Eigentlich wollte Ibrahim Bilmez gar nicht Jura studieren, mittlerweile ist er seit 18 Jahren Öcalans Verteidiger. Wir haben Bilmez zusammen mit Genoss*innen von ANF und der VVN/BdA München in Athen getroffen, am Rande der Eröffnungsveranstaltung einer Delegation aus Journalist:innen, Politiker:innen, Künstler:innen, Philosoph:innen und Aktivist:innen, die auf einem Schiff von Griechenland nach Italien reiste. Die Delegation lehnt sich symbolisch an das Jahr 1998 an. Damals reiste Öcalan – auch per Schiff – nach Neapel, wo er ebenfalls am 12. November an kam. Die mehrmonatige Flucht durch verschiedene Länder, auf der er sich damals befand, endete schließlich mit seiner Entführung durch den türkischen Geheimdienst MIT vor der griechischen Botschaft in Kenia, zu deren Verlassen er zuvor von der griechischen Regierung praktisch gezwungen wurde. Seitdem wird Abdullah Öcalan, Anführer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK), auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten. Einen großen Teil der Zeit verbrachte er dort bisher in Isolationshaft und auch von seiner Familie und der Öffentlichkeit wird er immer wieder über lange Zeiträume abgeschnitten. Selbst seinen Anwält:innen wurden in der Vergangenheit immer wieder mit offensichtlichen Lügen Haftbesuche verwehrt.
Der Weg von Ibrahim Bilmez zum Verteidiger Öcalans ist lang. Aufgewachsen in Dyarbakir spricht er als Kind nur Kurdisch. Im Grundschulalter muss er dann – wie so viele andere damals – feststellen, dass seine Muttersprache an der Schule verboten ist. Die Hintergründe solcher Regeln sind für ihn als Kind noch nicht so richtig greifbar. Sein politische Bewusstsein erzählt er, bildet sich bei ihm im Jugendalter. Damals besucht er ein Internat in Izmir um dort seinen Abschluss zu machen. Hier merkt er zum ersten Mal, was es bedeutet Teil einer Minderheit in der Türkei zu sein und trifft gleichzeitig auf ältere kurdische Jugendliche, die ihn, wie er sagt „über die kurdische Frage ein wenig aufklärten“.
Kurz vor der Jahrtausendwende beginnt er dann schließlich doch mit dem Jurastudium, nachdem er Dostojewskis Schuld und Sühne gelesen hat. Im selben Jahr wird auch Abdullah Öcalan verhaftet und zunächst zum Tode verurteilt. Nach Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei im Jahr 2005 wird das Urteil schließlich in lebenslange Haft umgewandelt. Zu diesem Zeitpunkt beschließt Ibrahim Bilmez, sein Studium möglichst schnell abzuschließen und Anwalt Öcalans zu werden. Er hatte sich, wie viele andere Kurd:innen, bereits mit seinen Büchern auseinandergesetzt und war an der Marmara-Universität in Istanbul mit der kurdischen Jugendbewegung in Kontakt gekommen. Zwei Jahre später ist es dann so weit: Nachdem er 2001 sein Studium in Istanbul abschließt, beantragt er tatsächlich, Abdullah Öcalan vertreten zu dürfen. Die Genehmigung wird ihm allerdings erst zwei Jahre später erteilt, 2004 kommt es dann schließlich zu einem ersten Treffen auf Imrali. Dieses, so Bilmez, habe sein „Leben verändert“. Für ihn sei das eine „sehr ehrwürdige Aufgabe“ gewesen, welche gleichzeitig natürlich auch mit Gefahren verbunden war.
Denn Abdullah Öcalan ist kein normaler Häftling. Wie alle politischen Gefangenen, ist auch er nicht einfach für die ihm vorgeworfenen Anklagepunkte inhaftiert, sondern fungiert als Stellvertreter in einer weitaus größeren Auseinandersetzung.
