Das Kapital läuft Amok

22. Januar 2025

Fast auf den Tag acht Jahre nach dem Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz raste Taleb al-A. mit einem SUV über den Weihnachtsmarkt von Magdeburg, tötete und verletzte viele Menschen. Der rechte Pöbel bei X, Telegram und Co. flippte aus. Doch diesmal war alles ganz anders. Der Täter war einer von ihnen – kein Islamist, sondern ein erklärter Feind des Islam, Sympathisant der AfD und Querulant mit Wut im Bauch. Die Amokfahrt von Magdeburg und ihr Echo sind symptomatisch für die um sich greifende Verwirrung. Die Ereignisse erscheinen wie ein Abbild der Verhältnisse. Nichts passt mehr zusammen, nichts fügt sich. Die zerstörerische Dynamik des Kapitalismus scheint eine neue Stufe erreicht zu haben.


Von Kristian Stemmler

Ein X für ein U vormachen, das ist eine schöne deutsche Redewendung, mit der das bewusste Täuschen eines oder mehrerer Mitmenschen umschrieben wird. US-Milliardär Elon Musk dürfte sie nicht gekannt haben, als er beschloss, den Kurznachrichtendienst Twitter, den er sich im Herbst 2022 einverleibt hatte, in X umzubenennen. Aber genau das geschieht dort seitdem in noch größerem Ausmaß als zuvor: Den Usern wird ein X für ein U vorgemacht, sie werden mit Desinformation, neudeutsch Fake News, überschwemmt, mit Hass und rechter Hetze zugedeckt – und nicht nur dort. Auch bei Telegram, Facebook und Co. sind die Schleusen für den braunen Dreck weit geöffnet.

Am Abend des 20. Dezember 2024 zeigte sich das wieder einmal. Nur Minuten nachdem die Eilmeldungen von einem „Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg“ über den Sender gegangen waren, schoss der rechte Mob bei X, Telegram und Co. bereits aus allen Rohren, flutete das Netz mit Falschmeldungen und Hetze. Da war die Rede von fünf Tätern, einer auf dem Weihnachtsmarkt deponierten Bombe, 34 Toten et cetera. Der Neonazi Martin Sellner, Führungsfigur der österreichischen Identitären Bewegung, behauptete bei X und Telegram, der Attentäter sei ein Syrer, ein Islamist und im Zuge der „Flüchtlingskrise“ in den Jahren 2015/16 nach Deutschland gekommen. Alles falsch, wie sich wenig später herausstellte.

Diesmal war alles ganz anders. Der Täter kam aus Saudi-Arabien, war 2006 nach Deutschland eingereist, hatte hier Asyl erhalten und arbeitete als Psychiater im Maßregelvollzug mit suchtkranken Straftätern. Er hatte sich vom Islam losgesagt, bezeichnete sich in einem Interview mit der FAZ im Juni 2019 gar als „aggressivster Kritiker des Islams in der Geschichte“. Im Internet äußerte er mehrfach Sympathien für die AfD und hing Verschwörungsideen an, vor allem der von einer angeblichen Islamisierung Deutschlands und Europas.

Betrachtet man seine Aktivitäten in Netzwerken wie X entspricht A. eher dem Bild des reaktionären deutschen Wutbürgers und Querulanten und sicher nicht dem Klischee vom arabischem Islamisten. Das brachte nicht nur den rechten Pöbel ins Schleudern, wenn auch nur kurz, denn der Mob ließ sich nicht davon abbringen, dass die Tat letztlich eine islamistische gewesen sei. Aber auch bürgerliche Politiker und Medien waren verwirrt und mussten ein wenig suchen, bevor sie ein passendes Erklärungsmuster für die Tat gefunden hatten.

Geradezu dankbar wurde der Hinweis der Ermittlungsbehörden aufgenommen, Taleb al-A. sei vermutlich psychisch krank, was seine zunehmend wirrer werdenden Äußerungen in öffentlichen Posts und Videos tatsächlich nahelegen. Damit war die Sache für Politik und Medien abgehakt: Der Mann war durchgedreht, so etwas kommt vor. Diskutiert wird seitdem nur noch darüber, ob die Tat hätte verhindert werden können, warum die Behörden den vielen Hinweisen auf eine Gefährlichkeit des Attentäters offenbar nicht konsequent nachgegangen waren. Eine weiterführende Analyse der Ereignisse steht nicht mehr auf der Agenda, schon gar nicht die Frage, was sie über kapitalistische Zerfallsprozesse aussagen könnten. Im Koordinatensystem bürgerlicher Politiker und Medien kommen solche Zusammenhänge nicht vor.

