„Bringen Sie Ihr Business voran – mit dem führenden Innovationstreiber.“ So steht es nach wie vor auf der Website der Wirecard AG, die anscheinend weitgehend unverändert online geblieben ist. Innovativ war dass Unternehmen, dessen Namen mittlerweile einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist, tatsächlich, allerdings nicht im normalerweise mit dem Begriff verbundenen positiven Sinn. Neu und einmalig in der Nachkriegsgeschichte war vor allem das Ausmaß an Manipulation und Betrug in diesem Fall, die Methoden der Verschleierung und das völlige Versagen der Politik. So eifrig, wie Wirecard als „deutsche Technologiehoffnung“ hochgejubelt, so schnell wurde der Laden zur „heißen Kartoffel“, als die Unternehmensführung im Juni eingestehen musste, dass Aktiva über 1,9 Milliarden Euro in ihrer Bilanz nicht zu belegen seien.
Seit Wochen ist der Vorgang in den Schlagzeilen. Wobei die Darstellung als unterhaltsames Schurkenstück, als spannender Wirtschaftskrimi, wie sie in den Leitmedien von Spiegel bis Handesblatt gang und gäbe ist, als unzulässige und verschleiernde Romantisierung gesehen werden muss. Tatsächlich handelt es sich um einen schweren Fall von Wirtschaftskriminalität, der einen erheblichen Schaden für die Allgemeinheit und nicht zuletzt für viele der rund 5.800 Mitarbeiter*innen bedeutet. Vor allem aber ist der Fall in bestürzender Deutlichkeit exemplarisch für Verfallsprozesse und Krisenphänomene des real existierenden Spätkapitalismus‘ und zeigt auf, wie wenig die als legal geltende Wirtschaft von der Organisierten Kriminalität trennt; wohin der Deregulierungwahn führt, wie sehr Verwaltung und Politik sich zum Knecht der Konzerne gemacht haben.
Zu den Fakten. Die Wirecard AG meldete am 25. Juni Insolvenz an. Inzwischen haben die Kündigungen von Mitarbeiter*innen begonnen. Das Unternehmen war 1999 in Aschheim bei München als so genanntes Start-up gegründet worden. In einer Zeit, in der der Onlinehandel noch in den Anfängen steckte, bestand die Geschäftsidee darin, den elektronischen Zahlungsverkehr auszugliedern und diesen für andere Firmen abzuwickeln. Die Firma schloss mit möglichst vielen Händler*innen Verträge über die Akzeptanz von Kredit- oder EC-Karten und anderen Bezahlverfahren, etwa via Smartphone, ab und stelle die technische Lösung dafür zur Verfügung. Nach Angaben des Nachrichtenmagazins Spiegel wickelte Wirecard zuletzt Zahlungen für rund 313.000 Kunden ab, darunter Aldi und TUI.
Schon relativ früh tauchten Berichte über Unregelmäßigkeiten auf. Im Rückblick kann man sich fragen, warum bei denen, die das Unternehmen zu überwachen hatten, nicht früher die Alarmglocken schellten. Bereits im Mai 2008 veröffentlichte ein*e unter Pseudonym schreibender Benutzer*in in einem Internetforum eine kritische Analyse zur Wirecard-Aktie. Er vermutete „systematische Ausplünderung der Erlöse aus den Kapitalerhöhungen“. Später wurde bekannt, dass Mitglieder der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), animiert durch den Forenbeitrag, auf fallende Kurse vor Bekanntmachung der Bilanzdefizite spekulierten. In der Folge wurden zwei SdK-Vertreter zu Haftstrafen verurteilt. Wirecard machte weiter. Ähnliches wiederholte im Februar 2016 und im Februar 2017, als das Manager Magazin über intransparente Bilanzierungen bei dem Münchner Konzern berichtete.
