Schüsse in der U7 – Nächste Station Spannungsfall

20. November 2025

Hintergründe und Kontinuität der Aufstandsbekämpfung: Von der Wiederbewaffnung der BRD hin zum „Bollwerk Bärlin“

Während der CDU-Außenpolitiker Roderich Kieserwetter Mittwoch vergangener Woche bei Maischberger erneut seine Forderung „den Spannungsfall auszurufen“ bekräftigte, hat das Wachbataillon der Bundeswehr in Berlin schon einmal mit der notwendigen Vorbereitung begonnen. Seit Montag proben rund 1000 Soldaten den infanteristischen Kampf in der Hauptstadt. Neben dem Schutz „verteidigungswichtiger Infrastruktur sowie von Einrichtungen der Bundesregierung“ werden im Rahmen der Übung auch „militärische Maßnahmen gegen irreguläre Kräfte trainiert“, heißt es auf der Website der Bundeswehr.

„Schüsse hallen durch die Tunnel, Soldaten brüllen Kommandos, Verletzte schreien um Hilfe“ beschreibt der Berliner Kurier die Atmosphäre, als die Truppe in der Nacht auf Dienstag die Erstürmung des Berliner U-Bahnhofes Jungfernheide einstudierte. Dass es bei dem Praxistraining mit dem komisch anmutenden Namen „Bollwerk Bärlin III“ nicht unbedingt nur um die Bekämpfung von ins Regierungsviertel eingefallenen Russenpanzern geht, ist kein Geheimnis. „Irreguläre Kräfte greifen an, Verkehrswege müssen freigekämpft, Kameraden evakuiert, Saboteure festgesetzt werden“, schildert das Berliner Boulevardblatt mitreißend das Übungsszenario. Man übe „jetzt hier tatsächlich das scharfe Ende, den Spannungs- und Verteidigungsfall“, zitiert der Berliner Kurier den Kommandeur des Wachbataillons Maik Teichgräber.


Bollwerk Bärlin: Vorbereitung auf den Spannungsfall

Neben der U7 und dem ehemaligen Chemiewerk Rüdersdorf im Osten von Berlin wird bis zum 21. November auch in der so genannten „Fighting City“ in Ruhleben – einem Trainingsgelände der Berliner Polizei – fleißig gerobbt, erstürmt und gefeuert. „Die anhaltend angespannte sicherheitspolitische Lage in Europa“ mache „realitätsnahe Übungsszenarien erforderlich“. Doch „Bollwerk Bärlin“ ist kein Einzelfall. Die Aktivitäten des Berliner Wachbataillons reihen sich in eine ganze Serie von Manövern und Übungen ein, in welchen die Bundeswehr, oft auch in Kooperation mit der Polizei, den Einsatz gegen „militärisch bewaffnete Aufständische“, „Terroristen“ und manchmal sogar unbewaffnete Demonstranten erlernen soll.

Seitdem das Bundesverfassungsgericht im Juli 2012 den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr im Inneren bei „Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“ bestätigte, testen die deutschen Streitkräfte nicht nur verstärkt ihre Fähigkeiten im Häuserkampf. Der Einsatz im Inneren wird zunehmend diskutiert, wobei die unklare Definition von „Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“ gefährlich dehnbar ist.

Einführung der Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräfte

Bereits vor dem Urteil wurde im Juni 2012 in Bremen die erste Kompanie der so genannten Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräfte, kurz RSUKr, in den Dienst gestellt. Die 2012 und 2013 aufgestellten Reserveverbände sollten die aktive Truppe bei Maßnahmen des „Heimatschutzes“ unterstützen. Im Falle des „Inneren Notstandes“, des Spannungs- und Verteidigungsfalles, können die Reservisten neben der Absicherung militärischer Anlagen auch im Rahmen der Amtshilfe zur Unterstützung der Polizei beim Schutz ziviler Objekte, kritischer Infrastruktur oder eben auch bei der Bekämpfung organisierter und bewaffneter Aufständischer herangezogen werden. Die ehemaligen RSUKr sind heute in der Heimatschutzdivision zusammengefasst. Seit dem 1. April 2025 wurden die ehemals den Landeskommandos unterstellten Kompanien und Regimenter der zentralen Führung des Kommandos Heer unterstellt. Dies ist ein zentraler Teil der Umstrukturierung der Armee, bei der nun eine zentrale Leitung effektiver

Das deutsche Grundgesetz von 1949 sah zumindest auf dem Papier einen zaghaften Bruch mit der blutigen Geschichte des deutschen Militarismus vor. So umfasst der Originaltext noch keine Paragrafen, welche die Wiederaufstellung deutscher Streitkräfte betroffen hätten. Erst am 19. März 1956 wurde mit dem Artikel 87a GG die verfassungsmäßige Grundlage für die Wiederbewaffnung Westdeutschlands gelegt. Dabei handelte es sich um den juristischen Vollzug bereits geschaffener Tatsachen. Die Wiederaufstellung einer „neuen Wehrmacht“, wie es damals im bundesdeutschen Diskurs noch hieß, war nicht nur spätestens seit dem NATO-Beitritt der BRD am 6. Mai 1955 beschlossene Sache, sondern mit der Gründung der Bundeswehr am 12. November 1955, schon vor der Schaffung der gesetzlichen Grundlage, Fakt. Auch die damalige Wiederaufrüstung wurde nur gegen jahrelangen erbitterten zivilgesellschaftlichen Widerstand, vor allem auch aus der jungen Generation, regelrecht durchgeprügelt.