„Aber als ich ihn in Imrali von Angesicht zu Angesicht traf, auch unter den schwierigen Bedingungen dort, ist mir bewusst geworden, dass er über einen sehr starken Willen zum Frieden verfügt. Sein zentrales Anliegen ist die Lösung der kurdischen Frage. Ich habe dabei auch für mich festgestellt, dass die Verteidigung von Herrn Öcalan zugleich bedeutet, das kurdische Volk zu verteidigen. Die Herangehensweise des Staates Herrn Öcalan gegenüber spiegelt das ja auch wider. Der Umgang des Staates mit Herrn Öcalan entspricht seinem Umgang mit dem kurdischen Volk. So betrachtet, kann auch gesagt werden, dass der Staat mit dieser Herangehensweise Herrn Öcalan als legitimen Repräsentanten der Kurden sieht und anerkennt.“
Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs wird deutlich, was unter diesen „schwierigen Bedingungen“ zu verstehen ist. Bei Ibrahim Bilmez erstem Besuch im Gefängnis wurden die vier Anwält:innen bereits vor dem Betreten der Fähre von Bursa Richtung Imrali durchsucht, inklusive ihrer Kleidung. Ein zweites Mal bei Ankunft auf der Insel und ein drittes Mal 200 Meter weiter, wie Bilmez betont. Nach den wiederholten Kontrollen, welche laut dem Anwalt in dieser Form in der Türkei eigentlich nicht zulässig seien, werden sie schließlich in das Besuchszimmer direkt neben Öcalans Zelle geführt. Zu diesem Zeitpunkt ist er der einzige Gefangene auf Imrali. Beide Räume sind in etwa 12 Quadratmeter groß, das Gespräch dauert genau 60 Minuten. Diese Erfahrung scheint Imrahim Bilmez geprägt zu haben:
„Ich möchte noch dieses Detail erwähnen: Wir waren ja wie gesagt vier Anwältinnen und Anwälte und wurden nacheinander herausgebracht. Ich war der letzte, der in dem Raum zurückgeblieben war und musste dort fünf Minuten warten. Alles war weiß und kein Geräusch drang in den Raum. Diese fünf Minuten allein in dem Raum haben mir ein wenig vermittelt, wie es ist, isoliert zu sein. Herr Öcalan hatte zu der Zeit bereits einige Jahre in solch einer Isolation verbracht“
Doch nicht nur die Haftbedingungen selbst sind menschenunwürdig. Auch der Kontakt zur Verteidigung wird von den Behörden immer wieder massiv eingeschränkt. So erzählt Bilmez, dass sie in den ersten Jahren noch regelmäßig die Gelegenheit hatten, ihren Mandanten zu sehen. Doch der 27. Juli 2011 ist bis heute der letzte Tag, an dem er selbst zuletzt von Angesicht zu Angesicht mit Abdullah Öcalan sprechen konnte. Bis 2016 stellten sie wöchentlich Besuchsanträge, welche immer wieder mit fadenscheinigen Begründungen, wie schlechtem Wetter oder einer kaputten Fähre abgelehnt wurden. Nach der Verhängung des staatlichen Ausnahmezustands als Reaktion auf den Putschversuch im selben Jahr, wurde ein offizielles Besuchsverbot per Dekret erlassen. Daraufhin tat sich in der Angelegenheit für die nächsten drei Jahre von Seiten der Behörden erst einmal gar nichts. Leider brauchte es laut Ibrahim Bilmez erst den Aufsehen erregenden Hungerstreik im Jahr 2019, welcher durch die HDP-Abgeordnete Leyla Güven angetoßen wurde und dem sich internationale Aktivist:innen, wie politische Gefangene anschlossen, um das Besuchsverbot zu durchbrechen. Insgesamt waren es laut Bilmez Tausende, welche im Kampf gegen die Isolationshaft die Nahrung verweigerten und am Ende zumindest einen Teil ihres Ziels erreichten:
„Nach all dem war der Staat gezwungen, 2019 Anwaltsbesuche zu genehmigen. Es fanden fünf Besuche statt. Wir waren vier Anwältinnen und Anwälte, die Besuchsanträge gestellt haben, darunter zwei neue. Die Genehmigung gab es jedoch nur für die beiden neuen Unerfahrenen. Seitdem gab es keine weiteren Treffen mit Herrn Öcalan mehr.“
Durch die erneute Abschottung von der Öffentlichkeit entstanden im März 2021 Gerüchte, Abdullah Öcalan sei nicht mehr am Leben. Daraufhin gab es internationale Proteste und die Forderung eines Lebenszeichens. Anwalt Bilmez erzählt, dass es daraufhin ein Telefongespräch zwischen dem Inhaftierten und seiner Familie gegeben habe, was jedoch bereits nach drei Minuten unterbrochen wurde. Auch zu drei weiteren Gefangenen, welche 2009 nach Imrali gebracht wurden, bestehe kein Kontakt, sie seien vollständig isoliert.
An diesem prominenten Beispiel zeigt sich, wie der türkische Staat mit seinen politischen Gegner:innen umgeht: Sie werden oft aufgrund von absurden Vorwürfen zu langen Haftstrafen verurteilt und sowohl vor Gericht, als auch im Gefängnis ihrer grundlegenden Rechte beraubt. Auch Ibrahim Bilmez und circa 40 weitere Anwält:innen mussten das vor zehn Jahren am eigenen Leib erfahren. Sie wurden festgenommen, er selbst saß daraufhin zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Seitdem ist er wieder frei, doch das Verfahren läuft noch – ihm drohen bis zu 25 Jahre Haft. „Das wird uns aber nicht daran hindern, weiterhin Herrn Öcalan zu verteidigen“, so Bilmez. Im Gespräch wird deutlich, wie viel Gewicht sowohl er, als auch viele andere Menschen Abdullah Öcalan bei der Lösung der Kurdenfrage beimessen. Kein Wunder, angesichts dessen, dass er auch aus dem Gefängnis heraus noch Bücher geschrieben und auf das politische Geschehen eingewirkt hat.
