Algorithmische Steuerung der Arbeit und Potentiale des Widerstands – 40 vorläufige Thesen

24. März 2022

Kleinteiligte algorithmische Steuerung ist auf dem Vormarsch in die Arbeitwelt. Elmar Wigand hat, inspiriert durch Lektüre von Simon Schaupps Studie „Technopolitik von unten.“ und Gesprächen mit dem Autoren, 40 vorläufige Thesen zu dieser Entwicklung aufgestellt. Eine Möglichkeit diese Thesen und das Thema allgemein zu diskutieren ist folgende Veranstaltung mit dem Arbeitssoziologen Simon Schaupp in Berlin:
Wenn dein Boss ein Algorithmus ist. Solidarität & Widerstand in digital gesteuerter Niedriglohnarbeit. Samstag, 26. März 2022, 19:00 Uhr, Café Wostok, Weitlingstr. 97, 10317 Berlin-Lichtenberg. Live-Stream auf youtube.

Was haben Ryanair-Pilot:innen, Spieler des FC Schalke 04, Fahrradkuriere von Lieferando und Arbeiter:innen bei Amazon gemein? Sie alle werden digital erfasst, analysiert, kontrolliert und bewertet. Während die Spieler des FC Schalke zumindest beim Spiel selbst noch frei entscheiden können (oder müssen), sieht es in der Nachbearbeitung des Spieltags, im Training oder beim Scouting neuer Talente schon anders aus. Piloten haben durch Automatisierung und maschinelle Steuerung faktisch immer weniger zu tun – auch wenn die Verantwortung für Leib und Leben der Passagiere gleich bleibt. Ermüdung (Fatigue) durch ständiges Starren auf Bildschirme, ständige Wachsamkeit bei faktischem Nichtsmehrtunmüssen, ist gerade bei Langstreckenflügen eines ihrer größten Probleme. Während dessen sollen Amazon-Arbeiter:innen durch kleine mobile Endgeräte (Handys/Armbanduhren) nicht nur gelenkt, sondern auch getrackt und durch Vibrationen gezielt manipuliert werden.

Wir haben es mit wichtigen Umwälzungen zu tun, die menschengemacht sind und daher von der Mehrheit der Menschen auch gestaltet, vielleicht sogar zum Scheitern gebracht werden können. Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung sind Lohnabhängige. Wir müssten uns als solche bloß organisieren…

Die folgenden Thesen dienen als Grundlage für Diskussionen. Sie sind nicht in Stein gemeißelt, sondern vorläufig und als Einladung zu verstehen, sie gemeinsam weiter zu entwickeln.

