Neuer Stadtteilladen von Berg Fidel Solidarisch
Wir, die Stadtteilgewerkschaft Berg Fidel Solidarisch, mieten seit dem 1. April 2025 einen Raum in unserem Viertel Berg Fidel in Münster und verfügen so erstmals seit unserer Gründung über eigene Räumlichkeiten. Auf Anfrage der lowerclass-Redaktion wollen wir in diesem Text darüber reflektieren: Wie sah unsere bisherige Arbeit ohne eigenen Raum aus? Warum kommt dieser Schritt „so spät“? Und vor allem: welche Veränderungen sehen wir darin für unsere zukünftige Praxis?
Wir beobachten seit einiger Zeit ein wieder wachsendes Interesse an revolutionärer Stadtteilorganisierung. Im Zuge des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes1, aber auch abseits davon, haben sich viele neue Stadtteilgewerkschaften gegründet. Wir hoffen, dass unser Text so auch viele Genoss*innen erreichen kann, für die gerade am Anfang die Frage nach eigenen Räumlichkeiten vermutlich eine zentrale Frage ist.
Was ist Berg Fidel Solidarisch?
Bevor wir zu diesen Fragen kommen, kurz zu uns: Im Zuge einer breiteren Strategiediskussion innerhalb der radikalen Linken in der BRD haben sich 2018 eine Handvoll Genoss*innen zusammengefunden, um ein Praxis-Projekt der revolutionären Stadtteilarbeit aufzubauen. Ausgangspunkt war damals eine Unzufriedenheit mit der eigenen (subkulturellen) politischen Praxis, durch die wir uns zunehmend selbst von der Gesellschaft abgegrenzt haben und ein „Kontakt nach außen“ hauptsächlich in größeren Mobilisierungen bestand. Was uns – und vielen Anderen – fehlte, war eine Perspektive auf Gesellschaftsveränderung, welche notwendigerweise einen größeren Teil der Gesellschaft/Klasse als Akteur miteinbeziehen muss. Vom Aufbau einer Basisarbeit erhofften wir uns also zunächst erstmal überhaupt einen Kontakt „zur Gesellschaft“ zu bekommen, indem wir an konkreten Alltagsproblemen der Menschen ansetzen und daran kollektive Organisierung entwickeln. So sollte linke Politik wieder stärker an die Lebensrealität der Unterdrückten angeknüpft werden und ein Klassenbewusstsein gestärkt werden. Wir wollten spürbar machen: „Wir sind nicht alleine mit unseren Problemen, wir können gemeinsam etwas dagegen tun und kämpfen lohnt sich!“
Wir haben vor diesem Hintergrund über die letzten Jahre verschiedene konkrete Kämpfe geführt. Am zentralsten ist dabei ein konstanter Kampf gegen den Immobilienkonzern LEG, aber auch „kleinere“ Kämpfe gegen Müll im Stadtteil, Mobilisierungen gegen die Preissteigerungen oder die Bürgergeld-Sanktionen. Im Rahmen unserer solidarischen Beratung kämpfen wir seit zwei Jahren auch für individuelle Rechte unserer Mitglieder gegenüber dem Vermieter oder dem Jobcenter. Daneben setzen wir einen Schwerpunkt auf soziale Aktivitäten und veranstalten regelmäßig offene Cafés, Küchen für alle, oder ein jährliches Stadtteilfest am 1. Mai. Ein weiteres Standbein ist der Bereich der politischen Bildung, welche regelmäßig in verschiedenen Formaten und für unterschiedliche Wissensstände stattfindet und welche die größeren, systemischen Zusammenhänge hinter unseren Alltagsproblemen und Erfahrungen thematisiert.
