von Meytham ale mahdi
Dieser Text wurde als Reaktion auf die derzeitige Debatte rund um den Angriffskrieg von Israel auf den Iran geschrieben. Meytham ist arabischer Arbeiter-Aktivist, der heute im Exil lebt. Sein ganzes Leben lang haben er und seine Genoss:innen gespürt, wie das Iranische Regime durch Folter und Gewalt die Bevölkerung, insbesondere Minderheiten wie Araber:innen, Kurd:innen, Belutschin:innen, unterdrückt. Er schreibt aus einer Perspektive der Unterdrückten.
Der 7. Oktober war nicht nur eine emotionale Reaktion auf jahrelange Unterdrückung; es war auch ein Meilenstein, der die verborgenen expansionistischen Projekte im Nahen Osten sichtbar machte. Drei parallele Projekte, die hinter den Kulissen der regionalen Entwicklungen liefen, wurden plötzlich klar sichtbar:
Das Projekt der Wiederbelebung des Osmanischen Reiches unter der Führung der Türkei, die ideologische Entwicklung des schiitischen Islams unter der Führung der Islamischen Republik Iran und das Projekt des Zionismus unter der Führung Israels.
Diese drei Regierungen konkurrieren unaufhörlich miteinander und investieren enorme Ressourcen sowie kulturelle, religiöse und militärische Instrumente, um die Oberhand in der Region zu gewinnen. Der 7. Oktober war für viele Palästinenser nicht nur eine Reaktion auf die Besatzung, sondern auch ein Versuch, jenen Kreislauf zu durchbrechen, in dem die Palästina-Frage allmählich aus den geopolitischen Berechnungen der Region entfernt wurde.
In den letzten Jahren waren die Normalisierung der Beziehungen arabischer Länder mit Israel, regionale Wirtschaftsprojekte wie der India–Middle–East–Europe Economic Corridor und die Entdeckung großer Gasvorkommen im Mittelmeer nahe Gaza Hinweise auf diese schleichende Entfernung. Die Palästinenser erkannten diesen Trend und verstanden, dass Diplomatie nicht nur keine Lösung bringen würde, sondern seit jeher den Weg für das vollständige Ausschließen ihrer Rechte ebnet. Sie kennen die extremistischen Strömungen in Israel besser als jeder andere und sahen deshalb den 7. Oktober als einen entscheidenden Wendepunkt.
In diesem Zusammenhang ist die Position des Iran komplex. Obwohl die Islamische Republik sich selbst als Unterstützerin des Widerstands darstellt, zeigt ihr Verhalten in den Monaten vor dem 7. Oktober eine andere Seite. Während die Nuklearverhandlungen für Teheran Priorität hatten, versuchte der Iran, sich von einem direkten Konflikt mit Israel fernzuhalten. Selbst nach dem 7. Oktober reisten iranische Diplomaten mehrfach in den Libanon, um die Hisbollah von einem direkten Konflikt mit Israel abzuhalten. Diese Haltung ist deutlich in den Worten von Hassan Nasrallah, dem früheren Führer der Hisbollah, sichtbar, der wiederholt betonte: „Das ist unser Krieg, nicht der des Iran.“
Der Bruchpunkt kam, als Ismail Haniyeh, einer der führenden Hamas-Leader, in Teheran Ziel eines Angriffs wurde, und Iran darauf keine klare und entschiedene Reaktion zeigte. Das Schweigen Teherans, insbesondere da Haniyeh als diplomatischer Gast im Iran war, schuf ernsthafte Risse zwischen der Achse des Widerstands und der Islamischen Republik. Diese Differenzen sind heute in den unterschiedlichen Ansätzen der regionalen Akteure sichtbar. Ich denke trotz dieses Krieges werden diese Konflikte weiterhin bestehen bleiben und nach einer Beruhigung der Lage in den kommenden Monaten oder Jahren noch deutlicher zutage treten.
Mit einem klaren Verständnis der Entwicklungen im Nahen Osten sehen wir uns als Teil des Kampfes gegen große und kleine Imperialismen. Wenn wir heute keine klare Haltung gegenüber den Machtprojekten einnehmen, werden wir unweigerlich in Zukunft Teil derselben Projekte. Die jüngsten Ereignisse in Deutschland, bei denen es zu Konflikten zwischen kurdischen und arabischen Demonstranten kam, sind eine Warnung, die zeigt, dass die Machtprojekte im Nahen Osten viel komplexer sind, als wir denken. Jede Bewegung, jede Agenda und jedes Ziel kann menschliche Gefühle beeinflussen und sogar zu Gewalt führen.
