Es ist kalt am Dienstagmorgen. Feiner Schnee überzieht das Kopfsteinpflaster des Hammerwegs. Vorbei an einem Friedhof geht es heute zu einer Zweigstelle des Oberlandesgerichts Dresdens. Schon von weitem weiß ich, dass ich richtig bin, denn das eingesetzte Polizeiaufgebot spottet jeder Beschreibung. Kurz vor dem Gerichtsgebäude muss ich einen Schritt zurück auf den Gehsteig machen, da ein halbes Dutzend Mannschaftswagen um die Ecke gedonnert kommt. Dieses Spektakel wiederholt sich noch einige Male. In jedem Konvoi sitzt eine:r der heute Angeklagten. Gerade rechtzeitig durchlaufe ich die peniblen Kontrollen, um dem Prozessbeginn beizuwohnen. Leider hatte das LCM keine Akkreditierung bekommen und musste selbst die ausgezogenen Latschen zur Gefahrenabwehr präsentieren.
Die 150 Plätze, die für die Öffentlichkeit vorgesehen sind, sind bereits nahezu voll belegt, größtenteils durch Familienmitglieder, Freund:innen und Genoss:innen der Angeklagten. An der zwei Meter hohen Plexiglasscheibe, welche den Pöbel von der Justiz und den Angeklagten trennt, drücken sich alle die Nase platt, um einen Blick auf die Angeklagten erhaschen zu können. Als die ersten Antifaschist:innen mit einem Aktenordner vor dem Kopf den Raum betreten, um den Kameras in der Saalmitte zu entgehen, entbrennt Applaus aus dem Publikum. „Alle zusammen gegen den Faschismus“ und „Free all Antifas“ wird skandiert. Von einem der Angeklagten wird das Victory-Zeichen in die Luft gestreckt.
Anklage vor dem Staatsschutzsenat
Heute findet der erste von bisher über 100 angesetzten Verhandlungstagen vor dem OLG Dresden statt. Bis ins Jahr 2027 sind bereits Termine für die Hauptverhandlung angesetzt, die im Rahmen des staatlichen Rachefeldzugs gegen weitere sieben Genoss:innen der sogenannten „Antifa Ost“ stattfinden. Sechs von ihnen sitzen auf der Anklagebank, weil ihnen die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nach §129a Strafgesetzbuch vorgeworfen wird. Einem weiteren wird die Unterstützung dieser Vereinigung vorgeworfen, die durch staatliche und mediale Kampagnen weithin als „Antifa Ost“ oder „Hammerbande“ bekannt geworden ist. Dass es eine solche Vereinigung namentlich nie gegeben hat, scheint egal, braucht es für ein Strafverfahren in einem solchen Ausmaß ja schließlich auch einen passenden Namen.
Neben der angeblichen Mitgliedschaft in dieser Vereinigung soll es in der Anklageschrift um die Teilnahme an verschiedenen Angriffen auf Neonazis zwischen 2018 und 2023 gehen. Die Anwält:innen der Beschuldigten unterstreichen wie schon im ersten Prozess eine öffentliche Vorverurteilung ihrer Mandant:innen, befeuert von einseitigen Presseberichten samt durchgestochener Akten und Klarnamen. Auf der anderen Seite wird klar, dass zahlreiche der Beweismittel den Verteidiger:innen gar nicht und wenn erst spät zukommen gelassen wurde. Unter anderem wird der Fall einer SD-Karte vorgetragen, auf der sich 700 GB Datenmaterial zur Sichtung der Angeklagten und ihrer Verteidigung befindet. 125 Stunden davon sind Videoaufnahmen. Eine ordentliche Prozessvorbereitung und Waffengleichheit zwischen dem Staat und den Anwält:innen sind damit schonmal vom Tisch.