Unser Ziel ist es, durch all diese Aktivitäten mehr und mehr Menschen (vor allem aus Berg Fidel, aber auch darüber hinaus) in die gemeinsame Organisierung miteinzubeziehen – und so eine wachsende Basisorganisation von unten aufzubauen, die im Viertel und im Alltag der Menschen verankert ist. Unser mittelfristiges Ziel ist der Aufbau einer überregionalen Organisierten Sozialen Bewegung (OSB), d.h. die Verbindung vieler lokaler Stadtteilgewerkschaften zu einer gemeinsamen Organisationsstruktur.2
Einordnung unserer Perspektive auf die Organisation
Berg Fidel Solidarisch ist mittlerweile eine relativ breite Organisierung, in der Menschen aus verschiedenen Motivationen, und auch mit diversen politischen Hintergründen zusammenkommen: vormals nicht politisch aktive Anwohner*innen, alte Gewerkschaftler*innen, linke Aktivist*innen aus anderen Stadtteilen, und so weiter. Das macht es nicht so leicht, einen gemeinsamen Text über unser Verständnis von Basisorganisierung und der Rolle eigener Räume darin zu schreiben. Der Austausch unserer verschiedenen Perspektiven ist Teil unserer Praxis, mehr als dass die Organisierung auf schon gemeinsamen Standpunkten zu allen möglichen Themen beruht. Wir als Schreibende dieses Textes wollen uns deshalb kurz selbst vorstellen, damit ihr wisst, aus welcher Sicht wir unsere Gedanken entwickelt haben:
Wir – drei aktive Mitglieder von Berg Fidel Solidarisch – schreiben diesen Text aus Perspektive ehemals linksradikaler Aktivist*innen, die im Zuge des Aufbaus von Berg Fidel Solidarisch bewusst in den Stadtteil Berg Fidel gezogen sind. Für uns war damals klar, dass eine Verankerung linksradikaler Politik im Alltag der Menschen auch eine Verankerung von uns als Aktivist*innen im Alltag dieser Menschen und einen kontinuierlichen Beziehungsaufbau mit unseren Nachbar*innen bedeuten muss. Wir hielten es dafür für sinnvoll, die Trennung von Aktivismus und Leben aufzuheben, indem wir auch unseren Wohnort an den Ort der politischen Organisierung verlagern. Und natürlich kamen auch pragmatische Gründe hinzu, wie dass wir nicht immer durch die halbe Stadt zu unseren Treffen fahren müssen.
Unsere Perspektive ist daher eine besondere und nicht immer „Organisationsmeinung“. Aber natürlich entwickeln wir unsere Gedanken im Kontext der gemeinsamen Organisierung, sodass die folgende Reflexion auch das Resultat unserer kollektiven Praxis der letzten Jahre ist.
Was bedeutet für uns Organisierung von unten?
Die Wurzeln unserer Organisation liegen also in Debatten der radikalen Linken um eine stärkere Verankerung linksradikaler Politik im Alltag der Unterdrückten. Wir sind mit der Überzeugung gestartet, dass wir für das Ziel einer möglichst klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft einen Prozess gestalten müssen, der von einem zunehmenden Teil der Gesellschaft selbst mitgetragen wird. Aus der Realität einer abgeschotteten linken Szene erschien uns das als ein Ziel, für welches wir gerade in der BRD kaum auf bisherige Erfahrungen aufbauen können, bzw. entsprechende Erfahrungen verloren gegangen sind, da es kaum generationenübergreifende Strukturen gab.
Die Entwicklung revolutionärer Stadtteilarbeit begreifen wir damit als einen Suchprozess nach der Möglichkeit revolutionärer Organisierung von unten – oder konkreter, nach einem Modell der Basisorganisierung in der BRD, das es schafft bisherige Grenzen linksradikaler Politik zu durchbrechen, aus den üblichen Szene-Räumen heraus zu treten und „normale Menschen“ in einen gemeinsamen (revolutionären) Organisierungsprozess zu bringen. Das heißt: wir sind weder mit einer bestehenden Organisationsstruktur in unsere Praxis gestartet, noch mit einer ausgereiften Idee, wie eine solche Praxis und Organisierung konkret aussehen können. Das verstehen wir bis heute nicht als Schwäche. Wir denken nicht, dass ein bestehendes Konzept nur noch richtig umgesetzt werden muss, sondern dass wir die Art und Weise, wie wir linke und revolutionäre Politik denken, anhand unserer konkreten Bedingungen und neuer Erfahrungen in der Praxis grundsätzlich hinterfragen und neu- bzw. weiterentwickeln müssen. Wir hoffen, dazu auch durch unser Schreiben einen Teil beitragen zu können.
