Nachbarschaftsarbeit im Union Salon Dortmund – Im Westen geht die Sonne auf

17. Oktober 2025

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Gastbeitrag

Im Westen geht die Sonne auf – damit begann vor knapp zwei Jahren unsere Kampagne zum Aufbau des Union Salons und Lyra. Der Nachbarschaftsraum im Westen der Stadt –  im Dortmunder Union Viertel, zwischen Innenstadt, angeblichem Nazikiez Dorstfeld und Industriebrache.

Der Union Salon und Lyratreff liegt mitten im belebten Unionviertel. Das Viertel ist grün und eher ruhig, es liegt sehr zentral in Dortmund und ist umgeben von Bahnschienen,  Richtung Dorstfeld und dem Westpark, hinter dem es in die Innenstadt und zum Studenten bewohnten Kreuzviertel geht. Bei uns im Unionviertel wohnen viele Familien und Kinder, Rentner und Studenten, das Viertel ist stark migrantisch geprägt, viele Menschen leben in Armut und teilweise in prekären Situationen.  In den Straßen des Viertels reihen sich die Altbauten aneinander und an den drei Hauptstraßen findet man Friseursalon, Brautkleidladen, Trinkhallen, indisches, tamilisches und italienisches Essen.

Unser Nachbarschaftsraum liegt an einem kleinen Spielplatz. An trockenen Tagen spielen die Kinder Tischtennis, auf dem Klettergerüst oder im Sand. Jeden Freitag hat hier der Union Salon seine Café Öffnungszeiten. Die Nachbarschaft kann hereinkommen auf einen Kaffee, ein Gespräch oder zum Schutz vor Nässe und Hitze. Drinnen kann sich auf Spendenbasis ein Getränk bestellt werden, am Bücherschrank bedient oder an einem der Tische zusammengesetzt werden. Eltern sehen von hier aus ihre Kinder auf dem Spielplatz spielen, Mütter können sich in den Frauenraum Lyra zurückziehen und Kinder können sich drinnen am Mal- und Bastelzeug oder Spieleschrank bedienen.  An anderen Tagen hört man aus dem Union Salon schon von draußen die Gesänge vom Sing Salon, sieht, wie die Frauen des Büchertreffs über aktuelle Literatur diskutieren oder riecht schon von weitem den Grill auf der Terrasse vor dem Treff.

Orte des Austauschs, der Gemeinschaft und Solidarität

Unser Union Salon und Lyra Treff sind Räume des Zusammenkommens. Hier trifft sich die Nachbarschaft und hier wird die Nachbarschaft selbstwirksam. Das ganze Programm wird mittlerweile von der Nachbarschaft für die Nachbarschaft angeboten. Das Entstand halten und Weiterentwickeln der Räume wird von den Kollektivstrukturen getragen. Vor fast zwei Jahren öffnete der Raum zum ersten Mal seine Türen. Seitdem hat sich einiges etabliert und entwickelt. Für uns ist es aber auch wichtig eine Bestandsaufnahme zu machen und zu fragen, was hat der Raum erreicht und wo wollen wir noch hin?

„Wir wollen als Nachbarschaft aus dem Unionviertel zusammenkommen: uns kennenlernen bei einem guten Kaffee und neue Kontakte knüpfen. Wir wollen langfristig einen Ort der Gemeinschaft und der gegenseitigen Hilfe schaffen.“ Mit diesen Worten startete das Projekt Union Salon und der Lyra Treff. Wir sehen beide Räume als Orte des Zusammenkommens und gegenseitigen Unterstützens, als Orte des Austauschs. In einer Zeit der zunehmenden Vereinzelung und Vereinsamung ist es wichtig, Räume zu schaffen, die eine Gegenkultur entwickeln wollen und in denen wir Werte wie Gemeinschaft und Solidarität stärken und leben. Denn wir sind davon überzeugt, dass wir unsere Probleme kollektiv denken und auch lösen müssen. Nur so können wir ein starkes soziales Miteinander leben, uns von kapitalistischen, liberal-bürgerlichen Werten abgrenzen und gemeinsam eine sozialistische Gegenkultur aufbauen.