Es sollte klar sein, dass dieser Prozess nicht viel mehr als eine gerichtliche Schmierenkomödie zur Denunziation eines nicht-staatlichen Antifaschismus ist, der die Selbstverteidigung der Gesellschaft selbst in die Hand nimmt. Undifferenziert wurden schon vor dem Prozess medial Lügen und Übertreibungen zu den Verletzungen der Neonazis übernommen. Lebensläufe einzelner Angeklagter werden durch den Dreck gezogen, wie einem Artikel der taz zum Prozessbeginn und durchgehend die staatliche Perspektive auf Gewalt reproduziert. Große Teile der belastenden Beweise gegen die Angeklagten stammen zudem aus den Aussagen des Kronzeugen Johannes Domhöver. Domhöver, der selbst im Antifa-Ost Verfahren angeklagt war, entschied sich nach seinem Outing 2021 als Vergewaltiger für den Verrat, kooperierte fortan mit dem Staat und sagte auf tausenden Seiten entsprechend der Wunschliste der Ermittlungsbehörden gegen alles und jeden aus. Die Hauptattraktion dieses Absurditätenmarkts kam aber diesmal tatsächlich vom Oberlandesgericht selbst, das auf seiner Website kurz vor Prozessbeginn aus den Vorwürfen der Mitgliedschaft in einer „kriminellen Organisation“ eine „terroristische Organisation“ machte. Der Teufel liegt im Detail, war vor der US-Listung einer „Antifa-Ost“ als terroristische Organisation vor wenigen Wochen in Deutschland nie von Terrorismus die Rede.
Nicht auf diesen Staat vertrauen…
Was heute vor dem OLG-Dresden in einem sogenannten „Staatsschutzprozess“ angeklagt ist, sind nicht in etwa ein paar Schellen für Neonazis, für die es vor zehn Jahren vielleicht Geldstrafen gegeben hätte. Es geht um die zunehmende Kriminalisierung einer linken Praxis, die sich außerhalb des staatlichen Zugriffs bewegt. Nicht umsonst heißt es heute von der Generalbundesanwaltschaft, dass jene Vereinigung, der nachgesagt wird, sich „Ende 2017, spätestens Ende 2018 in und um Leipzig als konspirativer Personenkreis zur Begehung von Straftaten zusammengefunden zu haben“, die „Rechtsstaatlichkeit und das staatliche Gewaltmonopol abgelehnt haben“. Bei dem Prozess geht es also um einen Rachefeldzug an Genoss:innen, die sich teilweise Jahre der Strafverfolgung entzogen haben.
Wenn jetzt einige Linke meinen, das hätte alles nichts mit ihnen zu tun, sei daran erinnert, dass durch diese Präzedenzurteile nach §129, linkes Engagement von der Bürgerinitiative bis hin zum offenen Antifatreffen ins Visier genommen werden kann, sofern es politisch opportun ist. Bei der zweiten Runde des „Antifa-Ost“ Prozesses geht dem Staat ähnlich wie bei den G20-Prozessen um verschärfte Repression gegen eine revolutionäre Bewegung im Allgemeinen. In Zeiten globaler Krisen braucht es nämlich Frieden an der Heimatfront, wofür die Angriffe gegen die Feinde im Inneren verschärft werden. Dabei ist gerade in Zeiten von Hanau, Halle und Celle, sowie der andauernden Unterstützung der BRD für den Genozid in Gaza eine Praxis notwendig, die nicht lediglich nach den Regeln eines propagierten „friedlichen politischen Meinungskampf“ spielt. Es gilt, diese vom Staat gezogenen Handlungsgrenzen nicht als Maßstab für das eigene Handeln zu betrachtet und somit den Unterdrückten eine Orientierung in den aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu bieten. Geflüchtete und rassifizierte Menschen werden nicht traurig darüber sein, wenn sich Neonazis aus Angst vor der Konfrontation aus dem öffentlichen Raum zurückziehen und davon abgehalten werden, Gewalt auszuüben. Die Beispiele aus Eisenach, Wurzen, Erfurt und Dessau-Roßlau, wo es einige Faschist:innen psychisch nachhaltig erwischt hat, bedeuten, dass sich diese Menschen heute aufjedenfall zweimal überlegen, ob und wo sie einen Fuß vor die Tür setzen.
