Die Coronapandemie hat die sowieso schon schlechte Situation in den Arbeiter*innenvierteln von New York noch einmal verschlimmert. Unsere Autorin Leila Aadil hat Velvet, eine Organiserin von Take Back the Bronx aus New York City interviewt und mit ihr über die Auswirkungen der Pandemie, Black Lives Matter Proteste, die Organisierung in der Bronx, und die anstehenden Präsidentschaftswahlen gesprochen.
Wie würdest du die Auswirkung der Pandemie auf die Arbeiter*innenklasse in New York beschreiben?
Velvet: Verheerend. Es gibt eine Normalisierung des Sterbens von Schwarzen Menschen. Zehntausende Menschen sind gestorben. Wir haben nicht viele Krankenhäuser, weil unser ehemaliger Bürgermeister viele geschlossen hat, besonders in der Hood. Es ist also die perfekte Umgebung für das Massensterben von Schwarzen und Braunen Arbeiter*innen und Armen. Ich kenne vier Menschen die kürzlich verstorben sind, einfach weil sie Schwarz sind. Behandlungsfehler, schlechte Gesundheit, drei der vier Menschen waren unter 35 Jahre alt.
Wir leiden schon unter normalen Umständen unter diesen Problemen: mangelnde Gesundheitsversorgung, nicht genug Essen, psychische Probleme… Menschen mit mehr Geld bleiben zuhause weil sie in Sicherheit sein wollen, aber Schwarze und Braune Menschen machen die Mehrheit der Arbeiterschaft aus und müssen zur Arbeit. Was zeigt, dass sie entbehrlich sind. Die systemrelevanten Arbeiter*innen werden in neoliberaler Manier oberflächlich abgefeiert. Sie sind so relevant, dass keine Vorkehrungen zu ihrer Sicherheit gemacht werden, sie keine Bonuszahlungen bekommen, nichts. Mein Vater arbeitet für die MTA (Metropolitan Transport Authority, Anm. d. Red) als Busfahrer. Viele seiner Arbeitskollegen werden krank und sterben und die MTA interessiert das kein bisschen. Auch wenn du selbst gesund bist, machst du dir Sorgen um alle anderen, weil wir unter schlimmen Bedingungen leben.
Die Bronx ist dafür das beste Beispiel. Wir haben den höchsten Anteil an Asthmaerkrankungen aufgrund dieser Bedingungen. In unserem Viertel und überall dort, wo die Schwarze und Braune Arbeiter*innenklasse lebt, kann man einen großen Unterschied in der Wirkung der Pandemie erkennen: Wir sind die Menschen die sterben. Die Oberschicht stirbt nicht. Die sind nicht mal in New York, haben sich alle verpisst. Unsere Leute können nirgendwo hin, wir sitzen hier fest um zu sterben. Und das schlimme ist, dass unsere Community so traumatisiert ist, dass alles so weiter geht wie immer. Die Leute sind so „Okay, es ist die kapitalistische Hölle, nur dass ich jetzt eine Maske tragen muss, das ist der einzige Unterschied“. Die Situation ist für uns einfach zur neuen Normalität geworden.
Was ist in New York im Zuge der Ermordung von George Floyd und den Black Lives Matter Protesten passiert? Welche Rolle hat die Schwarze und Braune Arbeiter*innenklasse gespielt?
Zum Höhepunkt der Proteste waren es besonders Jugendliche aus der Arbeiter*innenklasse, die auf die Straße gegangen sind und den Moment genutzt haben um sich materielle Güter anzueignen. Die Menschen haben es Plünderung genannt. Wir haben hier einen Generationenkonflikt, weil die Älteren gesagt haben: „Diese Kinder sollten friedlich protestieren und nicht Plündern, weil es uns schlecht dastehen lässt“. Und die Jüngeren waren so „Fick diesen Scheiß, fick ihr Privateigentum, ihre Güter, sie stehen sowieso in unserer Schuld“. Ich respektiere das sehr.
Und die Oberschicht darf jetzt mit Black Lives Matter rumlaufen und in ihren Fenstern aufstellen und so zur Ästhetik machen. Sie malen große Black Lives Matter Schriftzüge auf die Straßen der gentrifizierten Nachbarschaften, für was? Für wen ist das? Gleich neben einem neuen Luxusgebäude, das die meisten kleinen Länden zerstören wird. Ihr gebt keinen fick auf Schwarze Leben, es ist nur in der Theorie cool, wenn es ein Hashtag ist, oder auf einem T-Shirt gedruckt. Jetzt sagen auch alle großen Firmen Black Lives Matter: sagt das zu euren Arbeiter*innen im Kongo – zählen ihre Leben auch?
