Der stechende Rauch meiner Zigarette steigt mir in die Augen. Durch die Tränen erkennt man ein jüdisches Viertel: Buchhandlungen, Markstände und Restaurants mit hebräischen Schildern. An mir laufen ein Rabbi und eine Gruppe orthodoxer Juden vorbei. Ein untypisches Bild für das tiefste Ostdeutschland. Der Wind zieht an meinen geschorenen Seiten lang, die Decke um meine Schultern rutscht herab, die Hakenkreuzbinde um meinen Arm leuchtet auf. Vor mir steht ein älterer Mann. Er schlägt die Hacken zusammen, hebt den rechten Arm und brüllt: „Sieg!“.
Drei Monate zuvor bewarb ich mich auf eine Rolle bei einer Filmproduktion in meiner Stadt – ein wenig die Kohle ausbessern, bevor das Semester anfängt: „Wird schon nicht so schwer sein, der Job.“ Dachte ich. Doch als die Casterin mein 161-Tattoo sah, fand sie es wohl lustig mich die nächsten Monate in einer SA-Uniform durch meine Heimatstadt marschieren zu lassen; Immer die gleichen 100 Meter, vor und zurück. Zehn Minuten Drehpause und dann wieder 100 Meter, vor und zurück.
„Alles auf Anfang… und bitte!“
Ich fange an zu marschieren, Zigarette an, böser Blick in die Kamera, Mann mit Kippa anrempeln, Zigarette weg, gerade stehen, Kameraden grüßen und-
„Danke aus!“
Meine Laune wird zunehmend schlechter, wieder nicht die komplette Strecke geschafft! Ich hänge meine Decke wieder um, damit die umstehenden Passanten keine Fotos von mir in der Uniform machen können. Während ich im Kopf ausrechne, wie viele Stunden ich schon arbeite, tippt mich ein anderer Komparse an der Schulter an. Er spielt einen orthodoxen Juden. Der angeklebte Bart hat gelbe Nikotinflecken, die Locken an den Seiten baumeln im Wind, der lange Mantel ist mit künstlichen Patina versetzt. Er räuspert sich.
„Na Männer!? Habt ihr meine Freunde schon verbrannt?!“ Er lacht. „Neben euch fühl’ ich mich ja wie ein Mensch zweiter Klasse!“ Ein breites Grinsen zieht sich durch den angeklebten Bart. Ich will etwas sagen, doch er lehnt sich näher ran: „Ich fühl mich ja in Deutschland auch so wie ein Mensch zweiter Klasse…“ Er blickt sich um, stellt sicher, dass ihn außer uns niemand hört und flüstert: „Ich bin ja ungeimpft.“ Später wird er noch mit anderen über die Rothschilds und Merkels vermeintlich jüdische Herkunft reden.
„Wir machen Drehfertig!“
Ich muss schnell auf Position. Verwirrt von dieser spontanen Offenbarung komme ich auf meiner Marke an. Mit einer anderen Gruppe von SA-Männern warte ich auf das Zeichen des Aufnahmeleiters. Hektisch kommt einer der Security-Mitarbeiter auf uns zu und zieht mir die Decke von der Uniform. Er tippt die Hakenkreuzbinde an, schaut mir in die Augen und mustert die anderen Nazis um mich herum:
„Geil!“ Platzt es aus ihm heraus. „Jungs. Einfach geil! Da müssen wir ein Foto machen – Alle zusammen!“
Unter meinem Atem kommt nur ein leises „Verzieh dich“ heraus.
„Alles auf Anfang….und bitte!“
Marschieren, Kippe an, böser Blick, anrempeln, Kippe aus, gerade stehen, Grüßen, „Sieg Heil!“, umdrehen und marschieren.
„Danke aus! Drehschluss für heute!“
Hektisch zieht die Filmcrew an uns vorbei. Kameras werden von ihren Stativen genommen, Scheinwerfer umher getragen, die Garderobieren hängen uns wieder die Decken um. Langsam trotten wir vom Set, um uns umzuziehen.
In meiner Stadt erzielte die AfD bei der letzten Landtagswahl 33 %. Rein statistisch kann man also davon ausgehen, dass von 100 Menschen 33 AfD-Wähler sind. An dem Set arbeiten mit mir zusammen genau 100 Komparsen und über die nächsten Tage hinweg werde ich erleben, was meine Kostüm-Uniform in einigen von ihnen auslöst.
Der nächste Drehtag bricht an. Um fünf Uhr morgens stehen wir alle wieder da um eingekleidet zu werden und indie Maske zu kommen. Ich stelle mich zu einer anderen Gruppe von Männern: Kaffee und Zigaretten sind immer noch die einfachste Form der Kumpanei auf Arbeit. Handys in den typischen Ü-40-Klapphüllen gehen um, darauf sind Fotos von einer Anti-AfD Demo nur wenige Tage zuvor zu sehen: „Da gab’s wieder Mengenrabatt bei der Antifa“ witzelt einer. In der heißen Phase der Wahlkampfs stattete Alice Weidel meiner Stadt einen Besuch ab, die 33 % wurden in der Bundestagswahl zu 35 %, der Kandidat der AfD bekam ein Direktmandat. Die Laune der Kameraden ist dementsprechend gut.