Ich versuche, dem Leser den Kampf und den Weg unserer Bewegung zu erklären, damit wir inmitten des Lärms der mit den Mächten verbundenen Medien – von Ahvaz bis Palästina – die Stimme der Stimmlosen sein können. In den letzten Jahren hat unsere Bewegung, die Arbeiter, Feministinnen und nationale Befreiungsbewegungen im Iran umfasst, bemerkenswerte Aktivitäten unternommen, um eine revolutionäre Bewegung unabhängig von den Weltmächten aufzubauen. In dieser Hinsicht konzentrierten sich all unsere Bemühungen darauf, Verbindungen zu den unteren Gesellschaftsschichten aufzubauen. Wir versuchten insbesondere, eine ernsthafte Verbindung zwischen Arbeitern und der arabischen Bevölkerung herzustellen, die zu den marginalisierten Völkern in der politischen und sozialen Struktur des Iran gehört, weil wir glauben, dass die Machtstrukturen uns weiter spalten werden wenn wir uns nicht organisieren und unsere Gemeinschaft nicht anerkennen.
Die mit der Macht verbundenen Medien zeichnen ein liberales und verzerrtes Bild der Proteste des iranischen Volkes; als ob diesen Protesten Klasse, Geschlecht und nationale Wurzeln fehlten. Gleichzeitig verfügen wir als revolutionäre Kräfte nicht über dieselben Möglichkeiten wie die von den Mächtigen unterstützten Kräfte. Dies hat zu Erosion und Kraftverlust bei uns geführt.
Der zwölftägige Krieg zwischen Israel und dem Iran hat jedoch unseren Anspruch auf den revolutionären Charakter der Gesellschaft gestärkt. Es ist allseits bekannt, dass ein Regimewechsel im Iran einer der zentralen Slogans Israels und Netanjahus war. In diesem Zusammenhang wurde der Sohn des ehemaligen iranischen Königs in den letzten Monaten auch mehrfach zu europäischen, amerikanischen und israelischen Konferenzen eingeladen, um den Krieg zu unterstützen und sich als Alternative für die Zukunft des Iran vorzustellen.
Hätte das iranische Volk jedoch solche Projekte unterstützt, hätte es reagieren und in denselben zwölf Tagen auf die Straße gehen müssen. Doch dies geschah nicht, denn unser Volk – dieselbe Gesellschaft, für deren Organisation wir jahrelang gearbeitet haben – kämpft für Leben, Freiheit und Gleichheit, nicht für Israel, Amerika oder die Kinder der Könige, gegen die sich das Volk in der Vergangenheit aufgelehnt hat.
Mit diesem Text möchte ich auch versuchen, das Verständnis der Leser:innen für die Situation im Iran zu vertiefen, da ich selbst aus derselben Region und dem Herzen der revolutionären Bewegung stamme und es als meine Pflicht betrachte, der Revolution und ihren Idealen treu zu bleiben.
Um den Iran richtig zu verstehen, muss man sich zunächst mit seiner historischen und sozialen Struktur vertraut machen. Entgegen dem Bild, was die offiziellen iranischen Medien und Teile der persischsprachigen Opposition der Welt vermitteln, ist der Iran keine einheitliche Nation mit einer einzigen Sprache, Kultur und Religion. Vielmehr ist es ein Land, das aus verschiedenen Völkern und Ethnien besteht, die seit Beginn des modernen Staates im 20. Jahrhundert im Rahmen eines Projekts der kulturellen, sprachlichen und politischen Homogenisierung dominiert und unterdrückt wurden, um einen persischsprachigen Nationalstaat zu schaffen.
In einer solchen Struktur werden nicht-persische Sprachen und Kulturen marginalisiert. Diese kulturelle Ausgrenzung ist nicht nur ein symbolisches Problem, sondern auch ein wichtiges politisches und wirtschaftliches Instrument zur Schaffung einer billigen Arbeiterklasse in den Randgebieten des Iran – von Arabistan (Chuzestan) und Belutschistan bis Kurdistan und Aserbaidschan. Diese Regionen, in denen meist nicht-persische Menschen leben, leiden nicht nur unter einer ungleichmäßigen wirtschaftlichen Entwicklung, sondern jeder Versuch der Menschen, ihre eigene Sprache, Kultur und politischen Rechte zu bewahren, wird mit Sicherheits- und Justizrepressionen beantwortet.