  1. Algorithmische Steuerung zielt auf die Entwertung der Arbeitenden und ihrer Tätigkeit zwecks Steigerung des Profits.
  2. Die Entwertung der Arbeit durch algorithmische Steuerung geschieht durch totalitäre Überwachung, Kontrolle und Angst vor Strafe.
  3. Die Arbeitsleistung der Beschäftigten soll ergänzend zu Überwachung und Kontrolle auch durch Anreize und Belohnungssysteme gesteigert werden.
  4. Die algorithmische Steuerung geht Hand in Hand mit Automatisierung, Digitalisierung und virtueller Vernetzung.
  5. Es gibt keinen Weg zurück in den vorherigen Zustand. Die Technologien, die der algorithmischen Steuerung zugrunde liegen – Smartphones (mobile Endgeräte), digitale Plattformen (Webseiten, Google Maps, Clouds, Apps etc.), soziale Medien (Chatgruppen, Slack, Discord etc.), Kontroll- und Analyseprogramme – sind nicht mehr wegzudenken. Sie müssen aber ganz dringend anders gedacht, demokratisch kontrolliert und zum Wohle der Allgemeinheit umfunktioniert werden.
  6. Es gibt zwei Entwicklungslinien, die teils konkurrieren, sich zum Teil ergänzen: Roboterisierung (das vollständige Ersetzen menschlicher Arbeit) und Automatisierung menschlicher Arbeit samt algorithmischer Steuerung. Derzeit scheint die algorithmische Steuerung größere Gewinnerwartungen zu versprechen. Die Robotertechnik hinkt den Zukunftserwartungen hinterher, die seit den 1970er Jahren als Science-Fiction oder Dystopien kursierten.
  7. Eine neue Technologie setzt sich nie automatisch und linear durch, sondern wird in verschiedenen Milieus und Klassen und Rechtsrahmen (Nationalstaaten) teils völlig unterschiedlich interpretiert, akzeptiert, abgelehnt oder bekämpft.
  8. Die Durchsetzung einer neuen Technologie gelingt den Herrschenden und Besitzenden selten so, wie sie es sich vorstellen. Sie ist ein Ergebnis von Klassenkämpfen, die auf historischen Erfahrungen basieren und aufsetzen. Gesellschaften, Klassen und Milieus weisen große Unterschiede in der Nutzung und Akzeptanz von Technologie auf.
  9. Der Motor der Entwicklung sind Krisen des Kapitals – Überakkumulation, Verwertungskrisen, Profit- und Kreditklemmen, Klassenkämpfe und (verlorene) Kriege. Die Hoffnung des Kapitals besteht darin, einen neuen mittelfristigen Boom durch Umwälzung der Verhältnisse und Verdrängung der alten Ökomomie zu schaffen.
  10. Wir sind Zeugen einer technologische Revolution, die auf allen Ebenen angreift. Ihr sind die bestbezahlten Lohnabhängigen – Piloten, Fußball-Bundesliga-Spieler, Ärzte und IT-Spezialist:innen – ebenso unterworfen wie die am schlechtesten bezahlten wie z.B. scheinselbständige Fahrer:innen von Uber Eats, Amazon Flex und andere.
  11. Der technologische Angriff betrifft also nicht nur Niedriglohnarbeiter:innen, sondern alle Beschäftigten. Es handelt um eine Umwälzung, die nicht nur aus moralischen oder menschenrechtlichen Gründen gesamtgesellschaftliche Beachtung verdient.
  12. Die algorithmische Steuerung ist ein technologischer Angriff auf Facharbeit, Tarifverträge und Lohnniveaus.
  13. Der technologische Angriff geht einher mit einem juristisch-betriebswirtschaftlichen Angriff auf Arbeitsstandards, der parallel stattfindet, aber sich nicht im Gleichschritt vollzieht: Scheinselbständigkeit, Franchising, Sub-Subunternehmertum, Auslagerung, Arbeit auf Abruf, Kettenbefristung.
  14. Der einzelne Arbeiter, die einzelne Arbeiterin soll leicht ersetzbar sein. Oder das zumindest glauben. Die Arbeitenden werden von Software und mobilen Endgeräten so gesteuert, dass sie immer weniger Qualifikation und Anlernzeit benötigen.
  15. Die algorithmische Steuerung entkoppelt die Arbeit auch weitgehend von der landesüblichen Nationalsprache, so dass ein rudimentäres Englisch bzw. internationales Pidgin-English ausreicht, um arbeiten zu können. Dadurch vergrößert, ja globalisiert sich das Einzugsgebiet, aus dem die Beschäftigten kommen. Es entsteht, zumindest in Metropolregionen, eine bunt gemischte internationale Belegschaft.