Ich glaube, dass viele unserer Communities an den Punkt kommen werden, an dem sie damit nichts zu tun haben wollen, weil es nichts zur Verbesserung ihrer Lebensumstände beiträgt und noch nie getan hat. Also nein danke. Und nicht nur das, sondern verpisst euch aus unserer Nachbarschaft. Was ich in dieser Bewegung beobachte, ist das Leute Aktivismus als Selbstzweck machen. Das liegt auch daran, dass viele nicht in unseren Communities verankert sind. Wenn es deinen Eltern in ihrem Haus in Conneticut gut geht, musst du dir nicht allzu viele Sorgen machen um die materiellen Verhältnisse der Menschen in NYC. Weil es nicht deine Leute sind. Auf einer oberflächlichen, identitären Ebene kannst du sagen, es sind deine Leute, aber materiell kannst du es nicht nachvollziehen. Ich mache das, weil es hier um meine Familie geht. Für mich ist das alles kein abstraktes Konzept, sondern das sind unsere materiellen Lebensumstände, das bin ich.
Und das heißt nicht, dass es nicht viele Menschen aus der Arbeiter*innenklasse gibt, die hierher ziehen, die sehen, was in dieser Gemeinschaft geschieht, und Teil dieser Gemeinschaft werden. Aber was mit dieser gegenwärtigen Schwarzen kleinbürgerlichen Klasse passiert, ist, dass es eine materielle Bequemlichkeit gibt, die neu ist. Jetzt rennen sie mit den kleinen Krümeln weg, die sie bekommen haben, anstatt die Menschen zu unterstützen die hier sind. Als Teil der gentrifizierenden Klassen schaffen sie eine Community auf der Community, die schon existiert. Sie bauen im wahrsten Sinne des Wortes ein komplett neues Leben auf unserem drauf, als ob wir nie existiert hätten. Das Problem ist nicht, dass sie nicht aus NYC kommen, sondern, dass sie sich nicht als der Teil der Mehrheit von Menschen sehen, die hier ums überleben kämpfen. Sie können einfach sagen „ist nicht mein Problem“, ins nächste Café gehen, sich einen fünf Dollar Kaffee gönnen und mit anderen Schwarzen und Braunen Queers reden. Als schwarze queere Frau aus der Arbeiter*innenklasse tut mir das wirklich weh, dass sie Queerness in eine Klassenpolitik aufgesogen haben, die nicht unsere ist. Komm, damit wir uns gemeinsam befreien, aber wenn du nur kommst um dich als Individuum zu befreien und das auf unsere Kosten, dann fick dich und bleib wo du bist.
Wie heißt die Organisation von der du Teil bist und was macht ihr?
Wir nennen uns Take Back the Bronx, und gehen nächstes Jahr in unser zehntes Jahr. Die Organisation entstand aus der Occupy Bewegung heraus. Wir wollen die Hood vereinen und die Unterdrücker bekämpfen; Wir wollen interne Spaltungen innerhalb der Hood überwinden, indem wir die Kräfte bekämpfen, die uns alle unten halten: Bosse, Vermieter, Polizei und das gesamte kapitalistische System. Wir wollen kommunale Selbstverwaltung unserer Wohnungen, Schulen und Arbeitsplätze. Wir sind auch ein Ort für Kultur, wo wir die Beziehungen aufbauen, die wir brauchen um durchzuhalten, uns gegenseitig zu unterstützen, zu überleben und zu kämpfen.
Das zeigt sich auf viele Art und Weisen, wie zum Beispiel in der Arbeit gegen Polizeigewalt oder im Versuch junge Leute in Gangs davon zu überzeugen, sich nicht gegenseitig umzubringen. Wir haben den Leuten geholfen eine Mieter*innengewerkschaft aufzubauen. Die Stadt bereitet sich momentan auch auf die größten Massenzwangsräumungen in ihrer Geschichte vor. Momentan sind Zwangsräumungen noch ausgesetzt aber viele Leute können ihre Mietschulden nicht bezahlen, weil sie keine Arbeit haben. Es wird immer schwieriger Arbeitslosengeld zu bekommen und es ist ohnehin schon nicht genug. Es gibt auch viele Leute, die aus Solidarität in den Mietstreik gehen, wie ich zum Beispiel. Mein Vermieter hat gedroht mich rauszuwerfen, aber das sind nun mal unsere Umstände.
Wir machen auch gerade eine Veranstaltungsreihe zu politischer Bildung. Auf dem Höhepunkt der Pandemie haben wir Essen, Masken und Schutzmaterial ausgegeben.
Hattet ihr auch Demonstrationen?
Wir haben uns an einer Reihe von Demos als Teil der sog. FTP Formation beteiligt. Der Auslöser war, dass die MTA angekündigt hat massiv gegen Menschen ohne Tickets vorzugehen, weil sie dadurch anscheinend so viel Geld verlieren würden. Das bedeutet, eine sehr hohe Polizeipräsenz in den öffentlichen Transportmitteln. Nein, es ist nicht so als ob Ihr dadurch so viel Geld verliert. Euer Problem ist, dass eure Geschäftsführer Milliardäre sind, deswegen verliert ihr so viel verdammtes Geld. Die Wohnungslosigkeit bei uns ist grassierend und die U-Bahn ist eine der wenigen Orte wo diese Menschen Unterschlupf finden können. Die U-Bahn unserer Stadt bringt all ihre Wiedersprüche zum Vorschein.
