Die radikale Linke in Deutschland hat den Betrieb als Feld der Agitation und Öffentlichkeitsarbeit weitgehend vernachlässigt, ja aufgegeben. Ich meine mit „den Betrieb“ nicht irgendwelche Betriebe, wo andere Leute arbeiten, die wir vor den Werkstoren agitieren könnten, oder Arbeitskämpfe, an denen wir uns möglicherweise solidarisch beteiligen könnten – was immer zu begrüßen ist! –, sondern den eigenen Arbeitsplatz, die eigenen Kolleg*innen.
Politischer Aktivismus findet in Deutschland meist nach Feierabend statt, gern auch am Wochenende und anlässlich von Groß-Events. Der Arbeitsplatz gilt als tendenziell unpolitischer Raum, für die herrschende Klasse steht er auch außerhalb der Demokratie. Sie hat dieses Denken in den vergangenen 40 Jahren erfolgreich verbreitet — bis tief in radikale und alternative Kreise. Der politische Aktivismus folgt heute eher den Gesetzmäßigkeiten der neoliberalen Urlaubs-, Event- und Festivalkultur.
Das war 1971 offenbar anders. Damals fand der Hamburger Rätekommunist Bernie Kelb in seiner Betriebsfibel schroffe Worte für das, was wir heute vorfinden:
Revolutionäre Arbeit soll nicht auf der Idiotenwiese stattfinden. Die Idiotenwiese ist der Freiraum, den das herrschende System für politische Tätigkeit nach Feierabend zur Verfügung stellt: Parteiversammlungen, Wahlzirkus und notfalls auch mal die Straße für Demonstrationen. Revolutionäre Arbeit soll vielmehr gerade in dem Bereich stattfinden, der für die freie politische Betätigung tabu ist: am Arbeitsplatz, im Betrieb. Dabei darf der Begriff »Betrieb« nicht zu eng gefasst werden. Es kann sich um eine Behörde, eine Fabrik, eine Klinik, ein Warenhaus oder um eine Uni, eine Zeitungsredaktion, eine Bank und (für Lehrer und für Schüler) eine Schule handeln.
Kelbs Betriebsfibel ist wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit. Sehr interessant zu lesen. Heute fehlt vielen Radikalen ein direkter Bezug zur Lebensrealität der arbeitenden Klasse. Zu ihrer Denkweise, ihrer Gefühls- und Gemengelage. Darin liegt ein wichtiger Grund für die Schwäche der Linken und ihre relative Bedeutungslosigkeit, daraus resultiert Orientierungslosigkeit bishin zu Verpeiltheit und Anfälligkeit für neo-konservative oder neoliberale Irrungen und andere Wirrungen ideologischer Art.
Das gilt sicher nicht für die wenigen Radikalen, die auch heute in Betriebsräten und Gewerkschaftsgremien die Stellung halten. Sie haben eher das umgekehrte Problem. Sie sind mit bürokratischen Vorgängen — vieles davon relativer Bullshit — so ausgelastet, oder werden von der Unternehmerseite sogar gezielt überlastet, dass sie nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht. Gerichtsverfahren, Einigungsstellen, gewerkschaftliche Gremien und Kommissionen… Hier geht es selten um das große Ganze. Eine Politisierung der Belegschaften findet eher nicht statt, weil einerseits schlicht keine Zeit bleibt, weil andererseits die verständliche Orientierung ist, als Betriebsrat Service für die Beschäftigten zu liefern und als Gewerkschaft Mehrwert für die Mitglieder: Geld, Freizeit, Sicherheit. Meist auch nur: Schlimmeres verhindern, den allgemeinen Abwärtstrend verlangsamen.
Das war früher mal anders. Anfang der 1970er gab es einen breiten und vielschichtigen Strom von jungen Radikalen — Sozialisten, Kommunisten und Anarchist*innen — hinein vor allem in industrielle Großbetriebe. Diese Orte wurden aufgrund von Erfahrungen aus Frankreich und Italien mit einiger Berechtigung als Hoffnungsträger für kommende Aufstände, oder zumindest für einen Zugang zum Proletariat ausgemacht. Da waren die Spontis bei Opel in Rüsselsheim, Mitglieder der KPD/ML bei BMW in Spandau, das Kölner Anarchosyndikat bei Ford, Trotzkist*innen der GIM sickert in Betriebe ein, selbst Militante der Bewegung 2. Juni heuerten nach der erfolgreichen Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz, als ihnen der Boden in West-Berlin zu heiß wurde, bei KHD in Köln an (Werner Sauber) oder in einer Klodeckelfabrik in Essen (Fritz Teufel), um dort etwas aufzubauen. Oder es wenigstens zu versuchen. Und sie waren gemessen an ihren bescheidenen Zahlen und ihrer relativen Ahnungslosigkeit – da sie nach Faschismus und Adenauer beinahe ganz allein und ganz von vorn anfangen mussten – insgesamt sogar relativ erfolgreich.