Diese Herangehensweise galt auch für den Beginn unserer Praxis: Unsere ersten Schritte bestanden nicht darin, eine feste Struktur aufzubauen oder klare Forderungen zu proklamieren, sondern vielmehr darin, mit den Menschen vor Ort in den Kontakt zu gehen. Deshalb begannen unsere Bestrebungen nicht mit der Suche eines Raumes, den wir mit politischen Veranstaltungen bespielen würden, sondern vor allem auf der Straße, an Haustüren oder in Wohnzimmern. In Form von „militanten Untersuchungen“3 ging es darum, dass wir zunächst etwas über den Stadtteil und die Menschen lernen, um später vielleicht einen sinnvollen Vorschlag einer gemeinsamen Organisierung machen zu können. Die Richtung unserer Arbeit war dabei also sehr klar „zu den Leuten hin“, um sichtbar im Viertel zu werden und direkte Kontakte zu Anwohner*innen aufzubauen. Es ging uns so auch darum, unsere Position als „Zugezogen“ oder „Von-Außen-Kommend“ zunehmend aufzulösen und uns stattdessen erstmal in das einzufügen, was da ist. Eine offizielle „Organisation“ wollten wir dann erst gemeinsam mit einer beträchtlichen Zahl von Anwohner*innen gründen und diese so direkt im Viertel verankern, anstatt Anwohner*innen zu unserer bestehenden Initiative dazuzuholen.
„Sich Einfügen“ – Haltung von Initiativkräften

Aus dieser Herangehensweise ist in unserer Anfangszeit auch ein bestimmtes Selbstverständnis von uns als Initiativkräften4 einer gemeinsamen Basisorganisation entstanden: Es sind nicht wir, die auf alle Fragen eine Antwort haben. Und das streben wir auch nicht an. Vielmehr ist dieses Wissen um unsere eigene begrenzte Perspektive immer wieder der Anlass, in den Kontakt und Dialog mit möglichst vielen anderen Menschen zu treten. Unsere Treffen, Versammlungen, Aktionen etc. sind daher auch immer gewissermaßen Austauschräume, in denen wir natürlich eine gewisse politische Botschaft vermitteln wollen, aber gleichzeitig durch Fragen und andere Meinungen Raum lassen, unsere Vorschläge zu hinterfragen oder eigene einzubringen. Im Laufe der Zeit haben wir gemerkt, dass wir für eine solche Haltung und zugunsten von Geduld für die Politisierungsprozesse Anderer unsere gewohnte Sozialisierung als Aktivist*innen hinter uns lassen müssen. Wir können nur Beziehungen auf Augenhöhe entwickeln, wenn wir das Selbstbewusstsein aufgeben, dass wir die „richtige“ oder „aufgeklärte“ Meinung hätten, von der wir nur noch Viele überzeugen müssen, oder dass wir die besseren Menschen seien.
Das Wohnen im Stadtteil hilft uns dabei diese Haltung zu kultivieren: Wir sind näher an den Problemen der Menschen, wir teilen einige Probleme, die das Leben in einem armen Stadtteil mit sich bringt, wir nehmen unsere eigenen Alltagskämpfe bewusster wahr und bringen sie in die gemeinsame Organisierung ein. Man könnte sagen, wir haben damals „die Klasse“ gesucht, aber im Laufe der Zeit vielmehr verstanden, was es heißt, sich zunächst einmal selbst als Teil dieser Klasse zu verstehen. Damit sind für uns auch unsere eigenen Kämpfe in den Fokus gerückt, die oben angesprochene Trennung von Aktivismus und eigenem Leben hat sich aufgelöst. Das stellt unseren gewohnten linksradikalen Aktivismus auf den Kopf – und wir halten das für notwendig. Wir betonen diesen Aspekt des Selbstverständnis in diesem Text – und in diesem Medium –, weil er unserer Meinung nach insbesondere für die Rolle und Subjektivierung linksradikaler Aktivist*innen in der Basisorganisierung von entscheidender Bedeutung ist. Es geht darum, wie wir innerhalb einer Basisorganisation unsere Rolle als Initiativkräfte sehen und welche Haltung damit einhergeht.
