Spektakel für Profit – die WM in Katar und das Elend des marktkonformen Fußballs

25. April 2022

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Gastbeitrag

Ende des Jahres findet die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar statt. Unser Autor Raphael Molter hat der Kommerzveranstaltung auf den Zahn gefühlt und schlägt eine demokratische Alternative zur FIFA-Gelddruckmaschine als Zukunft des Fußballs vor. Im Papyrossa-Verlag erschien vom Autor kürzlich „Friede den Kurven, Krieg den Verbänden„.

Der deutsche Kaiser, der Deutschen liebster Fußballheld Franz Beckenbauer hat schon vor neun Jahren auf den Punkt gebracht, was ab Anfang November für viele fußballbegeisterte Menschen gelten wird, solange sie die Spiele sehen: „Ich habe noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gesehen. Die laufen alle frei rum, weder in Ketten gefesselt, noch mit Büßerkappe am Kopf.“

Beckenbauer bringt damit auf den Punkt, was viele Menschen in unserer Gesellschaft als wirkliche Ausbeutung verstehen. Sklaverei, durch Fesseln und Peitschenhiebe erzwungene Arbeit und dabei nicht zu vernachlässigen: das mittelalterliche Feeling dabei.

Die Zustände in der monarchistischen Golfdiktatur Katar sind erschreckend, die Weltmeisterschaft ist seit ihrer Vergabe 2010 unter Beschuss. Da scheint es nur naheliegend, wenn wir als Fans das Turnier boykottieren und uns zumindest als Absatzmarkt diesem Ereignis entziehen. Keine hohen Einschaltquoten, keine Milliardenprofite. Aber bevor man sich den Aufrufen zahlreicher (links-)liberaler Personen und Gruppen anschließt, braucht es einerseits eine kritische Analyse der Zustände in Katar und andererseits die kritische Auseinandersetzung mit dem Weltfußballverband Fifa, der dieses Turnier überhaupt erst möglich gemacht hat. Mehr Licht ins Dunkel bringen und auf nüchterner Grundlage des marktkonformen Fußballs klären, ob ein Zuschauerboykott so sinnvoll ist, wie oft behauptet.

Als Katar die Weltmeisterschaft zugeschustert bekam – übrigens in einem Rutsch mit Russland als Gastgeberland der WM 2018 -, war noch nichts vorhanden. Weder Infrastruktur noch das Wesentliche zum Fußballspielen: Die Stadien. In Rekordzeit mussten acht Fußballtempel aus dem Nichts gebaut werden und man kann sich vorstellen, dass das in puncto Nachhaltigkeit ähnlich katastrophal enden wird wie das Stadien-Fiasco in Brasilien nach der WM 2014. Brasilien baute u.a. ein Stadion in Manaus, mitten im Regenwald. Der Standort wirft bis heute Fragen auf, denn bis auf einen lokalen Viertligisten findet dort kein organisierter Fußball statt. 320 Millionen Euro verrotten bis heute mitten im brasilianischen Regenwald. Einfach nur, weil man ein weiteres Stadion für das größte Fußballturnier der Welt brauchte.

In Bezug auf den Stadienbau in Katar ist aber Nachhaltigkeit nicht das erste Thema, das wohl den meisten einfällt, es sind vielmehr die katastrophalen Arbeitsbedingungen. Vielerorts ist die Sprache von gänzlich unkontrollierten Arbeitspätzen und einer Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, die Recherchen zufolge mindestens 15.000 Menschen das Leben kostete. Pro Spiel der WM mussten 234 Menschen sterben. Wegen Hitze, Erschöpfung und unzureichender Absicherung des Arbeitsplatzes. Die Weltmeisterschaft und der einhergehende Bau-Boom sind in der Region aber übrigens kein Einzelfall, wie sie es insgesamt nicht sind. In der Türkei starben beispielsweise im Jahr 2018 über 2.000 Menschen bei Arbeitsunfällen. Der Bösewicht heißt in diesem Kontext nicht Katar, da macht man sich die Welt zu einfach. Beschäftigt man sich mit Studien und Statistiken zu Arbeitsunfällen weltweit, fällt auf, dass die Zahl an Unfällen besonders dann hoch ist, wenn der Arbeitsschutz kaum bzw. gar nicht gewährleistet wird: und das vor allem in der Baubranche, die seit Jahren hohe Zuwächse in der Türkei und im Golf verzeichnet und gleichzeitig die meisten Todesfälle zu melden hat.

