Die Revolution im Kabinett des Schreckens – Der Libanon nach den Parlamentswahlen

27. Mai 2022

Am 15. Mai 2022 wurde im Libanon das neue Parlament gewählt. Nach dem libanesischen Wahlgesetz wird in 15 Wahlkreisen gewählt, geografisch muss der/die Wahlberechtigte in dem Distrikt und Ort wählen, in dem er/sie registriert ist. Generell ist dies der Ort, in dem bereits der Vater und die väterlichen Vorfahren registriert sind, Frauen wechseln ihren Registrierungsort, sobald sie verheiratet sind und „folgen“ ihren Ehemännern. Der Libanon ist damit das einzige Land weltweit, in dem nicht am Wohnort, sondern am vererbten Registrierungsort gewählt wird. Die Zusammensetzung des Parlaments folgt nach Verfassung, Nationalpakt und Ta’ef-Abkommen dem Proporzsystem, nach dem 50 % der Sitze den christlichen Religionsgemeinschaften und 50 % den muslimischen Religionsgemeinschaften vorbehalten sind.

Die Wahlen vom 15. Mai waren die ersten Wahlen seit der sogenannten „Revolution des 17. Oktobers“, den Massenprotesten 2019, bei denen für mehrere Monate große Teile der libanesischen Bevölkerung nahezu täglich auf die Straßen gingen, um gegen das herrschende politische und wirtschaftliche System und die es vertretende Elite zu protestieren. Es sind auch die ersten Wahlen, seit sich der Libanon in einer der profundesten Wirtschafts- und Finanzkrisen seiner Geschichte befindet – eine Krise, die die jahrzehntelange Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eben dieser Elite zu verantworten hat. Es sind zudem die ersten Wahlen seit der Explosion am 4. August 2020, als am Hafen von Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten. Die wohl größte nicht-nukleare Explosion in der Geschichte der Menschheit tötete etwa 250 Menschen, verletzte mehr als 6000 und zerstörte weite Teile der Stadt. Nicht nur liegt auch diese Katastrophe in der Verantwortung vieler Mitglieder der politischen Elite, denen die illegale Lagerung des hochexplosiven Stoffs über viele Jahre hinweg bekannt war, bis heute schafft es diese politische Elite auch, jegliche Aufklärung der Explosion und damit Verurteilung der verantwortlichen Personen erfolgreich zu vereiteln.

Bereits am Abend schien deutlich, dass einige der Mitglieder der oppositionellen Listen in das Parlament gewählt worden waren.

In diesem Kontext wurden die Wahlen einerseits mit großer Spannung erwartet, andererseits war der Wahlkampf auch überschattet von der allgemein herrschenden Verzweiflung und dem Fatalismus, der im Land vor allem seit dem gefühlten „Scheitern“ der Revolution und der wachsenden Erfahrungen von direkter und indirekter Gewalt im täglichen Leben überwiegt. Die Energie, noch an politischen Wandel, sei es durch Wahlen oder durch Revolution, zu glauben oder dafür zu kämpfen, fehlt den meisten Menschen im Libanon momentan.

Dennoch hatte sich nahezu in jedem Wahlkreis eine oder mehrere Listen zur Wahl gestellt, die sich als „oppositionell“, „säkular“, „unabhängig“ oder „revolutionär“ präsentierten und ihr politisches Erbe oft mit der „Revolution des 17. Oktobers“ verknüpften. Auch diese Listen wurden in den letzten Monaten mit viel Skepsis betrachtet: Nicht nur wurden die realen Chancen dieser „Opposition“ als sehr gering eingeschätzt, ihre Programme und Ideen wurden von vielen Libanes*innen als nicht ernsthaft genug oder als den Herausforderungen nicht gewachsen angesehen und ihre Teilnahme an den Wahlen wurde als ein Zugeständnis an das bestehende politische System betrachtet – aus der Kompromisslosigkeit der Straße heraus mitten auf die Bühne des Kabinetts des Schreckens hinein. Für viele Menschen im Libanon war demnach auch ein Wahlboykott eine reale Option, andere entschieden sich trotz großer Skepsis den Wahlen gegenüber dagegen, da auch der ehemalige Premierminister Saad Hariri einen Boykott angekündigt hatte und man nicht mit ihm in einem Boot sitzen wollte.