Auf der anderen Seite sehen wir jedoch bei manchen Ansätzen revolutionärer Stadtteilarbeit auch Beispiele für einen Basismus, bei dem davon ausgegangen wird, dass „die Nachbarschaft“ bereits alles weiß und es entsprechend nur noch darum geht, Menschen zur Selbstorganisation einzuladen. Daraus resultiert dann teils eine große Zurückhaltung, selbst die eigene Meinung und politische Perspektive zu äußern, ein „Verheimlichen“ der eigenen revolutionären Überzeugung, und letztlich die Unfähigkeit ein politisches Programm der Organisation zu entwickeln. Das ist nicht das, was wir meinen! Im Gegenteil: wir müssen klar (und wahrscheinlich noch klarer) als Revolutionär*innen in Beziehung mit den Menschen treten. Das heißt, unsere Überzeugung und unsere Positionen müssen Teil der Beziehungen sein, die wir aufbauen. Und auch als Organisation stehen wir für bestimmte Prinzipien und entwickeln eine bestimmte politische Richtung, die wir für richtig halten. Dieses Selbstbewusstsein braucht es, damit gut gemeinte Projekte nicht allzu schnell in eine Beliebigkeit abdriften oder gar nicht mehr als linke, revolutionäre Projekte zu erkennen sind. Wir müssen einerseits selbstbewusst mit unserer politischen Perspektive umgehen und gleichzeitig undogmatisch, offen und suchend bleiben.
Suche nach kollektiven Lösungen – Gemeinsam Raum einnehmen
Die Entscheidung für eine Verankerung unserer Politik im Rahmen eines Stadtteils war einerseits beeinflusst von der Annahme, dass in einem Stadtteil verschiedenste Menschen, Rollen und Identitäten (Alte, Junge, Eltern, Lohnarbeitende, Rentner*innen, Erwerbslose, Migrant*innen, usw.) und damit diverse Erfahrungen und Probleme zusammenkommen, was es uns ermöglicht und abverlangt, eine möglichst ganzheitliche politische Praxis zu entwickeln. Andererseits haben wir in der Nachbarschaft aufgrund der räumlichen Nähe zwischen den Menschen eine größeres Potential für kontinuierlichere Organisierung gesehen, da der Beziehungsaufbau erleichtert wird und eine gewisse Identifikation mit dem eigenen Viertel auch ein Verbundenheitsgefühl mit der Stadtteilorganisation herstellen kann. Und drittens spielen für uns arme Stadtteile eine entscheidende Rolle, da hier ein Klassenstandpunkt und alltägliche Probleme „mit dem System“ viel unmittelbarer vorhanden sind. Organisierung im Sinne einer revolutionären Basisorganisation bedeutet so für uns, nach kollektiven Lösungen für unsere Probleme zu suchen und so Wege zu finden, unsere Interessen durchzusetzen – seien es individuelle Kämpfe, Probleme im Stadtteil, oder Grenzen, an die wir mit unserer Organisierung stoßen. Das Prinzip der kollektiven Herangehensweise bleibt das gleiche.
Organisierung im Stadtteil bedeutet für uns aber ebenso, zunehmend den (öffentlichen) Raum unseres Stadtteils zu prägen und einzunehmen. „Raumnahme“ in diesem Sinne findet temporär bei unseren Aktionen, Infoständen, Treffen draußen, Park-Festen oder Versammlungen statt. Orte, die wir in diesem Sinne – auch aus der Not zu wenig verfügbarer Räume heraus – häufig nutzen, sind Parks, die Straße oder zentrale Plätze wie z.B. vorm Supermarkt, Haustüren und Wohnungen, ein Bürgerzentrum, ein Jugendhaus oder Cafés. Aber auch dauerhaft „nehmen wir Raum ein“: durch eine Aneignung in Form von Wandbildern oder neuerdings die Übernahme und Gestaltung eigener Räumlichkeiten im Zentrum des Viertels.