Tatsächlich lohnt es sich genauer hinzusehen, erscheinen die Ereignisse von Magdeburg doch wie ein Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse. Schon das Disparate des Geschehens. Der Attentäter aus einem muslimischen Land, aber kein Islamist, sondern ein Islamhasser, ein rechter Hater wie sie bei X, Telegram & Co. in Scharen ihr Unwesen treiben, ein eigenbrötlerischer Querulant, der sich mit den Behörden anlegte – also einer der ihren, in seinem Verschwörungs- und Verfolgungswahn eher dem Amokläufer von Halle vergleichbar als dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. Und doch wurden und werden Taleb al-A. und seine Tat vom rechten Mob instrumentalisiert, um gegen Zuwanderer*innen und den Islam zu hetzen.

Da passt nichts zusammen, was die Tat noch absurder und sinnloser erscheinen lässt, als sie es so schon war. Für die Analyse hilfreich ist der Hinweis, dass es sich bei genauem Hinsehen in Magdeburg nicht um einen Anschlag, sondern um eine Amokfahrt gehandelt hat. Das Stichwort führt zu Überlegungen des Gießener Sozialwissenschaftlers und Autoren Götz Eisenberg. Denn er hat sich bereits vor fast einem Vierteljahrhundert – in seinem Buch „Amok – Kinder der Kälte“ – intensiv mit dem Thema befasst und Amoktaten, die damals hierzulande noch eine Seltenheit waren, als Schlüssel zum Verständnis der zerstörerischen Dynamik des Kapitalismus erkannt.

„Der Amoklauf wird die kriminelle Physiognomie der Gesellschaft des entfesselten Kapitalismus prägen“, prophezeite Eisenberg etwa. Die in diesen Taten zu Tage tretende Form des „reinen und richtungslosen Hasses“ bilde die Rückseite einer Gesellschaft, „in der die Warenform universell geworden ist und sich die Menschen in totale Selbstverwertungsmonaden verwandelt haben“. Der individuelle Amoklauf hänge viel enger mit dem „Amoklauf des globalisierten Kapitals“ zusammen, „als wir wahrhaben wollen“, zeuge von einer „Indifferenz und Kälte, die die Praxis der Deregulierer und Modernisierer zum vorherrschenden gesellschaftlichen Klima gemacht hat“.

„Eine Gesellschaft, die sich vollständig ihrem ökonomischen System ausliefert“, schrieb Eisenberg weiter, „trägt den Keim zu ihrer Selbstzerstörung in sich. Wenn eines Tages alles Hemmende beseitigt ist, wird es auch nichts mehr geben, was die Gesellschaft trägt und stützt, und am Ende muss alles synthetisch, therapeutisch und/oder gewaltförmig zusammengehalten werden. Die tektonischen Beben, die durch die Wucht von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen ausgelöst werden, erschüttern nicht nur die tragenden Gerüste des Gesellschaftsbaus, sondern auch den tradierten Formen sozialer Integration und reichen bis in den Menschen hinein.“

Der Neoliberalismus, stellte Eisenberg fest, habe „treibhausmäßig eine Atmosphäre der Konkurrenz und zwischenmenschlichen Feindseligkeit“ gezüchtet und die Herausbildung einer „Kultur des Hasses“ (so der marxistische Historiker Eric J. Hobsbawm) befördert. Die Fähigkeiten zu Mitleid, gegenseitiger Hilfe und Solidarität verdorrten, weil sie durch gesellschaftliche Verhältnisse keine Stützung erführen. „Unter unseren Augen entsteht ein durch und durch kapitalistischer Menschentyp, der zur Einfühlung in andere unfähig und dessen Innenwelt eine einzige Gletscherlandschaft ist“, heißt es bei Eisenberg.

Was immer den Amoktäter von Magdeburg konkret antrieb, die von Eisenberg präzise beschriebenen Zerfallsprozesse schaffen erst das Klima, in dem Taten wie diese möglich werden. „Soziale Desintegration und Anomie waren und sind der beste Nährboden für Massenkriminalität und Bandenbildung, aber auch für individuelle Verzweiflungstaten“, betont er. In manchen Aspekten erinnere „die Gegenwart der zerfallenden Arbeitsgesellschaften“ an die Aufstiegsphase des Kapitalismus, „als Massen von Menschen aus ständischen Strukturen freigesetzt wurden und vagabundierend und marodierend durch die Lande zogen, bis die industrielle Revolution sie aufsog und in Lohnarbeiter verwandelte“.

