In ihrem neuen Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung beschlossen, die Umgehung der Bezahlkarte für geflüchtete Menschen unter Strafe zu stellen. Doch wie und warum versucht die Initiative „Nein zur Bezahlkarte Leipzig“, die Bezahlkarte auszuhebeln? Ein Blick hinter die Kulissen.
EIne Beitrag von Lilli Sauer
„Somalia?“ Auf dem Gehweg sind ein Dutzend Menschen mit den unterschiedlichsten Schuhen. Die Stimme kommt von dem Mann in den dunkelblauen Sneakern. „Nein. Ich bin aus Venezuela“, antwortet die Frau neben ihm. In ihren dunkelbraunen, schulterlangen Haaren trägt sie Kopfhörer, die schräg über den Ohren sitzen. So kann sie trotzdem etwas hören. Ihr Name ist Fabiola, weitere Namen möchte sie nicht nennen. Die 31-Jährige steht in einer Menschenmenge an einem Eingang eines Eckladens. Wenn niemand spricht, ist es für einen Montagmorgen sehr still. Die Straße, in der sie mit ihrem kleinen rollbaren Einkaufskorb in der Sonne auf dem Gehweg steht, befindet sich in Borna, 30 km südlich von Leipzig in Sachsen.
Eine Gruppe von Menschen läuft durch die Schlange in den Laden und schließt die Tür hinter sich. Sie bauen auf dem Tisch in dem Raum kleine Mappen gefüllt mit Geld und eine Kiste mit Einkaufsgutscheinen auf. Eine Frau geht zur Tür. „Kommt rein“, ruft sie nach draußen. Die wartenden Menschen drängen in den Laden. Es dauert nur kurz, bis sich die Menge in eine Schlange vor dem Tisch geformt hat, an dem vier Personen sitzen. Fabiola ist dran. „Hast du einen Code?“ fragt sie ein Mann der an dem Tisch sitzt.
Einkaufgutscheine gegen Bargeld tauschen

Der Mann heißt Constantin Höhendinger und ist wie die anderen am Tisch Teil der Initiative „Konten statt Karten Leipzig“. Nachdem Fabiola ihm zwei Einkaufsgutscheine, den passenden Einkaufszettel und einen Code gegeben hat, reicht Constantin ihr einen Hundert-Euro-Schein. Auf dem Tisch liegen Flyer in verschiedenen Sprachen, mit Bildern die erklären: Wenn du eine Bezahlkarte hast und mehr Bargeld benötigst, schreibe eine Nachricht über dein Handy an die Initiative. Dann vereinbaren sie mit dir einen Termin, an dem du Einkaufsgutscheine für bestimmte Supermärkte gegen Bargeld tauschen kannst. Die Gutscheine kaufst du vorher mit deiner Bezahlkarte.
Jona sitzt neben Constantin, beschriftet die Gutscheine und den Einkaufszettel und sortiert sie ordentlich in die große Pappkiste. Sie erklärt, dass der Code notwendig ist, da jede Person mit Bezahlkarte nur 100 Euro im Monat tauschen kann. Das Geld reicht sonst nicht, der Bedarf ist groß. Es werden immer mehr Menschen, die auf den Tausch angewiesen sind. Vor ein paar Monaten konnten die Menschen noch mehr Bargeld erhalten.
Seit Frühjahr 2024 wird die Bezahlkarte im Leipziger Umland ausgegeben. Die Einführung der Bezahlkarte für geflüchtete Menschen, abhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, muss bis Ende 2025 im gesamten Bundesgebiet erfolgt sein. Die Karte kann in ausgewählten Supermärkten zur Bezahlung genutzt werden. Barauszahlungen sind nur in Höhe von 50 Euro pro Monat möglich. Constantin ergänzt, das nach ihren Informationen, die Bezahlkarte im Herbst in Leipzig eingeführt wird. Seine Augen ziehen sich zusammen und es ist kaum möglich an den Sorgen in seinem Blick vorbeizuschauen. „Bisher waren wir nur im Umland aktiv. Das wird eine massive Herausforderung für uns.“
Constantin ist 29 Jahre alt und arbeitet im IT-Bereich in der Leipziger Innenstadt. Ein durchschnittliches Büro für die Gegend: Konferenztisch, weiße Wände, grauer Teppichboden. Hier verdient Constantin das Geld, das er zum Leben braucht. In der Initiative gegen die Bezahlkarte engagiert er sich unbezahlt. Sie sind etwa 20 Personen in der Gruppe, aber aufgrund von Zeitmangel sind sie in manchen Wochen auch nur zu fünft unterwegs. Es gibt viel zu tun: die gesamte Koordination per Telefon und die Tauschaktionen. „Für manche von uns ist es ein Vollzeitjob“, fügt er hinzu.