Gleichzeitig haben wir auch den Anspruch, dass sich unsere eigenen „Räume“ im Sinne einer gemeinsamen Praxis auch nach innen auszeichnen durch eine solidarische Kultur, bestimmte Rituale und gelebte Prinzipien der Solidarität, die unsere Räume von denen der offiziellen Institutionen unterscheiden. Somit hat es eine hohe Bedeutung, dass uns Anwohner*innen immer wieder auf der Straße bei Aktionen erleben sowie immer wieder unsere Symbole, Farben, Transparente sehen. Eine kontinuierliche Sichtbarkeit und Präsenz spiegelt dabei unsere Ernsthaftigkeit ebenso wie die Langfristigkeit unserer politischen Perspektive wider und ist Ausdruck einer zunehmenden Verankerung unserer Organisierung im Viertel.
Berg Fidel als organisierungsfeindlicher Raum
Dass wir unsere Praxis so lange ohne eigenen Raum betrieben haben, liegt – neben der anfänglichen Orientierung auf einen Beziehungsaufbau im Viertel – vor allem auch daran, dass in Berg Fidel kaum Räume existieren. In dem Viertel, das in den 70ern als Planstadtteil hochgezogen wurde und in dem nun knapp 7000 Menschen leben, gibt es neben städtischem Jugendzentrum, einer Schule und Kirche nur ca. zehn Ladenlokale (inklusive Friseur, Musikschule und Post), die überhaupt vermietet werden. Öffentliche Gemeinschaftsräume für die Anwohner*innen oder dergleichen gibt es nicht. Die Architektur ist schlicht nicht darauf ausgelegt, dass die Menschen in eigenen, gemeinschaftlichen Räumen zusammenkommen. Sie ist damit in sich schon gewissermaßen organisierungsfeindlich. In der Raumvergabe und -nutzung vorhandener Räume zeigen sich zudem bestehende Klassenunterschiede: quasi alle nutzbaren Räume sind geprägt von langjähriger Sozialarbeit, durch die sich bestimmte Netzwerke gebildet haben. Die Kontrolle über Raumvergabe und -nutzung läuft so immer direkt oder indirekt über etablierte Institutionen – eigene Räume der Leute „von unten“ existieren abseits davon nicht.
Dass wir so lange ohne eigenen Raum arbeiten mussten, hat uns so aber gleichzeitig in eine geteilte Problemlage mit einem Großteil der Anwohner*innen gebracht. Für unsere Abgrenzung von sozialarbeiterischen und städtischen Institutionen war das im Sinne eines Klassenstandpunkts und einer „Einfügung“ in das Viertel auch von Vorteil: niemand hat einfach so eigene Räume zur Verfügung. Das hat das Thema Raum für uns auch zu einem potenziell gemeinsamen Kampffeld gemacht.
Eigener (Frei-)Raum als Erfolg!

Dass wir jetzt einen eigenen Raum mieten, nachdem wir jahrelang durch organisatorische Arbeit, den Aufbau unserer Organisationsstruktur und ein breites Netzwerk von Anwohner*innen darauf hingearbeitet haben, wird so zu einem Erfolg von kollektivem Kampf und langfristiger Organisierung! Dazu eine kurze Anekdote: der Plan, einen eigenen Raum zu mieten, hat auf einer unserer ersten Vollversammlungen bei vielen unserer Mitglieder und Nachbar*innen zunächst Skepsis ausgelöst. Zu unvorstellbar war es, dass wir das nötige Geld bezahlen können, die nötige Bürokratie erledigen können, die nötigen Gespräche mit Vermietern und Stadt führen, etc. Heute sind es genau diejenigen Mitglieder, die damals große Skepsis hatten, die sich am stärksten mit dem Raum identifizieren und es als eine gemeinsame Errungenschaft betrachten, die wir nun gemeinsam verwalten, beleben und auch weiterhin darum kämpfen werden.
Aber auch für die Weiterentwicklung unserer Organisierung ist ein eigener Raum mittlerweile von entscheidender Bedeutung. Zum Beispiel: Raummangel hat lange Zeit dazu geführt, dass wir einen Großteil unserer Materialien in Privatwohnungen lagern mussten. Einzelne Leute von uns hatten so alleine dadurch eine zentrale Rolle. Im Sinne einer möglichst kollektiven Organisierung, in der wir Macht möglichst kollektiv verteilen wollen, und immer mehr Mitglieder in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen, eigene Initiativen voranzutreiben, usw., war das lange Zeit eine große Hürde.
