Wendepunkt im Iran? – Die Krise im Mittleren Osten und die Suche nach dem Dritten Weg

20. Juni 2025

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Gastbeitrag

Inmitten des eskalierenden Konflikts zwischen Iran und Israel wird die dringende Notwendigkeit eines dritten Weges – einer friedlichen Koexistenz der Völker, die sich nicht auf die Seiten der kriegführenden Mächte stellt erneut sichtbar. Abdullah Öcalan beschreibt den aktuellen Zustand als einen „Dritten Weltkrieg“, in dem die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwommen sind. Der Schlüssel zur Lösung liegt in der Stärkung der gesellschaftlichen Kräfte im Iran, insbesondere der Frauen und der Jugend. Nur durch politische Selbstermächtigung und die Schaffung eines Modells der „Demokratischen Nation“ kann ein Frieden erreicht werden.

In einem Gastbeitrag wirbt Cudi Serhat dafür, sich nicht zum Spielball der imperialistischen Mächte machen zu lassen, sondern die Potenziale der Gesellschaft und der Völkerfreundschaft zu nutzen, um einen langfristigen Frieden zu sichern.

Cudi Serhat ist Mitglied der Presseabteilung der kurdischen Dachorganisation „Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans“ (KCK).

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Um einen möglichen dritten Weg heraus aus dem laufenden Krieg im Mittleren Osten, der sich in seiner aktuellen Ausformung vordergründig zwischen der Islamischen Republik Iran und dem Staat Israel abspielt, zu finden, einen Weg, bei dem man sich auf keine der kriegstreibenden Seiten stellt, sondern stattdessen sich in Richtung eines möglichen Friedens und der Koexistenz der Völker begibt, gilt es zunächst, ein gutes Verständnis über den Krieg an sich sowie die kriegstreibenden Kräfte zu gewinnen.

Der Zusammenbruch des Nationalstaatsmodells

Der kurdische Vorreiter Abdullah Öcalan kommt zu dem Schluss, dass der Zusammenbruch des Realsozialismus in den 1980er/90er Jahren entgegen der Behauptung von Historikern wie Francis Fukuyama nicht „das Ende der Geschichte” bedeutete, sondern vielmehr den Beginn einer neuen Epoche. Er markierte den Beginn einer Periode, die Öcalan als ‚Dritten Weltkrieg‘ bezeichnet. Der Dritte Weltkrieg unterscheidet sich grundlegend von den ersten beiden. Der Erste und Zweite Weltkrieg waren massive Kriege, die gleichzeitig und auf globaler Ebene geführt wurden, in denen die Fronten klar waren und infolgedessen Millionen von Menschen ihr Leben verloren, ganze Länder zerstört wurden und die Weltwirtschaft zusammenbrach. Die Realität des Krieges hat sich heute verändert. Ein Krieg, in dem zwei Armeen aufeinander zulaufen und kämpfen, bis nur noch eine übrig bleibt, gehört längst der Vergangenheit an. Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden sind unschärfer geworden, und die Kriegführenden beherrschen die Kunst, sich hinter Masken zu verstecken und zu verbergen, wer wirklich kämpft. Diese Tatsache macht den Dritten Weltkrieg jedoch nicht weniger schwerwiegend und umfassend; im Gegenteil, der Krieg, der nicht als solcher erkannt wird, ist der verheerendste.

Der 7. Oktober 2023: Ein Wendepunkt?

Der Dritte Weltkrieg im Mittleren Osten hat mit dem Angriff vom 7. Oktober 2023 eine neue Stufe erreicht. Die Hegemonialmächte hatten erkennen müssen, dass das Nationalstaatsmodell, das sie im Verlauf der letzten einhundert Jahre im Mittleren Osten aufzubauen suchten, gescheitert war. Die Grenzen, die auf dem Reißbrett gezogen worden waren, wurden Grund etlicher Kriege und Massaker, die geschaffenen Regime waren verantwortlich für Assimilation, Vertreibung und Genozide – kurz: Der Nationalstaat ist ein Faktor der ständigen Krise und Instabilität im Mittleren Osten.

Der Angriff vom 7. Oktober wurde als Anlass genommen, eine über Jahre geplante Phase des Neudesigns des Mittleren Ostens seitens der Hegemonialmächte einzuleiten. Schlüsselelement dabei ist das 2020 unterzeichnete Abraham-Abkommen. Es setzte dem über hundert Jahre alten Sykes-Picot-Abkommen, mit dem sich einst Großbritannien und Frankreich den Mittleren Osten aufgeteilt hatten, ein de-facto Ende. An Stelle eines Mittleren Ostens, der auf klassischen Nationalstaaten, die essentiell durch die beiden Regionalmächte Türkei und Iran getragen wurden, basiert, wurde nun eine neue Achse der Macht im Mittleren Osten geschaffen – eine Achse, die auf dem Bündnis zwischen dem israelischen und den arabischen Staaten basiert.

Die Neugestaltung des Mittleren Ostens

Der Staat Israel begann mit seinem genozidalen Angriff auf Hamas und Gaza, ging dann weiter gegen die Hizbollah im Libanon und Syrien vor, was letztlich dazu führte, dass heute der Gazastreifen im Prinzip von der Karte verschwunden ist, die Hamas zerschlagen ist, die komplette Führungsebene der Hizbollah ausgelöscht und ihre politisch-militärischen Strukturen ohne große Aussicht auf Erholung massiv geschwächt wurden und es in Syrien zu einem Regimewechsel kam. Nun liegt der Fokus auf dem Iran und auch die Lage im Irak, in der Türkei, auf Zypern und in Libyen wird weitläufig diskutiert.