Dazu kommt im Golf das Phänomen der Arbeitsmigration. In Katar leben rund 2,3 Millionen Menschen, die als Arbeitsmigrant*innen gelten, nur 30.000 sind in direkten Arbeitsverhältnissen rund um die WM. Und auch bei diesem Thema gilt, dass es eigentlich nicht neu ist. Arbeitsmigration hat es schon immer gegeben, aber die neoliberale Spielart des globalen Kapitalismus schuf eine neue Form, hervorgerufen durch globale Lieferketten und höhere Mobilität. In Katar konzentriert sich die Arbeitsmigration auf den Dienstleistungs- und Bausektor: Männer arbeiten an den Stadien oder an der Infrastruktur, FLINTA-Personen der Familie als „Dienstmädchen“ in katarischen Privathaushalten. Profiteure der Arbeitsmigration sind übrigens größtenteils deutsche und französische Unternehmen, die einen Großteil der Bauprojekte schultern. So wurde die Bewerbung für die WM mit einem deutschen Architekturbüro gemeinsam eingereicht, die Deutsche Bahn hat den Zuschlag für den Aufbau der Verkehrsinfrastruktur rund um die Stadien erhalten.

Die mediale Berichterstattung über Arbeitsbedingungen und Arbeitsmigration und die Kritik vieler verschiedenen Gewerkschaften haben zu einem anhaltenden Druck geführt, wodurch partielle Verbesserungen in Aussicht gestellt werden mussten, um sowohl Sponsoren des globalen Nordens als auch die arbeitenden Menschen befrieden zu können. Das berüchtigte Kafala-System wurde abgeschafft, Arbeiter*innen dürfen dadurch legal überhaupt erst ihren Arbeitgeber wechseln und haben Anspruch auf einen Mindestlohn von 230 Euro pro Monat. Die Einhaltung und Kontrolle dieser gesetzlichen Mindestvorgaben wirkt jedoch extrem durchlässig und lassen die Mini-Reformen wie einen PR-Stunt wirken, der nur kurzfristig hält, was er verspricht, denn viele Arbeiter*innen berichten von einer Fortführung alter Arbeitspraktiken der Arbeitgeber.

Ein Boykott der WM ist wegen dieser Zustände und nur temporärer Verbesserungen schon lange im Gespräch. Die Initiative #BoycottQatar2022 verurteilt das bevorstehende Turnier als »unwürdig« und protestiert dagegen. Kritisiert wird ebenfalls die Politik der Fifa, die kaum Druck auf den Staat ausübt. Der Fifa-Präsident Gianni Infantino ließ seine Delegierten beim Fifa-Kongress lieber dreimal „Katar!“ rufen, um Einigkeit zu demonstrieren.

Einen Mittelweg erleben wir in den deutschen Medien und der deutschen Politik seit knapp neun Monaten: die liberale Boykottspirale. Selbst die Berliner SPD unter Franziska Giffey hat sich für einen Boykott des Turniers ausgesprochen. Es ist nur verwunderlich, wie häufig dabei Katar als ein singulär furchtbares Ereignis des Weltfußballs hingestellt wird. Einzelfälle statt systemische Probleme, dieses Muster kennen wir doch.

Eine sich auf einzelne Länder und deren moralisch zu verurteilendes Tun versteifende Kritik erleben wir auch im Diskurs gegenüber Russland: Niemand hätte noch vor einem Jahr ernsthaft über die Aussetzung von Nord-Stream-2 nachgedacht und doch erweiterte sich der Handlungskorridor durch den russischen Angriffskrieg. Weltmeisterschaften im Herrenfußball haben unter der Fifa und ihrer Auswahl der Gastgeberstaaten leider eine unsägliche Historie an Menschenrechtsverletzungen und Verstößen. Erst 2018 durften wir die WM in Russland erleben. Einem Land, dass durch Putin ganz offensichtlich eine ultra-neoliberale, faschistische Transformation erlebt und Kritik daran auch vor vier Jahren deutlich war, wenn man auf russische Linke hörte. Ein weiteres Beispiel ist die Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien, bei der die Militärdiktatur in den 24 Tagen der Dauer des Turniers ihre Macht festigte, indem tausende Oppositionelle gefoltert und umgebracht wurden. Nach außen allerdings entstand ein verstörend feierliches Bild eines Fußballfests, dem sich die Fifa sehr bereitwillig fügte. Auch das zweitälteste Turnier fällt in diese „Tradition“: 1934 fand die WM in Italien statt, die Hitler später als Vorbild seiner olympischen Spiele ´36 bezeichnen sollte. Mussolini nutzte das Turnier vollumfänglich als Werbung für den italienischen Faschismus und die italienische Mannschaft gewann die Heim-WM sogar, wenn auch unter lautstarken Bestechungsvorwürfen.