Die Welle wilder Streiks, die 1973 durch Westdeutschland ging, die mit dem großen Fordarbeiterstreik 1973 ihren Höhepunkt fand, geschah zumeist mit Beteiligung dieser radikalen Elemente. Vielleicht waren sie — und das ist meine die zentrale Vermutung und Hoffnung — so etwas wie das Salz in der Suppe.
Ich möchte dafür plädieren, den Faden wieder aufzunehmen. Dabei gilt zu bedenken: Du steigst niemals in den selben Fluss. Es gibt kein zurück in die Zukunft. Selbstverständlich haben sich die Zeiten seit damals radikal gewandelt, ja der Kapitalismus hat sich – auch wegen der oben beschriebenen Anfälligkeit der Großbetriebe für das Einsickern der freien Radikalen – umgewandelt und grundlegend neu strukturiert. Die nach dem Vorbild der Ford Motor Company und General Motors integrierten Riesenfabriken sind zerschlagen worden in einen verbliebenen Kern der Endmontage und eine optimierte Wertschöpfungskette aus Sub-Unternehmen und Zulieferern, die beständig im Preis gedrückt werden.
Die Möglichkeiten, direkt als Jobber, Werksstudent*in oder Ungelernte in einem Großbetrieb anzuheuern und damit quasi automatisch Teil der ausgebeuteten Massenarbeiterschaft zu werden und in ihr zu wirken, sind durch Leiharbeit und Werkverträge verschlossen. Die Belegschaften sind heute weitgehend aufgespalten und zersplittert.
Hinzu kommt die Arbeitslosigkeit. Sie bedeutet stets auch Auslese der renitenten Elemente sowohl bei Entlassungen als auch bei bei Einstellungen. In Zeiten der Praktika, sachgrundlosen Befristungen, Kettenbefristungen und Scheinselbständigkeit wird aus der Bewerbungssituation und Bewährungsphase ein Dauerzustand. Daraus – und aus der neoliberalen Gehirnwäsche, die uns umgibt – resultierte ein Anpassungsdruck der insgesamt auf die Psyche der arbeitenden Bevölkerung geschlagen ist. Es sieht nicht gut aus. Aber Fridays for Future und auch der Corona-Crash haben möglicherweise viele aus dem geistigen Wachkoma gerissen. Vielleicht hat sich der Wind gedreht. Möglicherweise ist eine neue Generation entstanden.
Welche Ratschläge und Orientierungspunkte gibt es? Nicht viel. Das vielleicht wertvollste Buch in deutscher Sprache war die oben zitierte „Betriebsfibel – Ratschläge für die Taktik am Arbeitsplatz“. Kelb schreibt, dass der Vorentwurf zu seinem Werk im »Arbeitskreis Strategie« (ehemals Republikanischer Club) in Hamburg diskutiert wurde.
Ich werde mich in den nächsten Folgen mit der dunklen Seite des Organizing befassen: Union Busting. Organisierung im Betrieb, von der IG Metall bürokratisch „strategische Erschließung“ genannt und deren professionelle Bekämpfung gehören in dialektischer Weise zusammen. Die Strategien von Organzing und Union Busting reagieren aufeinander und korrespondieren.
Um die Serie weiter zu entwickeln bin ich für Anregungen, Hinweise, Fallbeispiele und Kritik dankbar. Mein Ziel ist es, daraus ein Handbuch entstehen zu lassen. (Kontakt: elmar.wigand@posteo.de)
# Titelbild: Stadtarchiv Kiel / Friedrich Magnussen / CC BY-SA 3.0 DE, Streik der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) für höhere Löhne bei Hagenuk Kiel 1981
[LCM:] Das Salz in der Suppe? – Radikale Elemente im Betrieb (Serie Teil 1) - Die Linke in ihrer ganzen Vielfalt 2. November 2020 - 12:05
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