Doch nicht mal als die Financial Times (FT) im Februar 2019 über Machenschaften bei Wirecard schrieb, platzte die Bombe. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), deren Aufgabe es gewesen wäre, Wirecard auf die Finger zu schauen, erstattete erst einmal Anzeige gegen den recherchierenden FT-Journalisten und setzte dann einen einzigen Angestellten der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung in Bewegung, um den Fall zu durchleuchten. Firmen vom Fach setzten für solche Aufträge aus gutem Grund für gewöhnlich 40 hochspezialisierte Expert*innen ein.
Es war immer derselbe Trick. Wirecard zeigte mit dem Finger auf böse Spekulant*innen, die das Unternehmen angeblich nur mit Schmutz bewarfen, um den Kurs zu manipulieren und Extraprofite einzustreichen. Da fragte dann kaum einer mehr danach, was an den Berichten dran sein könnte. Das änderte sich erst, so stellt es zumindest der Spiegel dar, als im Herbst 2019 mit dem japanischen Technologiegiganten Softbank ein neuer Investor einstieg. Diese drängten auf eine Sonderprüfung der Bilanzen. Anfang November nahm die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG ihre Arbeit auf. Der Anfang vom Ende des Konzerns.
Wie immer in solchen Fällen, stürzte das Lügengebäude nach dem ersten Bröckeln mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit zusammen. Jetzt bewahrheitete sich, was jahrelang Gegenstand von Gerüchten gewesen war. Wirecard hatte ein undurchsichtiges Netz aus Scheinfirmen und gefälschten Geschäften gesponnen, viele Umsätze waren Fake, Luftbuchungen von fiktiven Einnahmen erfundener Partner*innen auf nicht existierenden Bankkonten. Tatsächlich hatte der Konzern mit der eigentlichen Zahlungsabwicklung offenbar seit Jahren Verluste erwirtschaftet. Die BaFin erstattete Anfang Juni 2020 aufgrund des Verdachts der Marktmanipulation Anzeige gegen den Vorstandvorsitzenden Markus Braun und drei weitere Vorstandsmitglieder der Wirecard und ließ deren Geschäftsräume durchsuchen. Am 1. Juli rückten ein Dutzend Staatsanwält*innen und 33 Polizeibeamt*inneen sowie mehrere IT-Spezialist*innen in den Büros der Firmen ein. Ermittelt wird jetzt wegen Marktmanipulation, Bilanzfälschung, Betrug und Veruntreuung von Vermögen, auch dem Verdacht der Geldwäsche gehen die Ermittler nach.
Der Fokus der Medien richtet sich vor allem auf die beiden Wirecard-Anführer, die als die bösen Buben identifiziert wurden: Markus Braun, Vorstandsvorsitzender bis Mitte Juni, und Jan Marsalek, Vorstand für das operative Geschäft, beide aus Österreich. Braun wurde verhaftet, kam für sage und schreibe fünf Millionen Euro Kaution wieder auf freien Fuß und dann aufgrund eines erweiterten Haftbefehls erneut in Untersuchungshaft. Marsalek ist auf der Flucht, angeblich mit einigen Millionen Euro im Gepäck. Sogar in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen xy… ungelöst“ wurde nach ihm gefahndet.
Marsalek eignet sich prima als böser Bube und Sündenbock, dem man die Schuld an dem Desaster aufbürden kann. Der Spiegel praktizierte das in einem ellenlangen Beitrag, der sicher auch interessante Details zu Tage fördert, aber vor allem der Romantisierung, Psychologisierung und Individualisierung des Falls Vorschub leistete. Er wird als charismatischer Quereinsteiger präsentiert, der die Drecksarbeit für Braun erledigt habe. Das Nachrichtenmagazin harft: „Er führte das Leben eines offenbar vom Glück geküssten Parvenüs, der es ganz aus eigener Kraft zu Reichtum und Einfluss schaffte, samt Privatjets, Luxushotel, Partys in St. Tropez und Cognac Rémy Martin Louis XIII für 2500 Euro die Flasche.“ Da schwingt eine gewisse Bewunderung der Lohnschreiber*innen von der Brandstwiete mit. Der Spiegel machte sich sogar die Mühe, Nachbar*innen von Marsalek zu befragen und seine in der Nähe Wiens wohnende Mutter auszuhorchen.