  16. a) Der unpersönliche Algorithmus soll die Steuerung durch menschliche Vorgesetzte ersetzen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass intensives Management hohe Kosten verursacht, die eingespart werden müssen. b) Die Arbeitenden frustriert es, keine direkten Ansprechpartner:innen selbst für grundlegendste Anliegen zu haben.
  17. Dem (Alb-)Traum einer vollständigen algorithmischen Steuerung liegt ein falsches Menschenbild zu Grunde, das lautet: Es gibt keine Gesellschaft, nur unverbundene, vereinzelte Individuen, die sich dauerhaft durch unpersönliche Kommunikation, Maschinen und Programme steuern lassen.
  18. a) Die landläufige Annahme, dass der Mensch Fehler macht, aber die Technik nahezu perfekt funktionieren könnte ist falsch. Technik, Management, Logistik und Geldflüsse funktionieren meist fehlerhaft bis mangelhaft – vor allem schmerzt das bei Lohn, Boni und Trinkgeld, die meist zu Lasten der Beschäftigen falsch berechnet werden. b) Darin hat sich im Vergleich zum Fabriksystem wenig geändert: Ohne das geheime Wissen der Beschäftigten und deren Umgehungsstrategien läuft fast nichts. Auch die Computersteuerung der Arbeit muss von den Arbeitenden stets umgangen, relativiert oder sogar ausgetrickst werden, damit der Laden läuft.
  19. Die technischen Möglichkeiten und der Druck zur Kostensenkung und Profitmaximierung verleiten das Management zu kriminellen Handlungen gegenüber Beschäftigten (Lohnraub, Trinkgelddiebstahl, Arbeitszeitbetrug), Zulieferern, Subunternehmern und Kunden.
  20. a) Beschäftigte, die algorithmischer Steuerung unterworfen sind, empfinden einen grundlegenden Mangel, der sie – in der derzeitigen Entwicklungsstufe – fast automatisch zu arbeitgeberunabhängiger Organisierung treibt. b) Beschäftigte haben – wie alle Menschen – das natürliche Bedürfnis nach Sozialisierung, Anerkennung, Austausch, Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit, Orientierung, Gerechtigkeit; sie entwickeln daraus Organisierung und Interessenvertretung, im Konfliktfall auch Renitenz.
  21. Beschäftigte, die algorithmischer Steuerung unterworfen sind, empfinden die Verhältnisse, denen sie unterworfen sind, als zynisch, ungerecht, ineffizent und unnatürlich.
  22. Humor, Spott und Zynismus sind deutliche Vorboten von Rissen im System der Herrschaft. Diese Ausdrucksformen sind zweischneidig und müssen genau interpretiert werden, da sie die Herrschaft stabilisieren können – als folgenloses Dampfablassen – oder aber die Herrschaft erschüttern können – als Vorform arbeitgeberunabhängiger Organisierung. Humor kann eine Waffe sein.
  23. Viele Beschäftigte sind hoch qualifiziert und daher von der Arbeit unterfordert. Sie sind durch wirtschaftliche Verwerfungen (Perspektivlosigkeit in der Heimat), oft auch nur für eine Zwischenzeit (Studium, Warten auf etwas Besseres) in dieser Arbeit gelandet. Der Impuls, Betriebsräte und Gewerkschaftsgruppen zu gründen rührt auch aus dem Bedürfnis, brach liegende Fähigkeiten einzusetzen und zu entwickeln. Die Weiterbildungs-, Gestaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten von Betriebsräten und Gewerkschaften sind eine Art „zweiter Bildungsweg“ oder alternative Karriere.
  24. Traditionelle Formen wie Betriebsräte, Betriebsgruppen und Gewerkschaften oder vergleichbare Vorformen entstehen derzeit fast zwangsläufig.
  25. Hard Power (Union Busting) setzt darauf, arbeitgeberunabhängige Organisierung im Keim zu ersticken.
  26. Soft Power versucht die Bedürfnisse nach arbeitgeberunabhängiger Organisierung aufzugreifen und zu pervertieren, zu karikieren, zu unterwandern und zu korrumpieren.
  27. Management und Arbeiterunruhe sind zwei korrespondierende Säulen. In Deutschland reagieren Management und Co-Management recht sensibel auf Veränderungen im Verhalten der Beschäftigten, insbesondere wenn es um Renitenz, Streiks und ähnliche Formen geht.
  28. Management, Co-Management und ihre Hilfskräfte interessieren sich in Deutschland mehr für Arbeiterunruhe und Risse im System der Arbeit als (selbsternannte) Revolutionäre, (eingebildete) Linke und (sogenannte) Radikale. (Vermutlich werden sie auch diesen Text intensiver studieren und ernster nehmen, als die eigentliche Zielgruppe dieser Zeilen 😉 .)