Die Kritik
Manöverkritik und Kritik an patriarchalen und misogynen Strukturen sowie an einem kurzsichtigen Aktivismus innerhalb der Linken sind notwendig, um die antifaschistische Bewegung als Ganzes voranzubringen. Dafür muss aber an erster Stelle der:die Adressat:in und der Kontext stimmen und das ist nicht die bürgerliche Presse und kein Prozess dieser Klassenjustiz. Wir können uns an Gudrun Ensslin halten, die in ihrem Verfahren zum gelegten Kaufhausbrand zwar gegenüber dem Gericht die Aktion als „Fehler und Irrtum“ bezeichnete, aber klarstellte „Darüber werde ich aber nicht mit Ihnen diskutieren, sondern mit anderen“. Die gelegten Brände in den Kaufhäusern sollten 1968 auf die deutsche Gleichgültigkeit gegenüber den Kriegsverbrechen in Vietnam aufmerksam machen.
Auch wenn der Bezugsrahmen in diesem Beispiel sicherlich ein ander ist, spiegelt er eine grundsätzliche Haltung wieder. Es gilt also bei der Verteidigung unserer gemeinsamen Werte Geschlossenheit zu beweisen und diese den Genoss:innen zu zeigen. Auch gilt es zu verstehen, dass es sich bei den Angeklagten nicht um eine homogene Gruppe handelt und es viele Unterschiede in den politischen Standards und Herkunft gibt. Gerade in einem Prozess, in dem die Justiz darum bemüht sein wird, die Angeklagten untereinander zu isolieren, gegeneinander auszuspielen und strafmildernde Einlassungen auf Kosten einer politischen Verfahrensführung durchzusetzen, sind wir schlecht daran beraten, einzelnen, aus dem durch die gemeinsame Anklage zustande gekommenen Kollektiv, die Solidarität zu entziehen.
Die Solidaritätsarbeit im Rahmen solcher Mammutprozesse ist logistisch und politisch eine große Herausforderung, vor allem weil die Linke gesellschaftlich in der Defensive ist. Nicht zuletzt ist sie auch abhängig von dem Verhalten der Beschuldigten vor Gericht. Hier gilt es Lehren aus dem letzten Prozess zu ziehen und auch im Gerichtssaal die antifaschistischen Werte zu verteidigen, sowie stattgefundene Aktionen nicht zu entpolitisieren oder nachträglich zu delegitimieren.
Die aktuelle politische Situation macht eine vielfältige antifaschistische Praxis notwendig. Es gibt keinen alleinigen Primat der Praxis, was heißt, dass wir nicht weiterkommen, wenn wir uns nicht mit den Gründen von Faschismus und Faschisierung auseinandersetzen. Am Ende besteht sonst die Gefahr, dass der eigene Antifaschismus zu einem Verfassungspatriotismus verkommt, der den Kapitalismus, die bürgerliche Demokratie und den von ihr gepredigten „friedlichen Meinungskampf“ eben nicht als Grundlage für den Faschismus anerkennt, sondern eigentlich doch ganz gut findet. Und das sei auch den Angeklagten in Dresden gesagt, die, wie es in einem Eröffnungsstatement hieß, in dem Fernbleiben „demokratischer Parteien in der östlichen Provinz“, einen Grund für die Faschisierung sehen. Es liegt also gerade jetzt an Antifaschist:innen, den politischen Inhalt ihrer Aktionen zu vermitteln und gleichsam die Lüge einer unabhängigen Justiz zu entlarven. Schließlich laufen hunderte Neonazis trotz Haftbefehls frei herum. Des Weiteren erweist sich als notwendig, sich auf die Folgen von Knast, die nun mal Hand in Hand mit revolutionärer Politik gehen, vorzubereiten. Dazu gehört es auch, über unsere Ängste zu sprechen und einen ehrlichen und genossenschaftlichen Umgang miteinander zu entwickeln. Auch diese Notwendigkeit führen uns die Prozesse in Dresden vor Augen.
Foto: privat