Der Wahlsonntag brachte für viele Libanes*innen dann eine Überraschung: Bereits am Abend schien deutlich, dass einige der Mitglieder der oppositionellen Listen in das Parlament gewählt worden waren. Am Montag setzte sich dieser Trend fort und entgegen jeglichen Erwartungen schafften es circa 8 bis 15 „Kandidat*innen der Veränderung“ einen Sitz im Parlament zu erhalten – wobei das Wort circa hier bereits anzeigt, wie schwer es ist, festzulegen, wer nun tatsächlich den oppositionellen oder unabhängigen Kandidat*innen zuzurechnen ist und wer eher einer der herrschenden Parteien nahe steht. Dennoch: In den sozialen Medien und unter vielen politischen Aktivist*innen und Revolutionär*innen war die Überraschung groß und im ersten Anlauf wurde gefeiert. Für einen Moment schien die Revolution wieder in der Luft zu hängen – und die meisten Menschen freuten sich wenigstens darüber, dass einige der prominentesten Kabinettsdinosaurier und Repräsentanten von Korruption, Gewalt und Konfessionalismus ihren als sicher geglaubten Sitz verloren hatten.

Einen ersten Rückschlag erlitt der Enthusiasmus als fünf Tage später in der bekannten wöchentlichen Talkshow „Sar al-wa’et“ („Die Zeit ist gekommen“) zehn der „Veränderungsparlamentarier*innen“ – wie sie derzeit genannt werden – auftraten. Der Moderator der Show, Marcel Ghanem, ist seit langem bekannt als einer der prominentesten Medienvertreter*innen des politischen Systems und der politischen Elite. Seine Show ist eine konstante Verleugnung der politischen Realitäten und eine Plattform für jegliche Art von Propaganda oder Verteidigung der Politik und Wirtschaft im Land. Gleichzeitig ist Ghanem bekannt für sein anhaltend sexistisches, herablassendes und diskriminierendes Verhalten – auch und vor allem in der Show. Dementsprechend fehl am Platz wirkten auch die orchestrierten Sprechchöre des Publikums „Revolution, Revolution“, als die neuen Abgeordneten in die Show einliefen. Marcel Ghanem gab dann sein Übriges, in seinen Interviews den Diskurs von Veränderung, Revolution und Opposition ins Lächerliche zu ziehen.

Die Bereitschaft der neu gewählten Parlamentsabgeordneten, direkt nach der Wahl in dieser Show aufzutreten, schien für viele bereits ein erstes Zugeständnis an ihre generelle Bereitschaft, sich durch die Zugehörigkeit zum Parlament auch in das dominante politische Spiel im Libanon zu integrieren.

Die Frage nach dieser möglichen Bereitschaft geht über die eher symbolische Teilnahme an der TV-Show hinaus: Die wichtige Frage an die neuen Parlamentsabgeordneten ist vor allem, wie sie es schaffen wollen, Diskurs und Praxis von Veränderung und einem Sturz des Systems innerhalb einer Institution zu verwirklichen, die selbst ein Zentrum der etablierten politischen Macht ist und damit weit davon entfernt ist, ein mögliches Vehikel für Revolution oder Umsturz zu sein. 

Das libanesische Parlament setzt sich – wie bereits erwähnt – nach dem konfessionellen Proporzsystem zusammen, Abgeordnete sind damit auch immer auch Vetreter*innen ihrer jeweiligen Religionsgruppe. In einer Institution wie dem libanesischen Parlament sind sie damit auch immer gleichzeitig dem Druck ausgesetzt, der eine solche Zugehörigkeit bedeutet. Gleichzeitig hat das libanesische Parlament relativ viele und wichtige Kompetenzen innerhalb des libanesischen politischen Systems: Neben legislativen Befugnissen spricht das Parlament der Regierung sein Vertrauen aus (oder eben nicht), es wählt sowohl den Präsidenten des Parlaments als auch den Staatspräsidenten, bestimmt Steuern und verabschiedet das jährliche Staatsbudget. In den letzten Jahrzehnten hat das Parlament diese Kompetenzen immer wieder, auch gegen die Verfassung, nach Gutdünken ausgelegt und ausgeweitet. So wurde von 2005 bis 2017 kein neuer Staatshaushalt verabschiedet, sondern die Gültigkeit des alten Budgets jedes Jahr illegal erneuert. Generell wird im libanesischen Parlament auch schon seit Jahren nur nach Handzeichen abgestimmt, obwohl auch das gegen die Verfassung ist und jegliche Art von geheimer Wahl verunmöglicht.

In diesem Kontext sieht es so aus, als hätte der „Sieg“ der Kandidat*innen einem korrupten Regime Legitimität gegeben.

