„Erdogan, warum tust du uns das an?“

5. Dezember 2022

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Gastbeitrag

Die Fenster beben, der Boden bebt, ich höre meinen Namen, gefolgt von einigen kurdischen Wörtern. Ein weiterer Knall. Ich kann das stechende Geräusch des Flugzeugs, das über unsere Köpfe hinweg fliegt, förmlich spüren. Wie eine Spinne wandert es über meinen Rücken.

Die Fenster beben, der Boden bebt, die dritte Rakete schlägt ein. Auf meinen Namen folgt der Befehl, mich schnell auf den Boden zu legen. Von unten kommen Kinderschreie. Das Nötigste passt in die Jackentasche und ich trage nur meine Kamera. Mich ärgert es, dass ich keinen zusätzlichen Akku habe. Ich fühle mich unbeholfen: Warum denke ich in diesem schrecklichen Moment ausgerechnet daran?

Die Großmutter der Familie kontrolliert die Stimmung, hält die kollektive Angst im Zaum. Wir sind im sichersten und heißesten Raum, etwa 14 Personen. Die meisten Kinder schlafen, außer Armanc, der mit verschränkten Händen und zitternd auf den Beinen seiner Mutter liegt. Die Großmutter betet. Dann blickt sie mit offenen Händen auf und sagt: „Erdogan, warum tust du uns das an? Was haben wir getan? Kurd*innen zu sein? Wir haben Kinder! Was haben wir getan? Wir haben doch nur jeden Tag unsere Mahlzeiten zubereitet und versucht zu leben?“

Muhamed, der Vater einiger Kinder, sucht auf seinem Handy nach Informationen. „Es scheint, dass nicht nur Kobanê, sondern auch andere Städte gleichzeitig angegriffen werden“, sagt er und liest ihre Namen vor: „Derik, Ain Digna, Ayn Al Arab, Tal Rifat, Malikiyah, Şehba, Zirgan“. Außerdem wurden auch weitere Gebiete, außerhalb von Nordostysyrien, die aber für die kurdische Bewegung seit 40 Jahren große Bedeutung haben, getroffen. Zum Beispiel das Qandil-Gebirge und weitere Orte im kurdischen Nordirak.

Der Morgen des 20. November begann mit einem Tweet des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar, der bekannt gab, dass die Operation „Klaue und Schwert“ erfolgreich durchgeführt wurde. Es seien mehr als 80 Ziele im Nordirak und im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung von Nordostsyrien angegriffen worden. Die Angriffe in Nordsyrien breiteten sich von Derik, der irakisch-türkisch-syrischen Grenze, bis zum Bezirk Şehba aus, 40 Kilometer von der Stadt Aleppo entfernt. Der gesamte Luftraum in diesem Gebiet wird von den Vereinigten Staaten und Russland kontrolliert, was darauf hindeutet, dass beide Länder grünes Licht für den Angriff geben haben oder wegschauten.

In Kobanê war eines der Angriffsziele ein Corona-Krankenhaus. Am nächsten Morgen suchten Journalist*innen die Trümmer auf und die Türkei grifft wieder an. Ein Reporter wurde verletzt. In der nordsyrischen Stadt Derik wurden in der gleichen Nacht zwei Wachen eines Kraftwerks getötet. Als Menschen kamen, um zu helfen, darunter Krankenschwestern und Journalisten, griff die Türkei erneut mit Kampfflugzeugen und Drohnen an. Es starben zehn weitere Menschen. Ein halbes Dutzend wurde verletzt.

Dieses Doppelangriffe werden durch das Genfer Abkommen verboten: Wenn ein Ort bombardiert wird und Menschen zur Hilfe eilen dürfen diese nicht wieder bombardiert werden. Laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden innerhalb der ersten zwei Angriffstage allein in Nordsyrien mindestens 31 Menschen getötet.

In der Nacht werden von der Familie, bei der ich zu Besuch bin, viele Anrufe getätigt. Man versucht herauszufinden, wie es anderen Familienangehörigen geht und ob sie neue Informationen haben. Die Großmutter ist in einer WhatsApp-Gruppe von Verwandten von Gefallenen, die während dieses seit zu vielen Jahren andauernden Konflikts starben. Sie verlor selbst zwei ihrer Kinder: Eines davon starb, als es die vom Islamischen Staat hinterlassenen Minen entschärfte. „Ich hoffe, es gibt keine Toten“, murmelt die betagte Frau vor sich hin.