Iran und Israel: Das Erbe des Imperialismus
Die heutigen Grenzen des Iran sind, wie die vieler anderer Länder der Region, das Ergebnis kolonialer Abkommen des 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise dem Sykes-Picot-Abkommen (Anm. der Redaktion: 1916 beschlossen Großbritannien und Frankreich in diesem Abkommen die Grenzziehungen innerhalb ihrer kolonialen Interessengebiete in den arabischen Provinzen nach der Niederlage des osmanische Reiches.) Diese Grenzziehungen wurden ohne Beteiligung und Zustimmung der in der Region lebenden Menschen festgelegt und auch die Struktur des modernen iranischen Staates entstand mit Unterstützung des globalen Imperialismus, insbesondere Großbritanniens und der USA. Das Pahlavi-Regime fungierte mit westlicher Unterstützung als „regionaler Gendarm“ und trug maßgeblich zur Unterdrückung antikolonialer Bewegungen in der Region (wie der Dhofar-Intifada im Oman) bei, ganz im Sinne globaler kapitalistischer Interessen.
Die Revolution von 1979 und der Bruch von Versprechen
Die iranische Revolution von 1979 war eine Volksbewegung, die von den unteren Schichten, religiösen Minderheiten und den nicht-persischen Völkern getragen wurde. Zu den Parolen dieser Revolution gehörten soziale Gerechtigkeit, Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung für das gesamte iranische Volk. Doch nach dem Sieg der Revolution brachen Ruhollah Khomeini und seine Verbündeten, darunter die Islamisten, die Tudeh-Partei und einige gemäßigte linke Kräfte, ihre Versprechen und errichteten eine zentralisierte, persisch geprägte Regierung.
Von den ersten Tagen der Islamischen Republik an begann die Unterdrückung unterdrückter Nationen. Ein Beispiel hierfür ist der Schwarze Mittwoch am 30. Mai 1979 in Mohammara (Khoramshahr), wo die blutige Unterdrückung der arabischen Bevölkerung von Chuzestan stattfand. (Anm. der Redaktion: Die Araber:innen spielten eine wichtige Rolle in der Revolution von 1979. Die Hafen- und Ölarbeiter in Khuzestan beispielsweise führten große Streiks an und beteiligten sich somit an der Schwächung der wirtschaftlichen Macht des Schah-Regimes. Schon zuvor und auch zu dieser Zeit kämpften die Araber:innen der Khuzestan-Provinz (auch bewaffnet) darum, selbstbestimmt zu leben. Es gab damals viele Versprechungen ihnen gegenüber, allerdings wurde von Khomeini am 30. Mai 1979 und den Wochen danach das Massaker an den arabischen Menschen in Mohammara durch die iranischen Marinekräfte und religiöse Pro-Regime-Milizen angeordnet. Als Reaktion hierauf gab es 1980 eine Geiselnahme in der iranischen Botschaft in London, bei der die Demokratische Revolutinäre Front für die Befreiung Arabistans (DRFLA) die Freilassung von 91 arabischen Gefangenen in der Khuzestan-Provinz forderten.)

Des weiteren die gewaltsame Niederschlagung der Aufstände der Bevölkerung Kurdistans, die Autonomie und Demokratie forderte und das Verbot des Unterrichts in ihrer Muttersprache für Millionen arabischer, kurdischer, belutschischer, türkischer und turkmenischer Kinder.
Es gab Anschuldigungen und Repressionen gegen Aktivisten der nationalen Befreiungsbewegungen, die sich für die Selbstbestimmung und die eigene Sprache und Kultur einsetzten. Unter dem Deckmantel des „Separatismus“ oder einer „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ wurden sie verhaftet, ermordet, unterdrückt.
Iran: Klasse und marginalisierender Kapitalismus
Die Islamische Republik hat nicht nur nationale Unterdrückung institutionalisiert, sondern nutzt auch Armut, Ungleichheit und kulturelle Ausgrenzung, um die Verteilung von Arbeit in unterdrückten Gebieten zu strukturieren. Die Arbeiterklasse in diesen Regionen ist durch Identitätsverlust, systematische Diskriminierung und wirtschaftliche Ungleichheit zu einer der Grundlagen der iranischen kapitalistischen Profitabilität geworden.
Daher ist, wie ich bereits am Anfang schrieb, die ethnische Unterdrückung im Iran nicht nur ein kulturelles oder symbolisches Problem, sondern steht in engem Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Klassenstruktur der Islamischen Republik.
„Antiimperialismus“ oder regionaler Imperialismus?