Nachbarschaftsarbeit als Grundlage der weiteren Organisierung

Denn der Hauptfokus des Union Salons war von Anfang an eine Grundlage zu schaffen zur weiteren Organisierung. Wir denken, dass Nachbarschaftsarbeit als wichtiger Bestandteil von sozialistischer Basisarbeit gesehen werden muss: Denn dort, wo wir wohnen, leben wir und verbringen unsere Zeit. Gleichzeitig sehen wir den Union Salon als einen Bestandteil von Basisarbeit, die nichts wäre, ohne die Organisierung von beispielsweise ArbeiterInnen in Fabriken.

Doch durch die Basisarbeit in einem Viertel lassen sich beispielsweise Menschen erreichen, die nicht (mehr) zur Arbeit gehen: zum Beispiel Wohnungslose, RentnerInnen, Mütter, Kinder. Gruppen, die oft auch von der Politik vergessen oder schnell abgestrichen werden. Uns ist es wichtig, dass ein ganzes Viertel mit allen Menschen, die dazugehören, gemeinsam entscheiden, was ihnen wichtig ist. Dass der Union Salon/Lyra ein Raum von der Nachbarschaft für die Nachbarschaft ist, schafft einen Ort, um Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit auszuleben. Der Nachbarschaftstreff ist dabei ein linker Raum mit klaren linken Werten, gleichzeitig überparteilich sowie strömungsübergreifend und mit einem starken Fokus auf Selbstorganisierung der Nachbarschaft. Dadurch soll gesichert sein, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich einzubringen, mitzugestalten und zu entscheiden.

Die eigene Handlungsfähigkeit soll jedoch nicht nur im Union Salon/Lyra selbst bleiben. Durch regelmäßige Vollversammlungen möchten wir gemeinsam entscheiden, was uns wichtig ist, wie wir unser Viertel und unseren Alltag gemeinsam gestalten wollen. Wir denken, dass diese Vollversammlungen ein weiterer Schritt in Richtung gemeinsamer Organisierung sind und uns als Nachbarschaft zeigen, welche politische und gesellschaftliche Macht in dieser stecken kann. Dabei wird von den Strukturen des Union Salon und Lyra Kollektivs nichts vorgegeben. Die Entscheidungen, Ideen und Impulse kommen aus der Nachbarschaft und werden von dieser getragen und in die Praxis umgesetzt. In der Vergangenheit konnten wir hier beobachten, dass die Vollversammlungen von der Nachbarschaft einigermaßen gut angenommen wurden. Allerdings muss besonders dieser Schritt der politischen Organisierung noch weiter ausgebaut und geplanter durchgeführt werden. Wir sind in den Kollektiven im Moment dabei, diesen Prozess stärker anzustoßen. Wir denken, dass zukünftige Konzepte unserer Massenarbeit dabei mehr vorgeben werden, in welche Richtung sich auch der Union Salon/Lyra Treff bewegen wird. Dabei ist wichtig, dass jede Theorie in der Praxis, mit der Basis und in den Vollversammlungen erprobt werden muss – die Entscheidungen werden also nicht ausschließlich vom Kollektiv getragen.

Ebenen der Strukturierung

Das von den jeweiligen Kollektiven nichts vorgegeben wird, ist wichtig zu betonen. Denn klar ist, dass es Strukturen braucht, um gewissen Entscheidungen zu treffen und Verantwortungen zu übernehmen. Wir wollen hier kurz unsere Strukturen offenlegen und transparent machen. Der Nachbarschaftstreff ist unterteilt in verschiedenen Ebenen: dem Kollektiv für den Union Salon, dem Kollektiv für Lyra, dem Förderkreis und dem Aktivenkreis.

Die Kollektive für die jeweiligen Räume funktionieren über Mitgliederstrukturen, haben sich geeinigt auf jeweilige Grundsatzpapiere und sind verantwortlich für alltägliche, grundsätzliche Aufgaben der beiden Treffs und entscheiden über die strategischen Entwicklungen der Räume. Außerdem arbeiten beide Kollektive in regelmäßig stattfindenden Treffen eng zusammen, um gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Denn auch wenn der Union Salon und der Lyratreff jeweils über eigenständige Kollektive, sowie eingetragene Vereinsstrukturen verfügen, verstehen sie sich als ein zusammenhängendes Projekt mit starken personellen Überschneidungen und gleichen Werten, Ideen und Zielen. Die jeweiligen Kollektive stellen die Räume kostenfrei zur Verfügung, welche dann von der Nachbarschaft bespielt werden.