Kommen wir zur Frage zurück, ob ein Boykott der WM in Katar sinnvoll sein kann und dafür braucht es ebenfalls eine Analyse des Fußballs in seiner eingehegten und marktkonformen Form. Indem wir uns der Funktionsweise des zeitgenössischen Spiels mit dem runden Leder widmen, lässt sich auf einer fußballerischen Ebene feststellen, an welchen Stellen man politisch kämpfen muss, um diesen profitorientierten und kapitalistischen Typus von Fußball einzudämmen und eine demokratische und selbstorganisierte Alternative aufzubauen.

Wenn die Sprache von einem marktkonformen oder kapitalistischen Fußball ist, soll der Fußball als Teil der Unterhaltungsindustrie gemeint sein, der nach dem berühmten Primat der Wirtschaftlichkeit zu funktionieren hat. Die Profitabilität in der Unterhaltungsindustrie stellt sich durch den Konsum ein, der im Fußball von den Massen an Fußballfans garantiert wird. Millionen von kauf- und ausgabewilligen Fans, die ihr Lieblingshobby als Absatzmarkt profitabel machen. Bräche dem Fußball sein Absatzmarkt, sprich seine Fans, weg, löste sich diese Profitabilität auf und die Blase des big business Fußball würde wohl platzen.

Aber Unterhaltung ist nur eine Seite der Medaille, denn Fußball ist offensichtlich mehr als nur ein Produkt, dass zum Konsum und dadurch zur Befriedung führt – Fußball ist die größte und beliebtestes Sportart der Welt. Seine Fans könnten die größte soziale Bewegung der Welt sein und sie sind kritisch, im Fußball wie im gesellschaftlichen Zusammenleben. Als die Gezi-Proteste gegen die Rodung eines Istanbuler Parks und damit indirekt gegen den faschistischen Präsidenten Erdoğan im Jahr 2013 stattfanden, vereinten sich Ultras der drei großen Vereine der Stadt. Ultras sind grundsätzlich als fanatische Anhänger eines Vereins zu verstehen, die sich autonom organisieren und als Kern aktiver Fans gelten. In Istanbul überwanden Ultras von Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray ihre jahrzehntelange Feindschaft und schlossen sich den Protesten an: als Schlägertrupps der Revolution.

Der marktkonforme Fußball hat deshalb Angst vor seinen Fans, denn sie sind einerseits auf ihren Konsum angewiesen – andererseits braucht er sie auch als Stimmungsfaktor im Stadion. Als Mitproduzenten des Fußballs, der verkauft werden soll. Ihr emanzipatorisches Potential macht sie gefährlich, weshalb sie eingehegt werden müssen. Wehe vor den Fans, die als gesellschaftlicher Akteur ihre Rolle als gegenpolitischer Machtfaktor einnehmen.

An diesem Punkt angekommen, muss der Blick sich auf die Fußballverbände richten. Die Fifa ist in einer entscheidenden Rolle, nicht nur bei der WM-Vergabe, sondern auch in der Erhaltung des sozialen Friedens im Fußball. Sie nimmt in diesem die Rolle der organisierenden Institution ein, die den Anspruch erhebt, Fußball global zu organisieren. Dadurch wird der Klassencharakter der Fifa – wie anderer Fußballverbände auf regionaler, nationaler oder kontinentaler Ebene übrigens auch – deutlich. Sie haben auf Absicherung und Markterweiterung zu achten. Engels Konzept des »ideellen Gesamtkapitalisten« beschreibt eigentlich im Sinne der Form Staat die Funktionsübernahme der Schaffung von Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und deren politische Absicherung. Institutionell betrachtet nehmen Verbände eine sehr ähnliche Rolle ein, indem sie die Organisation des Fußballs garantieren und ihn gleichzeitig strukturell absichern. Sie schaffen die marktkonforme Grundlage im Fußball durch TV-Verträge und Sponsoren, und sichern ihn gleichzeitig ab, wenn einzelne Vereine das ganze Produkt in Gefahr bringen. Die versuchte Gründung einer geschlossenen, paneuropäischen Liga beweist dies, als zwölf der größten Vereine versuchten, aus den Strukturen des europäischen Dachverbands, der Uefa, auszubrechen. Die Pandemie brachte viele an eine finanzielle Klippe, wodurch ein neuer Wettbewerb mit einer Milliardenspritze der US-amerikanischen Bank J.P. Morgan anzog. Weil aber die Fans auf die Barrikaden gingen und sich eine Massenabkehr andeutete, zwang die Uefa alle 12 Vereine zur Abkehr und reformierte stattdessen die hauseigene Champions League, den europäischen Spitzenwettbewerb, im Sinne dieser Vereine um.