Die Nutzung „fremder“ Räumlichkeiten hat es uns zudem immer schwer gemacht, nach außen hin als eigenständige Organisation wahrgenommen zu werden und den Unterschied und die Unabhängigkeit unseres Ansatzes zu klassischer Sozialarbeit deutlich zu machen. Oft wurden wir in diesen Räumen als Kolleg*innen der bekannten Sozialarbeiter*innen wahrgenommen – ein Verständnis über unseren kämpferischen und kollektiven Ansatz konnte sich so erst langsam entwickeln. Von einem eigenen Raum erhoffen wir uns nun, dass unsere einzelnen Angebote viel unmittelbarer mit uns als Organisation und unserem politischen Profil und Ansatz verknüpft werden können. Wir werden versuchen, dass sich in der Gestaltung des Raumes auch unsere eigene Organisationsgeschichte wiederfindet: ähnlich wie unsere Wandbilder wird der Raum so zu einem weiteren „Symbol“ von Berg Fidel Solidarisch, welches deutlich macht, was wir mit gemeinsamer Organisierung schaffen können.
Gleichzeitig soll der Raum ganz praktisch dazu beitragen, dass sich weitere Menschen leichter und zugänglicher mit Berg Fidel Solidarisch identifizieren und sich als potenzielle Mitstreiter*innen angesprochen fühlen. Es ist Teil unseres Ansatzes, dass unsere Organisation nicht dauerhaft von einzelnen Personen abhängen soll, sondern sich immer mehr Menschen als aktiver Teil der Organisation begreifen und auch entsprechende Verantwortung übernehmen. Mit einem eigenen Raum wollen wir damit auch eine Beziehungsarbeit, die zuvor viel über einzelne Kontakte lief, in eine kollektivere Struktur überführen, in der die Mitgliedschaft bei Berg Fidel Solidarisch zum gemeinsamen Bezugspunkt wird. Nicht zuletzt bietet der leere, frei gestaltbare Raum nun auch viel mehr Möglichkeiten für Mitglieder und Anwohner*innen, selbst aktiv zu werden, eigene Fähigkeiten einzubringen oder eigene Ideen zu entwickeln.
Die „Gefahr“: sich einrichten, verwalten, verstauben
Indem wir den Raum als Resultat und Bestandteil unseres Kampfes betrachten, sehen wir aber auch die Gefahr, dass solche materiellen Errungenschaften mit unserer bisherigen Herangehensweise an Organisierung in Konflikt geraten können. Wie in jeder anderen Aktion auch, lauert gerade auch in einem eigenen Raum die Gefahr, ein aktivistisches Verhältnis im Sinne eines Wir-Die-Verhältnisses zu reproduzieren. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir es schaffen, dass der Raum auch so wahrgenommen wird, wie wir uns das im Sinne unseres Ansatzes denken: hoffnungsvoll kämpferisch und vor allem offen, einladend zum gemeinsamen Kampf. Schließlich bringt ein eigener Raum auch immer gewisse Notwendigkeiten der Reproduktion mit sich, sodass die Tendenz besteht statisch zu werden und sich zu viele Gedanken darüber zu machen, wie man nur die Leute in den eigenen Raum bekommt.
Es wird bewusste Arbeit bedeuten, immer wieder den Unterschied zu den städtischen und sozialarbeiterischen Räumen deutlich zu machen: Wir sind keine bezahlten Leute und sind für das Funktionieren auf viele Hände und Köpfe angewiesen. Unser Ansatz ist es nicht, dass die Leute einfach zu uns kommen, sondern dass wir weiterhin aktiv auf Nachbar*innen zugehen und sie einladen, sich mit uns zu organisieren, sich als gleichwertigen Teil zu begreifen und selbst Verantwortung für die gemeinsame Organisation zu übernehmen. Den Raum mit uns zu gestalten, zu pflegen, zu beleben oder einfach mal aus Interesse reinzuschauen, kann dabei ein niedrigschwelliger Einstieg sein.