Im offenen Aktivenkreis hingegen können sich alle NachbarInnen organisieren, die niedrigschwelliger den Raum mittragen und unterstützen wollen. Der Förderkreis setzt sich aus denjenigen zusammen, die den Raum finanziell unterstützen. Denn das Ziel und die aktuelle Realität ist es, dass sich der Raum über Spenden trägt, um so völlige Unabhängigkeit garantieren zu können.

Ein Raum für die praktische Verankerung im Viertel

Ein anderer Diskussionspunkt, der in der Nachbarschaftsarbeit eine große Rolle spielt, ist die Frage des Raumes. Viele Nachbarschaftstreffs entstehen aus einer Bewegung oder aus einer Gruppe heraus. Das ist beim Union Salon und Lyra Treff nicht der Fall. Der Nachbarschaftstreff ist nicht aus einer schon bestehenden Initiative mit einem Ziel gegründet worden – er wird als Raum des Austausches und Diskurses verstanden. Wir wollen uns nicht anhand einer übereinstimmenden politischen Meinung organisieren, sondern uns anhand von materiellen Interessen zusammentun. Für die Kollektive war es wichtig, einen festen Raum zu haben, der greifbar und nutzbar für die Nachbarschaft ist. Denn das bedeutet, neben ansprechbar und erreichbar zu sein, auch einen Ankerpunkt und Anknüpfungspunkt für verschiedene Aktionen zu schaffen. Einen Raum zu haben, den die Nachbarschaft aktiv gestaltet und verwaltet, bedeutet auch eine Praxis der Selbstermächtigung und -wirksamkeit zu entwickeln.

Wichtig war es von Anfang an, dass der Nachbarschaftstreff kein linker Szenetreff wird. In den Räumen soll eher ein Café Charakter vermittelt werden, der zum Verweilen und Austauschen einlädt. Seit 2023 lebt der Raum jetzt schon und seitdem entwickelt er sich und baut politische Praxis in der Nachbarschaft auf.

Gelebte Praxis im Viertel

Über den Frauen- und Mädchentreff bauen wir eine feministische Praxis auf. Beispielsweise wird hier wöchentlich ein Mädchentreff angeboten, der den Mädchen aus dem Viertel Raum gibt, gezielt eigene Entscheidungen zu treffen, Selbstwirksamkeit zu erleben und über sensible Themen zu sprechen. Dieser Mädchentreff ist im Unionsviertel einzigartig, kein anderer Ort bietet einen gender- und sexismussensiblen Raum nur für Mädchen an. Allgemein lässt sich im Viertel erkennen, dass es wenige, bis keine konsumfreien Räume für Kinder (auch für Erwachsene) gibt. Deswegen achtet der Union Salon und der Lyratreff besonders darauf familien- und kinderfreundlich zu sein. Über den Frauen- und Mädchentreff Lyra ist aber auch allgemein ein starker feministischer Ansatz im Nachbarschaftstreff verankert. Nicht nur, dass durch Diskussionsveranstaltungen oder Frauenfrühstücks regelmäßige feministische Veranstaltungen im Programm präsent sind. Sondern auch die Organisierung vieler Frauen in den Kollektiven ermöglicht einen anderen Umgang mit sexistischen und patriarchalen Denkmustern innerhalb der eigenen Strukturen.

In der Nachbarsschaftsarbeit wollen wir gemeinsam unsere Probleme denken und lösen. Dafür bietet der Treff beispielsweise auch eine kostenlose Sozialberatung und eine gewerkschaftliche Erstberatung an. Die beiden Angebote ermöglichen ein kollektives Denken und setzen gleichzeitig an spalterischen Denkmustern wie kapitalistischer Konkurrenz  an. Zugleich ermöglicht der offene Charakter der meisten Veranstaltungen oder die Öffnungszeiten des Union Salons einen ständigen Austausch über aktuelle Themen im Viertel. Erst dieses Jahr hat sich zusätzlich im Treff eine kleine Redaktion gebildet, dich sich zur Aufgabe gemacht hat genau diese Themen monatlich auf acht Seiten Zeitung auf die Straßen und in das Viertel zu tragen. Mit „Unserer Stimme – das Blatt aus dem Union Viertel“ kriegen Themen wie Mieterhöhungen oder die Kitaschließung um die Ecke, im Viertel mehr Aufmerksamkeit und eine tiefere Einordnung.