Ich werde eingekleidet, die Uniform schnürt mir die Luft ab, die Pomade lässt meine Haare in der aufgehenden Morgensonne glänzen. Mit meinem Frühstück in der Hand warte ich in der Produktionsbasis, einer Zeltstadt inmitten der Innenstadt, auf den Einsatz. Der ältere Mann aus dem Prolog tritt an mich heran:
„Morgen…“ murmel ich, er schlägt die Hacken zusammen, zeigt zweimal den Hitlergruß und geht weiter.
Der Tag ist jetzt schon gelaufen – noch bevor ich meine 100 Meter antreten muss.
Wir kommen ans Set, ich werde einem anderen SA-Mann zugeteilt, wir beide müssen heute zusammen durch das Viertel patrouillieren: Er soll dabei so tun, als würde er mir etwas erklären, ich nur nicken und zuhören.
„Wir sind wieder kurz davor…alles auf Anfang…und bitte!“
Zusammen laufen wir los. Mein Kollege legt mir den Arm um die Schulter und zieht mich ran.
10 Meter:
„…Die Soldaten werden bei den kommenden Offensiven keinen Pardon kennen. Die Divisionen werden in diesen Kampf hineingehen wie in einen Gottesdienst…“
Seine Umarmung wird fester, der Rauch seiner Zigarette schlägt mir ins Gesicht.
20 Meter:
„…Und wenn sie dann ihre Gewehre schultern und ihre Panzerfahrzeuge besteigen, dann haben sie nur ihre erschlagenen Kinder und geschändeten Frauen vor Augen und ein Schrei der Rache wird aus ihren Kehlen emporsteigen…“
30 Meter:
„…Das wir den Feind schlagen und zurückjagen werden und ich glaube so fest daran…“
40 Meter:
„…Mit Stumpf und Stiel ausrotten…“
50 Meter:
„…Bis zum letzten Blutstropfen…“
Nach 60 Metern endlich Erlösung:
„Danke aus!“
Insgesamt sechsmal hörte ich von meinem Kollegen diesen auswendig gelernten Flickteppich aus Goebbels Reden. Das „Nur so tun“, erübrigte sich nach dem ersten Stechschritt auf den heutigen 100 Metern. An der Hauswand einer koscheren Fleischerei sinke ich auf den Boden und atme durch: Endlich Pause. Einer der anderen Komparsen tritt an mich heran, wir rauchen Eine und schweigen. Es tut gut, gerade nicht reden zu müssen.
„Mein Sohn sagt immer: Papa, du redest wie ein Nazi“ sagt er beinahe melancholisch. Ich sehe ihn an. „Ich bin aber kein Nazi.“ Sein Blick ist Stur von mir abgewendet und auf eine der Garderobieren gerichtet, die mit dem Rücken zu uns steht.
„Und…“ frage ich, „Was bist du dann?“
„Unternehmensberater. Ein Unternehmensberater der einfach eine andere Meinung zu Dingen hat, als der Mainstream. Bis du ein sogenannter Nazi?!“ Fragt er mich. Ich blicke an meiner SA-Uniform herab: „Nein.“
In dem Gespräch eröffnet mir der Unternehmensberater seine Wendegeschichte. Er studierte Wirtschaft in der DDR, trat der SED bei und entnahm den Büchern des Dietz Verlags alles was man brauchte, um die Ost-Kombinate genauso erfolgreich zu gestalten wie die Konzerne im Westen.
„Und wir wollten so gut sein wie die da drüben!“ Doch als die Wende kam erübrigte sich auch der sozialistische Ehrgeiz. Er bekam eine Anstellung in einem BRD-Großkonzern: „Wir haben dort alles optimiert! Alles! 50% des gesamten Betriebs haben wir effektiviert!“
„Du hast also die Hälfte der Belegschaft entlassen?“ Frage ich zunehmend genervter.
„Nein!“ Sein Blick ist nun fest auf mich gerichtet: „Wir haben effektiviert.“
Ich bemerke, dass ich mit meiner Uniform zu einer Art Projektionsfläche werde, die die wahren Gesinnungen der Menschen um mich herum zum Vorschein holt. AfD-Wähler witzeln über den Holocaust, relativieren ihn mit der aktuellen Pandemie. Andere stehen in der Öffentlichkeit – ohne das gedreht wird – mit erhobenen rechten Arm vor mir, besorgte Bürger rezitieren Goebbels, andere erzählen über den Verlust ihrer Ideale durch die Wende. Alles auf 100 Metern Weg.