Ein Dreh- und Angelpunkt der willkürlichen Machenschaften des libanesischen Parlaments ist der Parlamentssprecher Nabih Berri, der dieses Amt seit 1992 innehält und gleichzeitig der Vorsitzende der Partei Harakat Amal ist. Berri erklärte selbst, dass das Parlament zwar Gesetze erlasse, die der Verfassung entsprechen müssten, sich als Institution selber aber nicht an die Verfassung hielte. Berri vertritt all das, gegen das sich die Revolution des 17. Oktobers erhoben hat: eine Vergangenheit als Milizenführer im Bürgerkrieg, ein direkter Übergang ohne Verurteilung in die libanesische Politik, und heute einer der herausragenden Repräsentanten von beispielloser und jahrzehntelanger Korruption, Klientelismus, Erpressung und Gewalt. Schon jetzt ist klar, dass der 84 Jahre alte Berri keine erste Sitzung des neuen Parlaments einberufen wird, solange er keine Mehrheit für seine Wiederwahl gesichert hat.

Ein wichtiger Pfeiler der Macht Berris ist die sogenannte Parlamentspolizei, die dem Innenministerium untersteht, um das Parlament zu schützen, praktisch aber eine gewalttätige, über dem Gesetz stehende, persönliche Miliz von Berri ist, die dafür bekannt ist, auf Demonstrationen und bei Verhaftungen völlig willkürlich und brutal Gewalt anzuwenden, ohne je dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Die Frage stellt sich in diesem Kontext, wie eine Handvoll von „Veränderungsparlamentarier*innen“ es anstellen wollen, die Praxis des Parlaments an sich zu verändern und die dringend erforderlichen Punkte zum Wandel auf die Agenda dieses Parlaments zu bringen. Realistischer sind halbseidene Koalitionen mit Vertreter*innen der alten politischen Elite, Kooptation, Einschüchterung und letzten Endes wohl Frustration auf Seiten der „Abgeordneten des 17. Oktobers“ und der Menschen, die sie am 15. Mai gewählt haben.

Die derzeitigen politischen Herausforderungen im Libanon sind für jede*n Politiker*in, der*die seine*ihre Aufgabe einigermaßen ernst nimmt, riesig. Wie können jahrzehntelange Politiken geprägt von Gewalt, Korruption, Neoliberalismus, Vernachlässigung, Klientelismus, Konfessionalismus und Abhängigkeit nach außen, Politiken, die im gegenwärtigen Libanon geschätzte dreiviertel der Bevölkerung in die Armut gestürzt haben und in völliger politischer Ohnmacht vor sich hinvegetieren lässt, umgekehrt werden und in eine Politik der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität verwandelt werden?

Momentan steht ganz oben auf der Agenda die Konsolidierung von Finanzen und Wirtschaft des Libanons und der mögliche Bailout des Landes durch den Internationalen Währungsfonds – aller Wahrscheinlichkeit nach durch eine Privatisierung der staatlichen Firmen, einer noch größeren Liberalisierung des Arbeitsmarktes sowie einer Reduzierung von staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen und Subventionen. Den sozialen Preis einer solchen Politik werden diejenigen bezahlen, die ohnehin momentan kaum noch überleben können und auch in der derzeitigen Krise mit geringen Bargeldspritzen von internationalen Geldgebern zum Schweigen gebracht werden.

Weitere Themen im Parlament wird die Rolle der Hisbollah und ihrer Waffen sein – schon jetzt zeichnet sich hier eine Polarisierung zwischen der Hisbollah, den ihr nahestehenden Parteien und den christlichen, rechten, von Saudi-Arabien unterstützten Lebanese Forces an. Eine Polarisierung, die sich außerparlamentarisch bereits in der Form von brutalen Straßenkämpfen im Oktober 2021 gezeigt hat.

Ein drittes Thema wird zudem die Wiederherstellung und mögliche Reform von staatlichen Institutionen und Dienstleistungen sein, die im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ihre Funktionalität verloren haben. Auch hier sieht es momentan so aus, als würden kurzfristige Darlehen gebunden an minimale Anpassungen innerhalb der Arbeitsweise dieser Institutionen die Politik der Zukunft bestimmen. Eine vernünftige und gleichzeitige Positionierung der neuen Parlamentarier*innen zu diesen Fragen scheint nahezu unmöglich, geschweige denn, dass andere wichtige Fragen wie die Aufklärung der Explosion des 4. Augusts, die Diskriminierung und Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen oder die zunehmende Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit im Land eine realistische Chance haben, auf die Agenda zu kommen.

In diesem Kontext sieht es so aus, als hätte der „Sieg“ der Kandidat*innen von Revolution und Wandel zwar kurzfristig die Hoffnung auf Veränderung wiederbelebt, letzten Endes aber genau das bewirkt, was viele Menschen im Vorhinein befürchtet haben: einem korrupten und gewalttätigen Regime die erneute Legitimität gegeben, dort weiterzumachen, wo es vor den Wahlen aufgehört hat.

#Titelbild: Shahen Araboghlian

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