Die Zeitung achtet gleichzeitig auf eine niedrigschwellige Sprache zu Themen, um den Zugang für eine breite Basis sicherzustellen. Diesen Ansatz verfolgt auch das Programm des Union Salon/Lyra. Deswegen ist im Treff ein breites Spektrum an Veranstaltungen zu finden. Egal was die Nachbarschaft umsetzen will, es kann erstmal umgesetzt werden: Brettspieltage, gemeinsames Abendessen, Stricken, Quizabende, Diskussionen über Krieg oder Gesprächsrunden über Femizide.

Im vergangenen Jahr fand in der Straße unseres Nachbarschaftstreffs ein Femizid statt. Gemeinsam mit der Familie der ermordeten Frau, organisierte der Mädchen- und Frauentreff mehrere Gesprächsrunden und Kundgebungen, um einerseits einen Raum für die Trauer zu geben und andererseits über geschlechtsspezifische und patriarchale Gewalt zu sprechen. Von der Familie wurden die Veranstaltungen als sehr unterstützend wahrgenommen und für vielen NachbarInnen waren diese Treffen oft das erste Mal sich mit patriarchaler Gewalt gegen Frauen auseinanderzusetzen. Wir hatten das Gefühl, dass dieser schreckliche und traumatische Mord für einige in der Nachbarschaft ein gewisser politischer  Erweckungsmoment bedeutete. Viele berichteten im Nachbarschaftstreff, dass sie durch den Femizid, den Austausch mit der Familie und auch politische Einordnung durch die Familie und den Frauentreff Lyra  patriarchale Gewalt anders begreifen und verstehen würden. Gemeinsam wurden im Anschluss eine Prozessbegleitung des Täters und mehrere Kundgebungen organisiert.

Dieser Femizid zeigte, dass der Union Salon und der Frauentreff Lyra schnell agieren und aktiv werden können – und das immer in Zusammenarbeit mit der Familie der ermordeten Frau.

Wir wollen im Nachbarschaftstreff auch einen Raum schaffen der gemeinsamen politischen Bildung vorantreibt. Denn die politische und soziale Situation weltweit lässt keinen Zweifel daran, dass es Änderungen braucht, und zwar grundlegende. Wir sind der Meinung, dass das nur durch eine sozialistische Bewegung von unten möglich ist. Und dafür braucht es neben Selbstwirksamkeit der eigenen Projekte und Ideen auch ein politisches Verständnis innerhalb der Basis – die Kopfarbeit darf eben nicht von der Arbeiterklasse ferngehalten werden. Sondern wir brauchen sie, um (Ausbeutungs-)Verhältnisse und Unterdrückungsmechanismen zu verstehen und zu bekämpfen.

Der Kampf geht weiter

Die internationalen Umstände und jene in unserem Viertel zeigen uns, dass der Kampf umso entschlossener fortgeführt werden muss. Die Politisierung und Organisierung der Basis muss weitergehen, damit langfristige Veränderungen geschaffen werden können. Die Umstände zeigen, dass es gemeinsame Ideen und Entwicklungen braucht.

Für uns bedeutet das im nächsten Schritt, dass es städteübergreifende Vernetzungen von Nachbarschaftstreffen geben muss. Denn es müssen strategische Entscheidungen getroffen werden, um weitere Organisierungsschritte voranzutreiben. Es soll deutschlandweit eine soziale Bewegung aus Stadtteiltreffs entstehen, die aus den vereinzelten Treffs eine politische Kraft entstehen lässt. Uns ist bewusst, dass diese Arbeit erst am Anfang steht. Und solange müssen wir uns in unserer Nachbarschaftsarbeit weiter auf das Gemeinsame konzentrieren und nicht auf das Trennende. Denn wir wollen gemeinsam das kleine im Großen denken und gemeinsam nach oben kämpfen anstatt nach unten zu treten.