Wesentlich spannender als dieses Herumstochern in Marsaleks Biographie ist die Information, dass einer seiner offenbar engeren Gesprächspartner ausgerechnet ein Mann war, der im vergangenen Jahr für einen der größten Politskandale Österreichs mitverantwortlich war: Johann Gudenus, von 2017 an geschäftsführender Klubobmann der FPÖ im Nationalrat und ein enger Vertrauter des langjährigen FPÖ-Parteichefs und Vizekanzlers Österreichs, Heinz-Christian Strache. Gudenus und Strache waren bekanntlich die Hauptprotagonisten der Ibiza-Affäre, die zum Sturz der österreichischen Regierung führte.
Was das Ganze genau für eine Bewandtnis hat, wird nicht klar. Von diesem Geraune ist es aber nicht weit zu der Vermutung, die wohl der eigentlich Kern des Beitrags ist: Die Russen sollen mal wieder an allem schuld sein. Das Magazin fragt: „War der Wirecard-Vorstand nur ein Aufschneider, der mit seinen Kontakten zu Politik, Thinktanks, der Sicherheitsszene angab und offensichtlich eine große Leidenschaft für alles Militärische besaß? Oder arbeitete Marsalek tatsächlich eng mit Russland zusammen?“ Die Antwort liefert man gleich mit: „Man kann sich die Frage stellen, ob Marsalek mit den Russen oder für sie gearbeitet hat“, wird ein namentlich nicht bezeichneter Beamter aus dem österreichischen Sicherheitsapparat, zitiert. Dann ist da noch die Rede von irgendwelchen Zementfabriken in Libyen und Papieren, die Marsalek angeblich im Besitz hatte – mit geheimen Informationen über das Nervengift Nowitschok, dem Gift, mit dem der ehemalige russische Spion und Überläufer Sergej Wiktorowitsch Skripal und seine Tochter im März 2018 im englischen Salisbury vergiftet worden sein sollen und das aktuell mit dem Fall Nawalny wieder Schlagzeilen macht. Damit ist die Räuberpistole dann komplett.
Das Ziel dieses Manövers liegt auf der Hand: Marsalek als mafiösen Drahtzieher hinzustellen mit Kontakten zu Geheimdiensten, zur FPÖ und nach Russland. Das lenkt prima vom Versagen der deutschen Politik ab. Von der ist ganz zum Schluss des Beitrags und eher beiläufig die Rede. Das Lobbying für Wirecard sei erfolgreich gewesen, heißt es da lakonisch. Unter anderem habe der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Wolfgang Schmidt, das Unternehmen protegiert. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) habe bereits im Februar 2019 von Ermittlungen der BaFin gegen Wirecard gewusst. Mehr ist zur Rolle von Finanzministerium und Scholz in dem Fall nicht zu erfahren.
Exemplarisch führt der Spiegel vor, wie man einen Vorgang, der symptomatisch ist für den Kapitalismus im Spätstadium, in eine Art Gaunermoritat umdichtet. Die Geschichte sei „viel zu verrückt“, heißt es im Einstieg des Beitrags, die Charaktere „derart überzeichnet“, die Handlungsstränge „so bizarr“, dass man unweigerlich denke: So eine Story könne „nur in Hollywood spielen, niemals im echten Leben“. Das Gegenteil ist richtig! Der Vorgang ist nicht verrückt, sondern absolut normal angesichts des Amoklauf des Geldes. Überraschend ist eher, dass Derartiges nicht viel öfter geschieht. Kurz gesagt: Der Fall Wirecard ist systemisch.
# Titelbild: Gemeinfrei, Internet World Fair 2017 in Munich, Germany, Wirecard-Stand