Auch den Reflex, Amoktaten mit dem Hinweis auf eine psychische Erkrankung des Täters abzuhaken, wie es aktuell nach den Ereignissen von Magdeburg praktiziert wird, hat der Gießener Autor plausibel eingeordnet. Die von Amok und Terror heimgesuchten Gesellschaften hätten sich darauf geeinigt, schreibt er, „die Täter in zwei Kategorien einzuteilen: den religiös motivierten Terroristen und den psychisch gestörten Einzeltäter“. Diese Ettikettierung habe den unschätzbaren Vorteil, „dass die herrschenden Zustände nicht mit diesen Taten in Zusammenhang gebracht werden“.

Die Demontage des Sozialstaates im Namen des Neoliberalismus steigere den Angst- und Panikpegel rapide, konstatiert Eisenberg. „Die gesellschaftliche Atmosphäre reichert sich mit Spannungen und Aggressionen an und es wächst das Bedürfnis der Menschen nach Sündenböcken, auf die sich ihre Malaise verschieben lässt.“ Als solche Sündenböcke würden dem verängstigten Kleinbürger Flüchtlinge und Migranten hingestellt. Eisenberg: „Sie verkörpern all das Flüchtige und Fremde, unter dem die Menschen zu leiden haben.“ Im „Schlagschatten des Anti-Terror-Kampfes“ breiteten sich islamophobe Einstellungen wie ein Flächenbrand aus und leiteten Wasser auf die Mühlen der Ausländerfeinde, Rechtspopulisten und Rassisten.

Die AfD braucht die Stimmen also nur noch einzusammeln. Der Rechtspopulismus, so Eisenberg, organisiere und funktionalisiere die „über den ökonomischen Prozess freigesetzten Ängste“ und schlage Kapital aus der Feindseligkeit, die den Fremden und Migranten entgegenschlage. Für den Aufstieg des Rechtspopulismus und Rassismus trügen in erster Linie diejenigen Verantwortung, „die durch ihre Deregulierungspraxis großflächig Angst und Unsicherheit“ erzeugten.

Götz Eisenberg hat sich in einem Beitrag für seinen Blog durchhalteprosa.de von diesem Januar auch konkret mit der Amokfahrt von Magdeburg befasst und einen Zusammenhang zur Weltlage hergestellt, der kaum von der Hand zu weisen ist. Er schreibt:

„Diese Tat ist nicht wahnsinniger, als der Rest der Welt. Die sich seit Jahren ausbreitende schizoide Großwetterlage begünstigt kollektive und individuelle Regressionen auf archaische Spaltungsneigungen. Im einem Klima, das mit Spannungen und Ambivalenzen aufgeladen ist, gedeiht eine heimliche Katastrophenbereitschaft, die einen erschreckenden Mitnahmeeffekt erzeugt: In eine anomisch-abseitige Position gedrängte Zeitgenossen „haben einen Hass“, und würden am liebsten „alles in die Luft sprengen“. Trittbrettfahrer steigen auf den Zug der weltweit entflammten Paranoia auf und lassen sich durch sie zu irgendwelchen Wahnsinnstaten anregen.“

Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. So überzeugend die Zusammenhänge hier auch dargelegt sind, dringen sie doch nicht durch. Wie gesagt: Im bürgerlichen Koordinatensystem kommen sie nicht vor. Den Herrschenden ist es gelungen, schon das Nachdenken über eine Alternative zum Kapitalismus als völlig abwegig hinzustellen. Um so wichtiger ist es, immer wieder auf die tatsächlichen Ursachen hinzuweisen. Angesichts der allgemeinen Orientierungslosigkeit und Verwirrung, die von X, Telegram und Co. nach Kräften angeheizt werden, ist es heute schon viel, einen klaren Kopf zu behalten. Das ist die erste Voraussetzung, um überhaupt Widerstand leisten und organisieren zu können.

Foto: Alter Markt am Tag nach dem Attentat Pressetermin Blick über die Absperrung nach Westen 02, Olaf2, CC0 Attribution-Share Alike 4.0 International, by wikimeda

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