Nach Drehschluss lerne ich in der Maske einen Sportschützen kennen. Ideologisch fällt es mir schwer, ihn einzuordnen. Stolz erzählt er mir von seinen Waffen: Ein Gewehr 98 und eine M.P. 40. Beides Nachbauten der populärsten Wehrmacht-Waffen. „Total geile Dinger.“
Mein letzter Drehtag bricht an. Das Licht eines 18.000-Watt-Mondes strahlt durch die Straßen des nun zerstörten jüdischen Viertels, überall liegt Dreck, die Straßen sind nass. Künstliche Schneeflocken fallen herunter, der kalte Wind gibt uns den Rest. Dicht stehen wir zusammen, einer der Komparsen erzählt uns von einer anderen Filmproduktion, Jahre zuvor.
Ich war auch dabei und erinnere mich gut. Damals standen wir auf einem Platz mitten in der Altstadt und spielten die Bücherverbrennung nach. Die historischen Häuser waren in rote Hakenkreuzflaggen eingekleidet, die orangenen Flammen züngelten zwischen Kästner und Brecht und reflektierten sich in den Stahlhelmen der SS. Die Arme schossen in die Höhe: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“. Ich stand damals mit am nächsten am Feuer, in meiner HJ-Uniform war mir kalt und unwohl, Hitler tobte auf der Bühne, das Singen wurde lauter und lauter.
Der Mann spielte damals einen der SS-Offiziere. Er erzählt uns wie seine besten Freunde – ein Kripo-Beamter der Polizei Sachsen und ein jetziges Mitglied der AfD im Landkreis – sich freuten, in den SS-Uniformen zu stecken. Er wird unterbrochen von einem Anderen: „Scheisse ey, ihr durftet Uniformen anziehen und ich muss bei jedem Film einen Zivilisten spielen, es kotzt mich an, ich will auch eine Uniform“ Ich erkenne den Mann: Er stand bei Alice Weidels Wahlkampfveranstaltung mit dabei.
Der SS-Offizier erzählt uns, wie er und seine Freunde – der AfD-Parteisoldat und der Kripo- Beamte – vorhatten, in den SS Uniformen das Set zu verlassen um in Polen Kippen kaufen zu gehen. Sie wurden von der Security daran gehindert; mehr aus Pflichtbewusstsein als wegen allem anderen: Gelacht wurde über das Vorhaben zusammen.
Die Flamme der Feuertonne gibt kaum Wärme. Das Schneegestöber wird stärker.
„Und bitte!“
Diesmal rennen wir unsere 100 Meter. „Ey! Ische! Bleib stehen!“ Brülle ich durch die Flocken. Wir verfolgen eine Schauspielerin, sie dreht sich um, ruft etwas und wird überfahren. Der Pulk der SA-Männer bleibt schlagartig stehen, schwer atmend schauen wir auf die Leiche der Schauspielerin. „Weg hier, los!“ Wir laufen in eine Seitengasse, wie feige Schweine.
„Danke aus!“
Monate nach dem Dreh gehe ich feiern, an der Tür des Clubs steht die Security-Firma von dem Typen, der mit uns am Set Uniform-Selfies machen wollte. Eine Gruppe durchtrainierter Männer mit Boxerschnitt und bayerischer Tracht geht an der Schlange vorbei, sie grüßen die Securities, zeigen keinen Impfnachweis und gehen in den Club. Wenig später sehe ich sie an der Bar, sie begrüßen einen ihrer Kameraden auf der Tanzfläche mit Hitlergruß. Der Frei.Wild-Kutten-Träger ist aber gerade zu sehr damit beschäftigt zu Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ zu tanzen und sieht den Gruß genauso wenig, wie die Mitarbeiter des Clubs oder die Security.
Ich gehe nach Hause und laufe dabei meine 100 Meter durch das ehemalige jüdische Film-Viertel. Ein Freund ruft mich an: Er berichtet, wie vier der Securities einen Besucher des Clubs nach draußen gezerrt und verprügelt haben, dabei stützte sich einer mit seinem Knie auf den Hals des am Boden liegenden. Genauso geschah auch der rassistische Mord an George Floyd.
Am Ende der 100 Meter wird mir klar, wie viele andere diesen Spießrutenlauf gehen müssen. Tägliche Pöbeleien, rassistische Anfeindungen, sexistische Kommentare – zwar ohne Kostüm und Dreharbeiten, aber mit den gleichen 35% um sich herum und ohne das rettende „Danke aus!“.
Hinter dem Ruf nach einer Politik gegen den „links-grünen Mainstream“ oder die Altparteien, hinter dem Ruf nach konservativer Politik mit geschlossenen Grenzen versteckt sich am Ende des Tages eins: Der Ruf nach Faschismus, nach Ausgrenzung, Rassimus, Waffen. Der Ruf nach dem Recht in einer Uniform durch die Stadt zu marschieren.
Keiner der 35% wird das offen zugegeben, doch es hat nur einen Schauspieler in einer SA-Uniform und 100 Meter weg als Katalysator für diese Gesinnungsoffenbarung gebraucht.
Alles auf Anfang, wir machen es nochmal!
# Titelbild: Mert Kahveci