Fazit
Ein eigener Raum ist nicht der Startpunkt unserer Organisierung gewesen und noch weniger wird er ein Endpunkt sein. Er ist kein Selbstzweck, sondern verbessert als Ergebnis unserer Organisierung die Ausgangsbedingung für unsere kommenden Kämpfe. Hier werden wir es in Zukunft bei unseren Beratungen, Cafés, Bildungen und Aktiventreffen, beim gemeinsamen Essen und Basteln, beim Reflektieren und Vorbereiten, beim Kennenlernen, Zuhören und Erzählen gemütlicher haben als bisher. Gründe genug, weiterhin ungemütlich zu bleiben, haben wir allemal, deshalb werden wir uns weiter organisieren. Ein eigener Raum ermöglicht also nicht erst gemeinsame Organisierung, sondern andersherum: gemeinsame Organisierung beginnt mit Beziehungsaufbau, der in allen möglichen Räumen stattfinden kann. Gemeinsame und langfristige Organisierung eröffnet uns mit der Zeit mehr und mehr „Räume“ und Freiräume. Auf dieser Organisierung mit immer mehr Menschen wird auch weiterhin unser Fokus liegen – in unserem Laden, aber auch in unseren Wohnzimmern, auf den Plätzen oder in der Tiefgarage.

Spenden, die uns helfen laufende Kosten sowie Einrichtung unseres neuen Raumes unabhängig zu finanzieren, können gerne an folgendes Konto überwiesen werden:
Empfänger: Nachbarschaftstreff Berg Fidel e.V.
IBAN: DE37 8306 5408 0005 2110 93
1 Der „Beratung-Organisierungs-Ansatz“ (kurz: BOA) wurde im April 2023 von unserer Schwester-Organisation Solidarisch in Gröpelingen (Bremen) verschriftlicht. Er fasst deren Praxis zusammen, die ausgehend von einer Beratungsstruktur die gemeinsame Organisierung entwickelt. Seitdem orientieren sich viele neugegründete Stadtteilgewerkschaften an diesem Konzept. Auch wir haben in diesem Zusammenhang begonnen, als Ergänzung zu unserer bisherigen Praxis eigene Beratungsstrukturen aufzubauen.
Den Text dazu findet ihr hier: https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2023/04/BOA_SiG.pdf
2 Mitte 2021 haben wir unsere bisherigen Überlegungen dazu in einem gemeinsamen Text mit Solidarisch in Gröpelingen formuliert: https://www.untergrund-blättle.ch/politik/theorie/stadtteilbasisbewegung-stadtteilarbeit-die-konstruktion-einer-alternative-6633.html
3 Das Konzept der „Militanten Untersuchung“ geht zurück auf einen von Karl Marx entwickelten „Fragebogen für Arbeiter*innen“, der zur Selbstreflektion der eigenen Lage anregen sollte. Ende der 1960er Jahre entwickelten verschiedene politische Gruppen in Italien diese Methode weiter als Werkzeug zur Betriebsintervention. Zu Beginn unserer Stadtteilpraxis haben wir eigene Fragebögen erstellt, die Anlass waren, mit den Anwohner*innen ins Gespräch zu kommen. Im Rahmen dieser militanten Untersuchungen betrachten wir unsere Nachbar*innen nicht als von uns getrennten Forschungsgegenstand, sondern als Subjekte, mit denen wir gemeinsam lernen und kämpfen wollen. Ausgehend von den alltäglichen Erfahrungen suchen wir nach gemeinsamen Anknüpfungspunkten.
4 Initiativkräfte beschreiben eine Rolle in unserer Organisierung als Stadtteilgewerkschaft: In Stadtteilgewerkschaften gibt es Arbeitsteilung und unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten – je nach Ressourcen und politischer Überzeugung. Initiativkräfte sind diejenigen Mitglieder, die sich sowohl an den Aktivitäten der Organisation beteiligen, als auch darüber hinaus Verantwortung für die Reflektion und politische Weiterentwicklung der Gesamt-Organisation übernehmen. Die Rolle der Initiativkräfte entwickelt sich fortlaufend im Zusammenspiel mit der Entwicklung der Gesamtorganisation.