„Bisher gab es hier vor allem türkische Drohnen. Man hat sie erst bei der Explosion gehört oder am nächsten Tag davon erfahren. Jetzt sind die Flugzeuge zurück, da muss etwas passiert sein“, erklärt Muhamed. Die App „Syria live map“ zeigt an, dass die von Russland kontrollierte Flugzone freigegeben ist. Dazu gehört auch der Luftraum über Kobanê, wo wir uns aufhalten. Als die Luftangriffe begannen, twitterte Minister Akar, dass die „Stunde des jüngsten Gerichts“ gekommen sei, zusammen mit Bildern eines startenden Kampfjets und einer Explosion. „Zeit um Rechenschaft abzulegen! Diese Schurken bezahlen für ihre verräterischen Angriffe“, schrieb er in einem anderen Tweet.

13. November in Istanbul. Eine Frau sitzt um 15:40 Uhr auf einer Bank auf der Istiklal Caddesi. Sie bleibt 40 Minuten an Ort und Stelle, steht auf, geht hinaus und wenige Minuten später explodiert eine Bombe, bei der sechs getötet und 81 verletzt werden. Keine terroristische Gruppe übernimmt die Verantwortung für den Angriff. Am nächsten Tag behauptet Innenminister Süleyman Soylu, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trage die Verantwortung für den Anschlag. Er gibt außerdem die Festnahme des mutmaßlichen Terroristen und 50 weiterer Personen bekannt. Soylu behauptet, der Angriff sei von der Stadt Kobanê koordiniert worden. Die aktuellen türkischen Angriffe auf Nordostsyrien werden so von Ankara als Reaktion auf den Angriff in Istanbul gerechtfertigt.

Aber die Invasion war schon lange vorher geplant. Seit Frühjahr 2022 versucht Erdogan, in das Gebiet einzudringen, das er heute angreift. Bisher hat ihm die Zustimmung der USA und Russlands gefehlt. Hinsichtlich des Anschlags in Istanbul gibt es noch keine eindeutigen Beweise, wer ihn ausgeführt hat, aber Ankara beschuldigt weiterhin die PKK und die nordsyrische YPG. Das Attentat dient der Türkei als Vorwand, um neue Angriffe zu starten.

Dass der Beginn der Invasion auf den Beginn der Weltmeisterschaft in Katar fällt, scheint keine Zufall zu sein. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Gräueltaten in Zeiten passieren, in denen sich die Aufmerksamkeit der Welt auf die Weltmeisterschaft konzentriert.

Knapp sieben Monate sind es noch bis zu den Präsidentschaftswahlen in der Türkei, die für Erdogan zur schwierigsten Wahl seiner gesamten politischen Laufbahn geworden ist: Sein Land befindet sich in den letzten Jahren in extrem schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen. Erdogan weiß, dass die türkische Wählerschaft mit Nationalismus und Kriegskampagnen liebäugelt und er ist sich darüber im Klaren, dass das das Einzige ist, was ihn an der Macht halten könnte.

Die Opposition, die sich aus sechs Parteien mit mehr oder weniger nationalistischem Charakter zusammensetzt, ist ebenfalls ein entschiedener Verteidiger einer „starken Hand“ gegen die Kurd*innen. Erdogan erklärte: „Wir beschränken uns nicht auf einen Luftangriff, wir werden uns mit dem Verteidigungsministerium und den Militärkommandeuren beratschlagen, inwiefern wir unsere Bodentruppen einsetzen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.“

Seit 2016 ist die Türkei dreimal in Nordostsyrien einmarschiert und hat hunderte Kilometer Territorium von der autonomen Selbstverwaltung besetzt. Jetzt droht Erdogan wieder in ein Gebiet einzudringen, in dem sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland militärisch präsent sind. Dieser Modus Operandi ist der türkischen Regierung bestens bekannt: Angriff auf die Kurden, wenn die Popularitätswerte sinken, und das Versprechen, das Osmanische Reich wieder aufzubauen.

Ein paar Tage nach der Bombennacht in Kobanê nehmen die Angriffe im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung Flächendecken zu. Erdogan erklärte in einem Fernsehinterview: „Seit einigen Tagen sind wir mit unseren Flugzeugen, Bomben und Drohnen den Terroristen auf der Spur. So Gott will, werden wir sie bald alle mit unseren Panzern, Artillerie und Soldaten ausrotten.“ Zur gleichen Zeit bombardierte eine türkische Drohne nördlich der Stadt Haseke einen Stützpunkt der internationalen Koalition gegen den IS und der Anti-Terrorismus-Einheiten YAT.

Erdogans angeblicher „Kampf gegen den Terror“ bedroht erneut das Leben von fünf Millionen Menschen, die seit 10 Jahren autonom leben und inmitten des Krieges Tage des Friedens suchen, die ihnen immer verweigert wurden.

Autor*innen: Mauricio Centurión und Ariadna Masmitjà

Titelbild: Türkischer Luftangriff auf Zirgan vom 3.12.22

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