„Die Bedingungen tun nichts, aber die Tat wäre ohne sie nicht möglich.“
– Peter Brückner
Ein Kommentar von Götz Eisenberg
Man kommt mit dem Kommentieren von Gewalttaten kaum nach. Bei einer Messerattacke in einem Park in Aschaffenburg sind nach ersten Erkenntnissen der Polizei zwei Personen getötet worden. Bei ihnen handelt es sich um einen zwei Jahre alten Jungen, marokkanischer Abstammung und einen 41-jährigen Deutschen, der offenbar eingreifen und den Jungen schützen wollte. Drei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Darunter ein zweijähriges, syrisches Mädchen. Der Täter soll ein 28-jähriger Afghane sein und im November 2022 nach Deutschland eingereist sein. Anfang 2023 stellte er einen Asylantrag. Er sei bereits mehrfach auffällig geworden und gilt als psychisch auffällig oder krank. Nach Angaben des bayerischen Innenministers Herrmann war er nach aggressiven Akten schon mehrfach in Gewahrsam und psychiatrischer Behandlung, wurde aber jeweils rasch wieder auf freien Fuß gesetzt. Nach Angaben der Ermittlungsbehörden hat der mutmaßliche Täter „unvermittelt und gezielt“ eine Kindergartengruppe mit einem Küchenmesser attackiert. Er konnte kurze Zeit später festgenommen werden.
Georges Devereux sprach in seinem bahnbrechenden Buch „Normal und anormal“, das 1982 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist, von „Modellen des Fehlverhaltens“, die sich in der Folge solcher Ereignisse herausbilden. Aus diesem Fundus können tatgeneigte Menschen sich bedienen, wenn sie auf der Suche nach einem Skript für die Entäußerung von Hass und einer Handlungsanleitung sind. Es ist, als würde die Gesellschaft sagen: „Wir raten dir ab, aber wenn du es dennoch tun willst oder musst, kannst du es so und so machen.“ Automobil und Messer scheinen wegen ihrer allgemeinen Verfügbarkeit die zur Zeit bevorzugten Waffen zu sein. Küchenmesser, wie sie in Aschaffenburg zum Einsatz gekommen sind, sind überall erhältlich und von jedem leicht zu handhaben. Messer sind deswegen, wie der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky mit bitterer Ironie bemerkte, „die demokratische Waffe par excellence“. Allerdings begrenzt das Messer als Waffe auch die Zahl der potenziellen Opfer. Es werden bei einer Messerattacke selten mehr als zwei oder drei Menschen getötet. Für die „Lumpenproletarer der Aufmerksamkeitsökonomie“, wie Georg Franck die Verlierer des „mentalen Kapitalismus“ genannt hat, sind Messer die probaten Mittel, um sich Geltung und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Leider scheint es deshalb so zu sein, dass eine Messerattacke andere nach sich zieht. Jeder Bericht über eine durchgeführte Messerattacke macht gewissermaßen Werbung für dieses Delikt und sorgt für seine weitere Verbreitung. In Zeiten wie den unseren ist mit medialer Zurückhaltung allerdings nicht zu rechnen. Im Wahlkampf weist jeder allen anderen die Schuld zu, und die Parteien überbieten sich mit martialischen Parolen und Ankündigungen, hart durchgreifen zu wollen. Besonnenheit hat gegenwärtig keine Chance. Innere Sicherheit ist seit eh und je die Domäne der politischen Rechten, und so ist damit zu rechnen, dass die Taten der letzten Zeit AfD und CDU zugute kommen.
Wer immer sich durch die Kälte des neoliberalen Zeitalters hindurch einen Rest von Gewissen bewahrt hat, wird sich nach jedem dieser bedauerlichen Fälle Fragen wie diese stellen: Wie ist die Lage eines jungen Mannes, der als Flüchtling ins Land kommt und nun in der unterfränkischen Provinz gelandet ist? Welche Traumata haben ihn auf seiner Fluch begleitet? Hat er Afghanistan im Kopf, im Körper und der Seele? Was fühlt er, was hofft er, wonach sehnt er sich? Hat er Heimweh? Was erwartet er vom Leben und was das Leben von ihm? Ist er einsam und verzweifelt? Er sieht all die Dinge, die er gern besäße, aber sie sind durch Schaufensterglas von ihm getrennt und preislich weit außerhalb seiner Möglichkeiten. Deutschland erscheint als ein Land, in dem es alles gibt, aber nicht für ihn und Seinesgleichen. Die Migranten leben im Zustand einer permanenten Frustration: Sie werden tagein-tagaus mit Bildern des Luxus vollgestopft und gleichzeitig verwehrt man ihnen die Mittel, um die Gegenstände auf legalem Weg erwerben zu können. Man könnte also am Ende auf die Idee verfallen, dass die Tat von Aschaffenburg Ausdruck von Verzweiflung war und nicht einer durch und durch bösen Gesinnung. „Die sind eben böse“, sagen die Leute. Sie positionieren die Täter außerhalb des Menschlichen und rufen nach vermehrten Abschiebungen. Eine rechtsstaatlich verfasste, demokratische Gesellschaft sollte sich an eine Bemerkung Goethes erinnern: „Wenn ich von den Verbrechen lese, so habe ich die Empfindung, dass ich fähig wäre, ein jegliches davon selbst zu begehen.“ Also: Was immer einer getan haben mag, er ist und bleibt ein Mensch.
Man bedient sich von Seiten der Herrschenden dieser Taten, um die innere Sicherheit weiter zu militarisieren und den verunsicherten Menschen einen Sündenbock zu präsentieren, auf den sich die allgemeine Malaise verschieben lässt. Die Bedingungen, die Migranten hierzulande antreffen, begehen und rechtfertigen keinen Mord, aber ohne sie wären Taten wie die, die nun zu recht beklagt werden, nicht möglich. Das sollten wir bei aller Empörung nicht vergessen.
Foto:Mahnwache (Illingen) 2024-02-16 (11),Simon Mannweiler, CC-BY-SA-4.0 by wikimedia