Wenn es nach dem US-Sonderbeauftragten für Syrien Tom Barrack ginge, der in seinem zweiten Leben Leiter eines internationalen Immobilien-Imperiums ist, dann wäre das wahrscheinlich schon längst geschehen. Klar ist, dass die USA gerne ein zentralisiertes Syrien hätten, was sich jedoch nach den Massakern schwerlich als die beste Lösung verkaufen lässt. Auch wenn die USA Jolani noch nicht gänzlich trauen, so gibt die Rückendeckung der Golfstaaten für Jolani Sicherheiten, da diese mittlerweile den gesamten Immobiliensektor Syriens unter sich aufgeteilt haben.

Die Schuld soll nun wie immer der kurdischen Freiheitsbewegung, den SDF und der Autonomen Administration zugeschoben werden, welche es dem neuen Vorzeigedemokraten Al-Jolani, der nun mit gekürztem Bart und Pomade seine Lackschuhe auf internationalem Parkett schwingen darf, nicht recht mit der Integration machen wollen. Auch wenn das Verhältnis zur Zeit ein sehr schwieriges ist, dauern die direkten Verhandlungen zwischen der SDF und HTS noch an.

„Ci dibe bila bibe“

Umgeben von vielen Feinden sind es bitterernste Bedingungen, in denen die Revolution von Rojava geschickt taktieren und gleichzeitig ihren Charakter und ihre Glaubhaftigkeit verteidigen muss. Taktiken und Strategien entstehen nämlich nie im luftleeren Raum, sondern müssen sich immer auf die reellen Verhältnisse und Möglichkeiten beziehen, was heißt, dass das Laufen auf zwei Beinen überlebensnotwendig ist. Das bedeutet, dass zum einen langfristig und parallel zur Realpolitik das eigene politische Projekt gestärkt werden muss, während es auf der anderen Seite vielleicht zu Kopfschmerzen führt, Verhandlungen mit den USA zu führen, um einen weiteren größeren Krieg zu verhindern. Und ja, mittlerweile sind die SDF zahlenmäßig die größte Armee in Syrien und die Notwendigkeit des Ausbaus der eigenen Verteidigungskapazitäten steht gerade mehr denn je auf dem Plan. Dem Zufall wird nämlich nichts überlassen, geschweige denn den Amis. Alles sieht also danach aus, dass sich das Kapitel des syrischen Bürgerkriegs nicht allzu bald schließen wird.

Langsam fallen mir meine Augen zu. Der Esel trabt immer noch vor uns. Ich zünd mir noch ’ne Kippe an. Ci dibe bila bibe – was auch immer kommen mag, es wird weitergehen.