Es ist ein Krieg, bei dem es nicht darum geht, Diktaturen und islamistische Kräfte zu stürzen (ein gutes Beispiel dafür ist Ahmed al-Scharaa, der als neuer Führer Syriens hingenommen wird), sondern es ist ein Krieg, bei dem es um eine Neuordnung des Mittleren Ostens geht. Es geht darum, Kontrollierbarkeit zu schaffen, Handels- und Energierouten, wobei der sogenannte ‚Wirtschaftskorridor Indien-Nahost-Europa‘ (IMEC) nur das bekannteste Beispiel sein dürfte, abzusichern, und allgemein den Fluss von Kapital und maximale Ausbeutung der Ressourcen zu garantieren. Dass nun der Iran in den Fokus der Angriffe geraten ist, liegt nicht daran, dass dieser plötzlich genug Uran für eine Atombombe angereichert habe und es drohe, dass er diese zeitnah einsetze, sondern vielmehr an dem Netzwerk und dem Einfluss, den sich der iranische Staat als einer der ältesten Staaten der Welt in der Region aufgebaut hat. Das ist die tatsächliche Gefahr, die die Hegemonialmächte im Iran erkennen.

Der dritte Weg: Demokratische Nation statt Nationalstaat

Die Frage ist nun die, welche Haltung die demokratischen Kräfte in Anbetracht der Lage beziehen können, bzw. was nun der dritte Weg im Iran ist – denn weder ist es vertretbar, sich hinter das Mullah-Regime zu stellen, das sein ideologisches System essentiell basierend auf der Unterdrückung der Gesellschaft und dabei allen voran der Frauen am Leben hält, noch ist es vertretbar, sich hinter das israelische Regime zu stellen, das nicht weniger repressiv gegen die eigene Bevölkerung vorgeht und seinen multiplen genozidalen Krieg weiter fortführt.

Öcalan hat vor einigen Jahren Folgendes geschrieben:

Für ein Land wie den Iran, das jederzeit zerfallen und sich spalten könnte, ist der Nationalstaat wie eine Atombombe, die unter der Oberfläche schlummert. […] Nur das Modell der ‚Demokratischen Nation‘ kann der iranischen Kultur und dem iranischen Volk, die sich der kapitalistischen Moderne gegenüber widerstandsfähig zeigen, zu einer gleichberechtigten, freien und demokratischen Welt verhelfen, die sie seit jeher anstreben. Nur sie kann […] einen ehrenhaften Frieden herbeiführen.

Der dritte Weg aus dem Chaos heraus stützt sich zwangsläufig auf Frieden und den Aufbau der demokratischen Gesellschaft. Die aktuellen Prozesse, die von Öcalan in der Türkei vorangetrieben werden, können dabei ein Vorbild für den Iran sein. Es geht nicht darum, als Kurdische Freiheitsbewegung die Waffen zu ergreifen und Ostkurdistan militärisch zu einem befreiten Gebiet zu machen. Selbstverständlich müssen die Menschen dazu befähigt werden, sich gegen den Staat, wenn nötig auch bewaffnet, verteidigen zu können, aber dies in diesem Moment zu erzwingen, würde auf lange Sicht in einem Chaos, großen Blutvergießen und Massakern seitens des iranischen Staates an der Bevölkerung enden. Ähnliche Erfahrungen hat das kurdische Volk 1991 in Südkurdistan (Irak) gemacht, als es Saddam Hussein und sein Regime bereits am Boden liegen sah, aufstand und schließlich Tausende ihr Leben ließen, als Saddam gegen sie vorging und Giftgas gegen die eigene Bevölkerung einsetzte.

Alternativen zum hegemonialen Einfluss

Der essentiell notwendige Schritt zum Aufbau einer demokratischen und friedlichen Republik im Iran, in der die kollektive Koexistenz aller Nationen und Glaubensrichtungen gewährleistet werden kann, ist die Stärkung der gesellschaftlichen Kräfte und die Organisierung, dabei allen voran die der Frauen und der Jugend. Dazu zählt, dass die verschiedenen bestehenden Kämpfe miteinander vernetzt werden, dass ein gemeinsames historisches Fundament geschaffen wird, Bildung vorangetrieben wird und auch Selbstverteidigungsmechanismen geschaffen werden. Es geht um politische Selbstermächtigung der Gesellschaft, um zu einer Kraft zu werden, die den geschwächten Staat zu Zugeständnissen zwingen kann – sei dies die Abschaffung der Todesstrafe, die Freilassung der politischen Gefangenen, die Anerkennung der Rechte aller Volks- und Glaubensgruppen im Land, kurz: die radikale Reform des Rechtssystems und der Republik.

Wenn der Staat sich dagegen blockiert, gilt es, daran zu arbeiten, ihn zu überkommen, eigene Modelle aufzubauen, die sich unter anderem aus den Erfahrungen der Kämpfe der anderen Teile Kurdistans speisen sowie auf den historischen Erfahrungen der Nationen basieren. Statt sich zu einem Spielball der Hegemonialmächte zu machen – weder von Iran, Russland oder China noch von Israel, den USA oder Großbritannien – gilt es, auf die Stärke der Gesellschaft und der Nationen des Irans zu setzen.

Foto: יורם שורק, Mehr News Agency, Avash Media, CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0, via Wikimedia Commons

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