  29. Die Aufgabe von Radikalen (Linken, Klassenkämpfer:innen, Sozialist:innen & utopischen Romantiker:innen etc.) dürfte es sein, das Salz in der Suppe oder die Hefe im Teig zu sein. Also als verschwindende Minderheit dennoch Prozesse voran zu treiben und Organisierung schmackhaft zu machen.
  30. Die traditionelle Gewerkschaftsbewegung – in Deutschland bestehend aus sozialdemokratisch dominierten Industriegewerkschaften – hat aus verschiedenen Gründen (derzeit noch) große Probleme, algorithmisch gesteuerte Beschäftigte zu organisieren. Möglicherweise ist sind andere Formen – berufsständische, syndikalistische oder Mischformen – passender bzw. attraktiver.
  31. Die traditionellen Gewerkschaftsapparate finanzieren sich über Abgaben von einem Prozent vom Monatslohn dauerhaft tätiger Festangestellter, der durch Tarifverträge und periodische Steigerungen erhöht werden soll. Dieses Modell greift oftmals ins Leere, wenn die Fluktuation der Belegschaft sehr hoch ist und der Gewerkschaftsbeitrag von den Beschäftigten als zu hoch empfunden wird. Zudem erscheint das Lohnniveau der Gewerkschaftssekretäre vielen Niedriglohnbeschäftigen obszön.
  32. Für Niedriglöhner:innen, die am Monatsende kaum Geld über haben, sind 1 Prozent des Brutto-Lohnes eine zu hohe Abgabe. Hier muss die Abgabe ein Teil des zur Verfügung stehenden monatlichen Geldes sein (nach Abzug von Miete, Krankenversicherung, Monatsticket), nicht des Bruttoverdienstes. Oder die Finanzierung der Organisation bzw. Kampagne muss über Spenden und Fundraising erfolgen.
  33. Professionelle Gewerkschaftsapparate und ihre Angebote bieten den Beschäftigten (derzeit) nicht das was sie suchen und was ihnen fehlt.
  34. Möglicherweise müssen neue Formen gefunden werden. Möglicherweise müssen auch ganz alte Formen wieder belebt werden – Arbeitervereine, Gewerkschaftslokale, Gilden oder Ähnliches.
  35. Das Zusammenkommen unterschiedlichster Menschen aus unterschiedlichsten Ländern – bei Berliner Supermarkt-Lieferdiensten wären das z.B. Indien, Argentinien, Ghana, Deutschland, Tunesien, Algerien – kann Spaß machen und bereichernd sein. Gerade wenn die Arbeit unterfordert und langweilig ist, entstehen fast automatisch Cliquen und Freundschaften, Spiele und Palaver.
  36. Die Beschäftigten besitzen mehr Produktions- oder Organisationsmacht als sie glauben.
  37. Viele Online-Firmen – Amazon, Lieferando, Gorillas, Zalando – leben vom Marken-Image bzw. einem Mythos, der oft mehr Geld wert ist als ihre Produktionsanlagen.
  38. Das digitale Proletariat arbeitet an zwei neuralgischen Schnittstellen: Der Programmierung und Optimierung der Software und der Auslieferung zum Kunden auf den letzten Metern. Der letzte Meter, der direkte Kundenkontakt, kann im Konfliktfall genutzt werden, um das Marken-Image anzugreifen.
  39. Der Konsumstreiks (Boykott) ist eines der ältesten Mittel der Arbeiterbewegung, das auf seine Wiederentdeckung wartet. Viele historische Streiks wurden erst durch einen flankierenden Konsumstreik gewonnen.
  40. Die algorithmische Steuerung und Erfassung betrifft nicht nur die Beschäftigten, sondern auch Kundinnen und Kunden. Möglicherweise besteht im Data-Mining, der Erfassung und Manipulation der Konsument:innen und ihres Verhaltens, sogar der produktivere Teil des gesamten Geschäftsmodells – wie im Fall von Facebook und Google. Daher haben die Kund:innen ebenfalls allen Grund, sich angegriffen zu fühlen (etwa in ihrer informationellen Selbstbestimmung) und sich mit Lohnabhängigen zu solidarisieren, wenn diese im Arbeitskonflikt sind.
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Ein Kommentar über “Algorithmische Steuerung der Arbeit und Potentiale des Widerstands – 40 vorläufige Thesen”

    ole 30. März 2022 - 12:42

    Vorschlag: Wie wäre es mit einer gewerkschaftlichen Organisation per App? Das wäre dezentral und kostengünstig. Und mit der Nutzung von Apps sind die betreffenden Arbeiter*innen bereits vertraut.