In Armenien gehen seit mehreren Wochen tausende Menschen auf die Straßen, und fordern den Rücktritt des Premierministers Nikol Paschinyan. Hintergrund der Proteste, die von der parlamentarischen Opposition angeführt werden, sind Äußerungen des seit 2018 regierenden Premiers, wonach Arzach (Berg-Karabach) unter die Jurisdiktion Aserbaidschans fallen könnte, sofern die Rechte der dort lebenden Armenier:innen garantiert und bewahrt werden. Die wichtigste Stelle aus der Parlamentsrede vom 13. April sei hier zitiert: „Wir haben erklärt, dass Armenien nie territoriale Ansprüche gegenüber Aserbaidschan erhoben hat und dass die Karabach-Frage keine Frage des Territoriums, sondern der Rechte ist. Daher haben wir erklärt, dass die Sicherheitsgarantien für die Armenier von Karabach, die Gewährleistung ihrer Rechte und Freiheiten und die Klärung des endgültigen Status von Berg-Karabach für Armenien von grundlegender Bedeutung sind.“
Diese Erklärung bedeutet einen krassen Bruch mit bisher als selbstverständlich geltenden politischen Leitlinien armenischer Politk. Bisher war in Bezug auf Arzach die Selbstbestimmung der Bewohner:innen von Arzach das Ziel, das nun zu einer Frage von „Rechten“ und „Sicherheitsgarantien“ zusammengestückelt wird. Dies deutet darauf hin, dass Jerewan im Rahmen eines wie auch immer ausgearbeiteten Friedensvertrages mit Aserbaidschan bereit wäre, Arzach als Teil der territorialen Integrität Aserbaidschans anzusehen. Zur Erinnerung: In einem Referendum vom 10. Dezember 1991 erklärte sich die mehrheitlich von Armenier:innen bewohnte Region für unabhängig, verteidigte diese Unabhängigkeit in dem Krieg bis 1994 und nochmals unter enormen menschlichen und territorialen Verlusten im 44-Tage-Krieg 2020, in Folge dessen russische Friedenstruppen einrückten.
Die derzeitigen Proteste entzündeten sich an dieser Rede, die von weiteren Aussagen von verschiedenen Regierungsmitgliedern flankiert wurden. Unter dem Slogan „Zartnir Lao“ ( Wach auf, Junge), was an ein altes revolutionäres Lied aus der Zeit des Osmanischen Reiches anknüpft und zur Erhebung gegen Unterdrückung des osmanischen Jochs aufruft, versammeln sich jeden Tag tausende Protestierende und wollen notfalls auch den Sturz der Regierung. Dafür nehmen sie hunderte Verhaftungen in Kauf, da die Regierung die Demonstrationen zwar toleriert, gleichzeitig aber vor massenhafter Repression nicht zurückschreckt.
Die Sackgasse der Opposition
Zweifellos lehnt eine Mehrheit der armenischen Gesellschaft und wahrscheinlich ein noch viel größerer Teil der Diaspora diese Sichtweise ab, da außer Frage steht, dass jegliches armenisches Leben unter dem panturkistischen Diktator Ilham Aliyev unmöglich ist. Arzach als Teil Aserbaidschans und damit auch unter Kontrolle der Türkei zu begreifen, heißt, Massenmord und ethnische Vertreibung anzunehmen. Die zahllosen Kriegsverbrechen während des Krieges, als azerische und türkische Soldaten vor laufender Kamera sogar ältere Zivilist:innen in IS-Manier enthaupteten; die anhaltende Besatzung von Teilen des Territoriums der Republik Armenien, die illegale Geiselnahme und Folter von immer noch dutzenden armenischen Kriegsgefangenen und nicht zuletzt die Kriegsrhetorik Aliyevs, wo er Ansprüche auf die armenische Hauptstadt erhebt, zeigen, dass in Baku und Ankara genozidale Regime an der Herrschaft sind, deren strategisches Ziel die Auslöschung des armenisches Volkes ist.
