Corona in Göttingen, Tönnies: Survival of the fittest

2. Juli 2020

Die Massentierhaltung und die ihr angeschlossene Schlachtindustrie versammeln so gut wie alle Übel, die den Kapitalismus zu einer so widerlichen und verbrecherischen Veranstaltung machen. Millionenfache Tierquälerei, Arbeitsbedingungen wie in der Frühzeit des Manchester-Kapitalismus, hemmungslose Ausbeutung für den Profit Einzelner, Diskriminierung und grausame Wohnverhältnisse für die meist osteuropäischen Arbeiter*innen und raffgierige Unternehmer*innen. Letztere werden durch Clemens Tönnies, Chef der Tönnies Gruppe, prototypisch repräsentiert, wie wohl durch keinen anderen. Dass jemand wie Tönnies durch rassistische Äußerungen auffiel war eben kein Zufall – sondern exemplarisch für das Denken dieser neuen Herrenmenschen in der BRD und anderswo. In einem Beitrag vom 27. August 2019 hat das lower class magazine Tönnies’ Umtriebe bereits ausführlich analysiert.

Natürlich ist es auch alles andere als ein Zufall, dass die COVID-19-Pandemie sich in den Betrieben der Tönnies Gruppe und auch in anderen Schlachthöfen explosionsartig ausgebreitet hat. Angesichts der vorherrschenden Arbeitsverhältnisse , angesichts der katastrophalen Zustände in den Unterkünften und angesichts der Skrupellosigkeit der Manager, wäre alles andere eine Überraschung gewesen. Man hat den Betrieb – offensichtlich unter Duldung von Behörden – so lange weiter laufen lassen, bis die Zahl der Infizierten und die öffentliche Aufmerksamkeit zu groß geworden waren. Nicht nur hier hat das Virus en passant die Abgründe des kapitalistischen Systems offen gelegt.

Wie verlogen und grundfalsch das ganze Gesülze von der „großen Gemeinschaft in der Krise“ ist , hat sich auch bei einem anderen, relativ späten Corona-Ausbruch von ebenfalls großem Ausmaße gezeigt. Im niedersächsischen Göttingen wurden kurz hintereinander zwei Hochhäuser wegen erhöhten Infektionszahlen unter Quarantäne gestellt. Im Mai das „Iduna-Zentrum“, im Juni dann ein Komplex an der Groner Landstraße. Dort durften die rund 700 Bewohner*innen die marode Anlage etwa zwei Wochen lang nicht verlassen und Gitter wurden um das Areal gezogen.

In den Medien wurde wochenlang unter Mithilfe der Behörden das üble Bild konstruiert, die schnelle Verbreitung von Corona in den Komplexen sei der Unvernunft der Bewohner*innen – darunter viele Migrant*innen – geschuldet, weil „Sippen“ zusammen gefeiert hätten oder „Quarantänebrecher“ andere angesteckt hätten. Weniger zu lesen war hingegen von den prekären Verhältnissen in den Komplexen, in denen Wohnungen zwischen 19 bis 39 qm groß sind und teilweise von Familien mit bis zu vier Kindern bewohnt werden

Die Medizinstudierende Setare Torkieh, die an der Groner Landstraße bei Corona-Tests unterstützte, sprach in einem Interview mit der jungen Welt von „schockierenden Bedingungen“. Allein die Zahl der Menschen, die in einer Wohnung leben müssen, sei unfassbar. Beim Testen fiel ihr auf, dass viele Bewohner*innen, besonders Kinder, Infektionen im Mund- und Rachenbereich oder sehr schlechte Zähne hatten. Sie kritisierte ebenfalls, dass man einfach alle Bewohner*innen des Hochhauses unter Quarantäne gestellt hatte anstatt diejenigen zu separieren, die positiv auf das Virus getestet wurden. „Es wäre besser gewesen, die positiv Getesteten von den anderen frühzeitig räumlich zu trennen“, sagte sie.

Das wäre natürlich aufwendiger und teurer geworden . So viel Geld möchte eine deutsche Kommune für solche Underdogs dann doch nicht ausgeben. Wie in den Tönnies-Fabriken wartet man einfach ab, bis sich so gut wie alle angesteckt haben – der Rest läuft nach dem Darwinschen Motto „survival of the fittest“. An der Groner Landstraße in Göttingen platzte den Bewohner*innen übrigens irgendwann der Kragen. Sie protestierten lauthals gegen das Einsperren, wogegen die Polizist*innen massiv Pfefferspray gegen Familien und Kinder einsetzten.

Der Kapitalismus zeigt sich also auch in dieser Krise von seiner hässlichen Seite und offenbart die klaffende Lücke zwischen der auf dem Balkon klatschenden Mitte und dem Heer der prekär lebenden und arbeitenden Marginalisierten.

Warum sollte sich das während einer Pandemie ändern?

# Titelbild: Links Unten Göttingen, CC BY-NC-SA 2.0, Eingesperrte Bewohner*innen in Göttingen, Demo gegen rassistische Zustände und Polizeigewalt am 23.06.2020

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