Einer der schönsten Momente passierte während der vierten FTP Demo. Die Demo stand zwischen verschiedenen Häuserblöcken mit Sozialwohnungen. Als die Polizei die Demo angegriffen, Menschen verprügelt und hunderte von Leuten festgenommen hat, haben die Anwohner*innen die Demonstrant*innen, die in die Häuserblocks reingelaufen sind, beschützt. Die Bullen trauen sich nicht in die Blöcke…
Aber die meisten Aktionen, abgesehen von unseren eigenen, finden nicht in armen Nachbarschaften statt. Die meisten Dinge die in armen Nachbarschaften passieren beruhen auf gegenseitiger Hilfe, wie die, die ich vorher beschrieben habe. Vieles sind auch einfach Community Zusammenkünfte, wo die Menschen hinkommen können, sich über ihre Probleme unterhalten und zusammen schauen wie diese Probleme gelöst werden können, wie andere sie vor uns gelöst haben. Und das ist wichtig um herauszufinden welche Alternativen wir zu dem Ganzen schaffen können, welche Infrastruktur wir aufbauen müssen.
Wir brauchen auch mehr Selbstverteidigung. Gegen die Bullen, aber auch gegen die Faschisten, die sich hier in letzter Zeit anfangen wohler zu fühlen, was neu ist. Es gibt einen Park, nicht weit von wo ich wohne, im oberen Teil der Bronx. Der Park grenzt an Yokers an, die eine Ku-Klux-Klan Community haben. Neulich wurde jemand in dem Park an einem Baum erhängt, die Polizei sagt es war Suizid. Schwarze Menschen bringen sich nicht um indem sie sich in öffentlich Parks an Bäumen erhängen…
Ich glaube das wichtigste ist, dass wir darüber nachdenken, wie wir über informelle Netzwerke unsere eigenen Infrastrukturen aufbauen können. All diese großen öffentlichen Aktionen und dieser Aktivismus – was ich beides nicht komplett abwerten möchte, weil sie auch wichtig sind – bringen ohne tatsächliche Organisierung rein gar nichts. Es ist reine Zeitverschwendung.
Wie siehst du die anstehenden Wahlen?
Ich finde es so langweilig. Wie oft müssen wir noch darüber reden, dass es ein verdammtes Duopol ist? Ich finde es sehr enttäuschend wenn Leute mir sagen: „Du wählst nicht, wie kannst du uns das antun?“ Es sind die selben „Demokraten“ die uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit verraten haben. Und jetzt Biden? Noch nichtmal ne neue Marke? Die Obama-Ära nochmal, nur schlimmer?! Ist das wirklich was wir wollen? Diese Regierung war verantwortlich für AFRICOM und dem massiven Anstieg von Inhaftierungen. Und Kamala Harris ist ein Bulle, wie soll sie besser sein? Weil sie eine Schwarze Frau ist? Fragen wir doch alle Schwarzen und Brauen Menschen die wegen ihr in Kalifornien im Knast saßen. Als Land, sind wir schon weiter als diese Analyse, wir hatten Obama. Wir hatten Schwarze Repräsentation, aber es war immer noch Imperialismus. Also wie soll das jetzt anders sein?
Die Massen der desillusionierten Arbeiter*innen und armen Schwarzen wissen, dass wir so oder so am Arsch sind und gehen nicht wählen. Und solange wir bei jeglichem Ausgang sowieso am Arsch sind, werden sich die Menschen auch nicht für diese Wahlen interessieren. Für was sollen wir wählen? Und für wen? In einer Wahl können wir nur unseren Herrscher wählen, ist das Demokratie für euch? Es gibt diese Leute die sehr an dem Narrativ des „kleineren Übels“ hängen geblieben sind. Bis zu dem Tag an dem wir nicht dafür wählen können den Kapitalismus abzuschaffen, interessiert mich das alles einen Dreck. Wir sind sowieso am Arsch, also warum nutzen wir nicht unsere Zeit um Alternativen zu entwickeln anstatt es diesem System zu erlauben sich immer wieder zu verändern um uns noch besser umbringen zu können? Und die Aneignung des Todes Schwarzer Menschen nach der Situation mit George Floyd ist ein perfektes Beispiel dafür, wie der Neoliberalismus sich ständig verändert, sich neu zusammensetzt um ansprechend für die Massen zu sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass das weiterhin passiert.
Die Arbeit von Take Back the Bronx könnt ihr hier unterstützen.
#Titelbild: Demo von Take Back the Bronx am 16. Juli 2013
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