Trotz all dieser alarmierenden Zustände gehen wohl nicht mehr als einige tausend regelmäßig zu den Protesten, die sich auch zumeist auf die Hauptstadt beschränken. Das hängt unzweideutig damit zusammen, dass die Proteste von den Mitgliedern des alten Regimes angeführt werden, die 2018 infolge von Massenprotesten gestürzt und durch die (neo-)liberale, eher dem Westen zugewandte Regierung von Paschinjan ersetzt wurden. Die führenden Oppositionellen wie Sersch Sargsyan (ehem. Präsident von 2008-2018), Robert Kocharyan (ehem. Präsident von 1998-2008), Artur Vanetzyan (ehem. Leiter des Geheimdienstes von 2018-19) oder auch Sevran Ohanyan (ehem. Verteidigungsminister 2008-16) sind weiterhin dermaßen unbeliebt, dass ein weitaus größerer Teil der armenischen Gesellschaft mit den Zielen der Bewegung sympathisiert, allerdings nicht teilnimmt, weil das alte Regime samt der Führungsfiguren für Korruption, Nepotismus, wirtschaftlichen und sozialen Rückschritt steht.
Viele haben nicht vergessen, dass die katastrophale Niederlage im Krieg 2020 nicht nur auf die Unfähigkeit und mangelnde Vorbereitung seitens der Regierung zurückzuführen war, sondern auch auf die Zeit der Herrschaft der heutigen Opposition. Der Paschinjan-Regierung gelang es im Juni 2021 sogar, die vorgezogenen Neuwahlen zum Parlament wiederum eindeutig für sich zu entscheiden und mit ihren verbündeten Listen 71 von 107 Sitzen einzunehmen. Schon damals war zwar die Unzufriedenheit mit Paschinyan zwar groß, allerdings stimmten bei einer Wahlbeteiligung von knapp unter 50 Prozent immer noch viele für ihn, da er im Vergleich zum alten Regime als „kleineres Übel“ gilt.
Es gibt seitens der Opposition weder ein soziales Programm, um den Lebensalltag der Massen zu verbessern, noch adäquate Vorschläge wie die Selbstbestimmung Arzachs garantiert werden könnte. Auch unter ihrer Herrschaft wurde schließlich die Republik Arzach nicht anerkannt und selbst heute gibt es keine klare Antwort darauf, ob sie an der Macht die Republik Arzach anerkennen würden oder wie sie überhaupt mit dem Aliyev-Regime umgehen würden.
Blind auf dem Pulverfass
Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg ist die Region um den Kaukasus angespannt und Spielfeld verschiedener Interessen. Die rund 3.000 russischen Friedenstruppen, die den Waffenstillstand in Arzach überwachen sollen, sind entweder nicht in der Lage oder nicht willens, die beinahe täglichen Aggressionen und Provokationen des Aliyev-Regimes einzudämmen oder zu verhindern. Ein besonders markantes Beispiel ist der Mord an Aram Tepnunts, einem 55-jährigen Bauern, der bei der Granatapfelernte in der Grenzregion Martakert von einem Scharfschützen erschossen wurde. Pikantes Detail: Da die Feldarbeit an der Frontlinie besonders gefährlich ist, überwachen russische Soldaten ab und zu die Arbeit; so auch hier: ein russischer Soldat saß genau neben Tepnunts im Traktor, als dieser von der tödlichen Kugel getroffen wurde.
Beispiele wie diese, die den Terror gegen die Armenier:innen in Arzach verdeutlichen, gibt es viele. Alle dienen dem Zweck, dass den Menschen dort das Leben zur Hölle gemacht wird, damit sie diese Region verlassen. Derzeit leben etwa 130.000 Armenier:innen in den nicht besetzten Gebieten von Arzach, wobei das Mandat der russischen Truppen 2025 ausläuft und dann für weitere fünf Jahre sowohl von Baku als auch Jerewan verlängert werden muss. Aus Sicht der Panturanisten in Ankara und Baku ist die Präsenz der russischen Truppen nicht wünschenswert, aber klar ist auch, dass Moskau seine Truppen so lange wie möglich dort behalten wird.