Grundlagen der heutigen Militarisierung – Die Armee im Inneren?

Das Verbot der Freien Deutschen Jugend im Jahre 1951, sowie das rabiate Vorgehen der westdeutschen Polizei gegen Friedensdemonstrationen, sind dabei nur einzelne Beispiele des gesamten Repertoires der Repression, die gegen die breite gesellschaftliche Antikriegsbewegung in den frühen 1950er Jahren ins Feld geführt wurde. So wurde am 11. Mai 1952 der junge Kommunist Phillip Müller hinterrücks erschossen und zwei weitere Antimilitaristen durch Polizeikugeln schwer verletzt, als die Sicherheitskräfte eine Massendemonstration der „Friedenskarawane der Jugend“ in Essen auseinanderknüppelten. Auch das Verbot einer geplanten Volksbefragungsaktion gegen die Remilitarisierung 1951 zeigt deutlich, mit welcher Vehemenz die Behörden auch gegen friedlichen Aktivismus vorgehen können, wenn dieser den Grundlagen staatlicher Politik zu gefährlich wird. Die dennoch durchgeführte Volksbefragung, bei welcher sich über neun Millionen Deutsche gegen die Wiederbewaffnung aussprachen, wurde zum Anlass für ein Hochverratsverfahren gegen die KPD und gipfelte in der Verhaftung von über 7000 Aktivistinnen und Aktivisten der Kampagne.

Doch selbst damals beschränkte die damalige Wehrverfassung von 1956 den Auftrag der Truppe einzig und allein auf die Landesverteidigung. Ein Einsatz im Innern wurde ausgeschlossen. Erst die Notstandsgesetze und die damit einhergehende Verfassungsänderung 1968 erlaubten ausdrücklich den Einsatz der Streitkräfte im Verteidigungs- und Spannungsfall und die Amtshilfe der Bundeswehr zur Unterstützung von Polizei und Bundesgrenzschutz, „zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung“. 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, im Rahmen der Amtshilfe keine militärischen Waffen, sondern nur Einsatzmittel, welche das Polizeigesetz des betreffenden Bundeslandes für die Polizeikräfte vorsieht, zu erlauben.  Im Regelfall also Pistole, Maschinenpistole und Gewehre sowie Schlagstock und Pfefferspray. Was wie eine beruhigende Einschränkung des Einsatzes militärischer Gewalt anmutet, muss nachträglich als die ausdrückliche Bestätigung des Einsatzes der Bundeswehr als „Hilfspolizei“ gewertet werden.

Das Gericht leistete damit einen entscheidenden Beitrag, zur weiteren Erosion der strikten Trennung der Aufgaben von Militär und Polizei.  Mit der Entscheidung von 2012 gestattete das BVerfG nunmehr auch die Verwendung militärischer Waffen unter bestimmten Voraussetzungen. Die zahlreichen seitdem abgehaltenen Übungen und Manöver von Polizei und Bundeswehr führten über die Zeit auch zu einer Art Gewöhnungseffekt. Als im Februar 2017 die erste Übung dieser Art mit dem GETEX (Gemeinsame Terrorismusabwehr-Exercise)stattfand, die die Zusammenarbeit und Kommunikationsabläufe zwischen Armee und Polizei optimieren sollte, hagelte es teils heftige Kritik. Selbst die Deutsche Welle kommentierte das Training, mit Blick auf die unrühmliche Geschichte deutscher Armeen im Kampf gegen die eigene Bevölkerung, als „kontrollierten Tabubruch“. Mittlerweile jedoch nimmt die Öffentlichkeit von den vielen kleinen Übungen kaum noch Notiz, von wirklicher Empörung ganz zu schweigen. So jagten im Sommer 2023 mehr als hundert Einsatzkräfte der bayerischen Polizei und der Bundeswehr im Rahmen der Übung AlpenTEX, Kalaschnikow schwingende Terroristen durch die idyllische Kulisse der Allgäuer Alpen. Die Realitätsnähe eines Terrorangriffs im alpinen Raum bleibt zwar fraglich, für das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, das mit Personal der Übung beiwohnte, war es aber „besonders interessant, diese Art der zivil-militärischen Zusammenarbeit in der ‚Realität‘ zu beobachten.“