Für den Weltverband Fifa sind die Weltmeisterschaften die lukrativste und wichtigste Einnahmequelle. Demnach müssen diese Turniere in Ländern ausgetragen werden, die qualitativ hochwertige Stadien bieten, eine Wohlfühlatmosphäre für die geldbringenden Sponsoren schaffen und einen „reibungslosen“ Ablauf garantieren können. Wir können uns alle denken, welche Staaten dafür eher in Frage kommen. Welche Branchen und welche Unternehmen sich davon anziehen lassen, zeigt aber auch schon der deutsche Fußball wunderbar auf: Sports washing ist auch hierzulande beliebt geworden, um durch den Sport und seine positive Verankerung bei vielen Fans für das Aufpolieren des eigenen Rufs zu nutzen. Die Immobilienbranche unterstützt deshalb einige deutsche Profivereine sehr aggressiv. So sind bei den Bundesligisten und Traditionsvereinen VfL Bochum und dem 1. FC Union Berlin jeweils Immobilienunternehmen als Trikot- und Hauptsponsoren sicher, bei Werder Bremen ist das Stadion sogar nach einem Unternehmen aus derselben Branche benannt. Was wir bei der Weltmeisterschaft erleben, ist nur größer und aufgeblasener, das verdeutlichen die finanziellen Zahlen. Bei der vorletzten WM in Brasilien konnte die Fifa über 2 Milliarden Euro zurück nach Zürich mitnehmen, wo sie als offiziell gemeinnütziger Verein keinen Cent versteuern musste. Die verkauften Marketingrechte an Sponsoren machen fast ähnlich viel aus: Coca-Cola, Adidas, McDonalds und Co. investieren gemeinsam mit anderen Sponsoren ebenfalls einen Milliardenbetrag in die Fifa, um als Exklusivsponsoren im Scheinwerferlicht des größten Fußballturniers der Welt glänzen zu können und erzielen daraus ebenfalls Milliardenprofite.

Ist der Boykott die Lösung für all diese Probleme? Sicherlich nicht, aber er wäre in vielerlei Hinsicht begrüßenswert. Kritik an dem Emirat Katar, das in seiner Staatsform keinerlei gesellschaftliche Emanzipation zulässt, ist wichtig. Das globale Phänomen der Arbeitsmigration ist menschenunwürdig und verletzt grundlegende Menschenrechte. Die WM dient dem Sports washing Katars und zahlreicher Sponsoren der Fifa, die damit direkte oder mittelbare Verantwortung für über 15.000 gestorbene Menschen tragen und bis heute in vielen Fällen die Aufklärung verhindern. Aber Boykotte wandeln sich in den letzten Jahren zur kapital-konformen Protestform, weil sie uns Zuschauer*innen wenig kostet.

Wir können uns immer noch von anderen Formen der Unterhaltungsindustrie ablenken und erleichtern lassen. Die Idee, uns als Fans einfach dem marktkonformen Fußball zu entziehen und die Blase platzen zu lassen – die ist sehr romantisch, aber sie bleibt im vorpolitischen Raum verhaften. Was es braucht, sind demokratische Gegenkonzepte und Alternativvorstellungen eines anderen Fußballs.

Deshalb gilt bei der WM wohl umso mehr, was eine Ultragruppierung der Fortuna Düsseldorf zu Beginn der Pandemie schrieb: „Erst überwinden wir den Kapitalismus, dann holen wir uns den Fußball zurück!“ Diese Aussage fasst das Dilemma vieler progressiver Fußballfans zusammen. Es gibt zwar überall Proteste – nicht nur gegen Katar, sondern auch gegen andere Auswüchse des marktkonformen Fußballs. Aber es existiert kaum ein gemeinsames Verständnis über die Funktionsweise dieses Fußballs. Liebe und Hingebungswille allein reichen nicht aus für eine Veränderung, es braucht Theorie und Analyse dessen, was bekämpft werden soll. Nur dann lässt sich auch die Protestform des Boykotts nutzen, um Mehrheiten für einen anderen Fußball zu organisieren. Bekämpfen wir Katar, bekämpfen wir die Fifa, bekämpfen wir den marktkonformen Fußball an jeder Stelle – Dann eröffnet uns ausgerechnet der Fußball ein Fenster in eine schönere Zukunft!

# Bildquelle: https://mobile.twitter.com/f95broetchen/status/1514263956025716750

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