Der Kreml schickte seine Truppen allerdings nicht in die gebirgige Region, um die Armenier:innen zu schützen, sondern um seine geopolitischen Interessen durchzusetzen. Wladimir Putin balanciert dabei zwischen Armenien und Aserbaidschan und gab Baku auch für den Angriffskrieg im Herbst 2020 grünes Licht, obwohl sie in dem Waffenstillstandsabkommen von Bishkek, das den ersten Arzach-Krieg beendete, als Garant des Waffenstillstandes aufgezählt sind und dieses auch unterschrieben.
Von westlichen Medien nahezu unbemerkt und unerwähnt, unterzeichnete Aliyev nur zwei Tage vor der russischen Invasion in die Ukraine ein Bündnisabkommen, das im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass der Kreml künftig Sanktionen auch dadurch umgeht, indem er seine Rohstoffe nach Baku weiterleitet und unter azerischer Marke verkauft, zumal Aserbaidschan selbst enorm viel Öl und Gas in den Westen exportiert. Der azerische Diktator verkauft damit die russischen Rohstoffe an den Westen, der mit diesem Diktator keine Probleme hat — wahrscheinlich ist das Grund für das mediale Stillschweigen zu diesem kriminellen Abkommen unter Diktatoren.
Angesichts dieser Lage, wo Baku die dadurch eingenommenen Devisen zur Modernisierung und Verstärkung seiner Armee einsetzen wird, zeigt sich die armenische Regierung wie auf einem Blindflug und möchte sowohl mit Aserbaidschan als auch mit der Türkei Friedensabkommen schließen. Der blamable Auftritt des armenischen Außenminister Ararat Mirzoyan auf dem „Antalya Diplomatic Forum“ wurde da zum Symbol, da nicht nur der türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu ihn auflaufen ließ, sondern auch türkische Medien offen ihren Rassismus zur Schau stellten und ihn bewusst wahlweise als „Arabat“ oder „Azarat“ bezeichneten, um ja nicht seinen Namen zu nennen. Ararat ist auch der Name des Bergs und Nationalsymbols der Armenier:innen, das gegenwärtig unter türkischer Besatzung steht und in der Türkei nur unter seinem türkischen Namen genannt wird.
Die Annäherung der beiden Diktaturen wird auch von der EU unterstützt, die gegenüber Paschinyan in einem trilateralen Treffen mit EU-Vertreter Charles Michel und Ilham Aliyev 2,6 Milliarden US-Dollar in Aussicht stellte für die „demokratische und wirtschaftliche Modernisierung“ des Landes — wenn Jerewan im Gegenzug in der Arzach-Frage nachgibt — oder besser gesagt schlichtweg kapituliert, da die EU genau weiß, mit welchen Folgen das für die Armenier:innen in Arzach verbunden wäre.
Gefährliche Zukunft
Aber es gibt keine Arzach-Frage. Es gibt auch keine Syunik-Frage, jene bedrohte südarmenische Region, die der panturanistischen Verbindung zwischen der Türkei und Aserbaidschan im Wege steht. Es gibt überhaupt keine Frage irgendeiner Region, die wie Vayotz Dzor oder Gegharkunik teilweise besetzt sind. Es gibt eine armenische Frage und diese Frage umfasst alle Regionen, die Teil der Republik Armenien, der Republik Arzach oder unter Besatzung stehen. Auf der Tagesordnung dieser brennenden Frage steht die Selbstverteidigung gegenüber der panturanistischen Gefahr im Mittelpunkt, aber auch die soziale, demokratische und wirtschaftliche Entwicklung.
Die Proteste der Opposition sind zum Scheitern verurteilt, da sie diese Punkte nicht zusammen denkt und das Programm dementsprechend ausrichtet, um ein politisches Angebot für die Massen zu haben. Denn sowohl Regierung als auch Opposition Teil des gleichen Problems. Beiden geht es um die Sicherung der Profite der Bourgeoisie, sei sie nun westlich orientiert oder kremlnah.
# Titelbild: Zhirayr Nersessian, Yerevan mit dem Ararat im Hintergrund