Auf die Frage, ob er Hoffnung habe, dass Öcalans Freilassung tatsächlich durch öffentlichen Druck erfolgen erreicht werden könnte, antwortet Bilmez uns:
„Ich habe eben nicht grundlos erwähnt, dass der türkische Staat Herrn Öcalan eigentlich als wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Akteur in einer Lösung der kurdischen Frage betrachtet. Man weiß, dass Herr Öcalan sowohl den Freiheitswillen als auch die Kraft der Kurdinnen und Kurden repräsentiert. (Er) hat lange vor seiner Zeit auf Imrali seit 1993 immer wieder Initiativen für den Frieden eingeleitet, zum Beispiel durch mehrere einseitige Waffenstillstände vonseiten der PKK. Er wollte auch die Zeit und Situation auf Imrali für den Frieden nutzen und versuchte, seine Inhaftierung in eine Chance für die Lösung der kurdischen Frage zu wenden.(…) Eines möchte ich an dieser Stelle nochmals betonen, und ich habe mir ja persönlich einen Eindruck machen können: Ein Leben auf Imrali zu führen, ist eine unvorstellbare Herausforderung und unmenschlich. Herr Öcalan nutzt sie, nur um die kurdische Frage zu lösen. Er hätte anfangs einen ganz anderen Weg bestreiten können. Er hat jedoch beschlossen, für den Frieden auf Imrali zu überleben. Um auf die Antwort Ihrer Frage zu kommen: Herr Öcalan hat stets versucht, den ganzen Prozess und die Situation auf Imrali in Mittel und Möglichkeiten für eine Lösung zu verwandeln. Seine Verteidigung war immer politisch (…). Er hat sich nicht rechtlich bzw. mit juristischen Mitteln verteidigt, sondern sah seine Situation immer als Ausdruck der kurdischen Frage. Er sprach immer als Repräsentant des kurdischen Volkes, das hat er sowohl vor Gericht als auch in seinen Verteidigungsschriften, die dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgelegt wurden, getan. Darin bat er immer wieder auch Lösungsmöglichkeiten an. In seinen Verteidigungsschriften unterstreicht er ja selbst, dass sein Fall ein politischer ist, der auch nur politisch gelöst werden kann. Daher denke ich, dass die Öffentlichkeitsarbeit und politische Kampagnen wie diese für die Freiheit von Abdullah Öcalan eine große Bedeutung haben und bei der Lösung der kurdischen Frage eine wichtige Rolle spielen.“
Anhand der Inhaftierung Abdullah Öcalans – aber auch vieler anderer politischer Gefangener weltweit – zeigt sich immer wieder, dass Gesetze keinem universellen Recht entspringen, sondern ihre Durchsetzung und Auslegung genauso wie der Wille zur Repression immer den aktuellen politischen Geschehnissen unterworfen sind. Auch mit Bilmez sprechen wir noch einmal über die Frage der Gerechtigkeit. Er antwortet, dass es seiner Meinung nach „keine tatsächliche Gerechtigkeit auf der Welt“ gebe, sondern diese aus der Gesellschaft heraus geschaffen werden müsse:
„Eine gerechtere Welt zu schaffen, liegt nicht in der Hand von Staaten, sondern in denen der Menschen und Völker und ihrer Kämpfe dafür.“
Zum Abschluss sprechen wir über seinen persönlichen Eindruck von Abdullah Öcalan, der Millionen Menschen auf der Welt mit seinen Ideen und Schriften geprägt hat und der einer der wenigen weltweit ist, die auch nach 22 Jahren Gefangenschaft und Isolation noch so präsent gehalten werden. Ibrahim Bilmez erinnert sich an ihre erste Begegnung:
„Er schien mir wie ein Löwe oder Panther, den man in eine Zelle gesperrt hatte. Er strahlte einen sehr starken Willen und keinerlei Angst aus. Sein einziges Streben ist die Befreiung der Kurdinnen und Kurden und die Lösung der kurdischen Frage. Ich denke, er spürt eine große Last an Verantwortung auf seinen Schultern, weil tausende junge Menschen gestorben sind, und es sterben täglich weitere. Er will, dass dieses Sterben aufhört.“
Das gesamte Interview kann auf ANF nachgelesen werden
# Titelbild: lowerclassmag