Normalisierung der militärischen Präsenz im urbanen Raum

Auch beim Manöver „Red Storm Bravo“ im September in Hamburg probten 500 Soldaten die Verlegung vom Schiff auf motorisierte Fahrzeuge, wobei die Koordination mit Polizei, Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk sowie Unternehmen wie Airbus und Blohm+Voss im Mittelpunkt stand. Auch Reservisten waren beteiligt, durften jedoch nicht im Kampfeinsatz agieren, sondern als Antikriegsdemonstranten auftreten. Videoaufnahmen zeigen Demonstranten, die einem gepanzerten Armeekonvoi den Weg versperren, während die Bundespolizei diesen räumt. Schließlich dürfe die Bundeswehr ja nicht gegen Demonstranten zum Einsatz kommen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 hält zumindest auf dem Papier fest, dass militärische Mittel nicht zur Abwehr von Gefahren, „die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen“, genutzt werden dürften. Dass man im Einzelfall bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit aber nicht zu zimperlich ist, wurde bereits 2007 beim G8-Gipfel in Heiligendamm unter Beweis gestellt, als 2500 Soldaten und Kampfflugzeuge eingesetzt wurden. Auch wenn es in Heiligendamm nicht um den direkten physischen Einsatz gegen Protestierende, sondern lediglich um Aufklärung und Abschreckung ging, so zeigt das Vorgehen der Behörden, wie dehnbar die Grauzone ist.

Auch beim G20-Gipfel 2017 stand die Bundeswehr der Polizei mit Amtshilfe zur Seite. So wurden nicht nur Experten zum Aufspüren biologischer oder chemischer Kampfstoffe, ein Boot zur potentiellen Evakuierung der Staatsgäste aus der Elbphilharmonie, drei Hubschrauber, zwei Unterwasserdrohnen sowie mehrere Abfangjäger bereitgestellt, sondern zwei Eurofighter sowie ein Tankflugzeug kamen auch tatsächlich zur Überwachung des Luftraums über Hamburg zum Einsatz. 

Und auch während der Coronapandemie war das deutsche Militär auf Amtshilfegesuch im Einsatz. Ab April 2020 stellte die Bundeswehr 32 000 Soldatinnen und Soldaten als Einsatzkontingent „Hilfeleistung Corona“ präventiv in Bereitschaft.

Was sich heute vor unseren Augen abspielt, sind nicht nur einzelne unzusammenhängende Ereignisse oder bloße spontane Reaktionen auf eine verschärfte weltpolitische Lage. Die Umstrukturierung der Streitkräfte, die immer engere Verzahnung von Polizei und Militär und die Ausdehnung rechtlicher Befugnisse sind allesamt Teil eines nicht erst seit gestern laufenden Prozesses, aber diese Entwicklung hat mit der 2022 ausgerufenen Zeitenwende und dem in der Gesellschaft geschürten Klima von Panik und Angst in rasantem Tempo an Fahrt aufgenommen. 

Der seit Jahrzehnten vorangetriebene autoritäre Staatsumbau und die Angriffe auf politische Rechte und soziale Errungenschaften sind Folgen der weltweit eskalierenden Konkurrenz um Einflussphären, Rohstoffe und Handelsrouten. Wenn im globalen Kräftefeld keine Entspannung zu erwarten ist und sich alle Parteien auf eine verschärfte militärische Konfrontation vorbereiten, wird auch in Deutschland der Ton rauer werden.

Irgendwo zwischen Frieden und Krieg

Wenn heute gebetsmühlenartig die Drohkulisse „hybrider Kriegsführung“ heraufbeschworen wird und sogar Bundeskanzler Friedrich Merz Ende September verkündete, „wir“ befänden uns zwar noch „nicht im Krieg, aber wir leben auch nicht mehr im Frieden“, dann dient die damit gewollte Verunsicherung der Bevölkerung auch zuallererst der Rechtfertigung der weiteren Schritte. Die Ausrufung des Spannungsfalls und die damit einhergehende weitgehende Aussetzung der verfassungsmäßigen Ordnung, wie es mancher Hitzkopf in der Debatte heute schon lautstark fordert, dürfte wohl auch für die kommenden Monate kein realistisches Szenario sein. Und doch bedarf die laufende Zuspitzung der Debatte, aber auch die zunehmend normaler werdenden Bewegungen der Streitkräfte im urbanen Raum, mehr als einer kritischen Einordnung von Seiten der antimilitaristischen Bewegung.

Denn dass es bei all den Übungen nicht nur darum geht, die Bevölkerung durch sichtbare Präsenz an den schleichenden Ausnahmezustand zu gewöhnen, sondern auch ganz konkret dafür geübt wird, im Falle des Krieges an der Heimatfront für Ruhe und Ordnung zu sorgen, ist in Anbetracht der in aller Öffentlichkeit dargebotenen Übungsszenarien zumindest keine an den Haaren herbeigezogene Verschwörungstheorie.

Wenn Christoph Hüber, der stellvertretende Abteilungsleiter für Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz im Bundesinnenministerium, Anfang dieses Jahres bei einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik freimütig von sich gab, dass „die Polizeien […] im Spannungsfall schon alle Hände voll zu tun haben“ werden, „weil nicht sicher ist, dass die Bevölkerung friedlich bleibt“, und es „zu Ausschreitungen kommen“ könne, lässt sich vermuten, wohin die Reise geht:

Sie übten sich fleißig im Schießen,

Und sprachen laut vom Feind,

Und zeigten wild über die Grenze

Und uns haben sie gemeint.“

Das Lied vom Klassenfeind, Bertolt Brecht