Die Islamische Republik Iran präsentiert sich als „antiimperialistische“ Kraft in der Region, doch ihre praktische Politik zeigt, dass dies heutzutage lediglich eine Propagandageste ist. Die direkten und indirekten militärischen Interventionen des Iran in Syrien, Irak, Libanon und Jemen dienen nicht der Unterstützung unterdrückter Nationen, sondern der Wahrung seiner strategischen Stärke und der Verteidigung des Systems der Islamischen Republik.
In Syrien beispielsweise spielte der Iran eine entscheidende Rolle bei der Unterdrückung der syrischen Volksrevolution, indem er das Regime von Baschar al-Assad finanziell, militärisch und nachrichtendienstlich unterstützte. Ohne diese Unterstützung wäre Syrien heute vielleicht in den Händen progressiver und revolutionärer Kräfte und nicht ein Schlachtfeld für Stellvertreterkriege.
Die Islamische Republik instrumentalisiert die Palästinafrage politisch, nicht aus Solidarität mit dem palästinensischen Volk, sondern um sich im Inland und in der Region zu legitimieren. So wie Erdoğan trotz seiner Krokodilstränen für Palästina weiterhin Hunderte Millionen Dollar mit Israel tauscht, nutzt auch der Iran die Palästinafrage, um seine Innen- und Regionalpolitik zu legitimieren.
Vertreter der Islamischen Republik haben wiederholt erklärt: „Wenn wir nicht in Syrien kämpfen, müssen wir in Teheran kämpfen.“ Diese Aussage zeigt, dass das Ziel der Regimeerhalt und nicht der Kampf gegen den Imperialismus ist.
Befreiung von oben?
In der Geschichte können wir immer wieder sehen, dass sogenannte linke Kräfte, vor allem in den Zentrumsländern, allzu oft auf das falsche Pferd setzen, um die Befreiung zu erlangen.
Ein Teil dieser „linken Kräfte“ beispielsweise, die einst sozialistische Bestrebungen in den israelischen Kibbuzim sahen, schloss sich diesen Strukturen ohne das geringste Zögern an, verteidigte sie und rief die Parole „sozialistische Gleichheit“. Sie stellten sich vor, dass dort eine Art sozialistische Selbstverwaltung unter Führung israelischer Bauern errichtet werden würde. Doch sie sagten nie, wie der Sozialismus auf praktisch besetztem Land aufgebaut werden könnte. Interessanterweise gibt es heute nach vielen Jahre Berichte, die belegen, dass die damaligen Führer der Kibbuzim heute selbst illegale Siedlungen bauen und große zionistische Projekte verwirklichen, indem sie das Land des palästinensischen Volkes gewaltsam besetzen, und dass sie die Auftraggeber dieser Projekte sind.
Andere Teile der Linken beziehen sich heute auf eine „antiimperialistische Front“, eine Scheinfront, und verteidigen den Iran, ohne die Realität zu erkennen. Sie verschließen bewusst die Augen, um das Bild eines „antiimperialistischen Iran“ in ihren Köpfen nicht zu zerstören.
Nachdem sie den Klassendiskurs effektiv durch liberale Diskurse oder Parlamentarismus ersetzt haben, betrachten sie den Iran weiterhin als antiimperialistische Kraft, ohne die interne Unterdrückung dieses Regimes auch nur zu beachten. Sie ignorieren Volksaufstände in unterdrückten Gebieten im Iran oder in anderen Ländern der Region, um ein idealisiertes Bild der Islamischen Republik aufrechtzuerhalten. Diese Linke ist nicht länger marxistisch oder revolutionär.
Was ich mit diesen Beispielen klar machen will, ist, dass es keine Befreiung geben wird durch die Unterdrückung von anderen. Weder die Palästinenser noch wir, die unterdrückten Völker des Iran, werden durch die Hand von oben befreit. Das haben wir in hunderten Jahren Widerstand gelernt!
Die Unterstützung des palästinensischen Volkes ist ein legitimes und revolutionäres Recht, aber Palästina ist für die Palästinenser da und nicht ein Mittel zur Legitimierung autoritärer Regime wie dem Iran oder der Türkei. Für uns ist Palästina kein Propagandaslogan für Regierungen, sondern eine Schule für antikolonialen Widerstand und eine Inspiration für alle unterdrückten Nationen.
Lang lebe der Kampf des palästinensischen Volkes, lang lebe der Kampf aller unterdrückten Nationen gegen alle Formen des Imperialismus!