Die Karte ist ein Teil des Kontrollsystems

Fabiola steht da, lässt ihre Arme hängen. „Warum gibt es die Bezahlkarte?“, fragt Natanael mit ernster Stimme neben ihr. „Ich versteh es nicht!“ Die Fragezeichen in seinen Augen hüpfen fast bis zu ihr. Er sagt, er tausche Gutscheine in Bargeld um und zahle dieses dann auf ein Konto ein. Damit er seinen Handyvertrag zahlen kann. Das ist mit der Bezahlkarte nicht so einfach möglich. Je nachdem, wo die Menschen wohnen, sind Onlinezahlungen – egal, ob für das Deutschlandticket oder für Bestellungen im Internet – nur nach Genehmigung durch das Landratsamt möglich.
Im Büro mit dem grauen Teppichboden umklammert Constantin mit einer Hand ein Teeglas. Die andere Hand gestikuliert, während er spricht. Der Hauptgrund für die Einführung der Bezahlkarte sei, dass die Leute sonst viel Geld ins Ausland schicken würden. Es gäbe Studien, die belegen, dass dies nicht der Fall ist. Das Argument, es sei weniger bürokratischer Aufwand, sei nicht nachweisbar.
Viele Initiativen betrachten die Bezahlkarte als Abschreckungs- und Kontrollinstrument. „Und da“, fährt Constantin fort, „müssen wir schauen, was gesamtgesellschaftlich passiert.“ Die Aktivist:innen von „Nein zur Bezahlkarte Leipzig“ lehnen nicht nur die Bezahlkarte selbst ab, sondern kritisieren auch das dahinterstehende System. Bei den Tauschaktionen werden sie immer wieder schmerzhaft damit konfrontiert. Constantin senkt den Blick auf den Tisch vor sich und erzählt mit ruhiger, gleichzeitig kräftiger Stimme von der großen Wut, die das in ihm auslöst. Er sagt, es gäbe andere Lösungen. Diese Lösungen würden in Deutschland jedoch bewusst nicht wahrgenommen. Es sei gewollt, dass geflüchtete Menschen verzweifeln.
„Wir würden auch noch einen Schritt weiter gehen und diese Fragen nicht nur auf das Asylrecht beziehen,“ ergänzt Constantin, nimmt ein Schluck Tee. Manche Menschen, mit denen er sich unterhalten hat, sind zum Beispiel ehrenamtlich engagierte Rentner:innen aus einer Kirchengemeinde in Leipzig. Sie würden sich fragen, was die Bezahlkarte mit ihnen zu tun hätten. „Doch befinden wir uns,“ meint Constantin, „in einer Situation, in der eine Bezahlkarte auch in der Rente passieren könne“. In Hamburg wurde erst kürzlich die Bezahlkarte für Jugendliche im Sozialhilfebezug eingeführt. Dabei ginge es den Politiker:innen um mehr Kontrollmöglichkeiten durch Datenspeicherung.
Repressionen gegen die Tauschaktionen
Initiativen kämpfen in zahlreichen Städten in Deutschland gegen die Bezahlkarte. In einigen Städten werden die Termine für die Tauschaktionen öffentlich bekannt gegeben. Das ist in Sachsen nicht so einfach. Die Gefahr durch Angriffe ist zu groß. Termine und Orte seien, so Constantin, bereits in rechten Chatgruppen aufgetaucht. Deshalb sind die Menschen der Initiative in Leipzig auch gewohnt „unter der Oberfläche“ zu bleiben. Es ist notwendig genau zu schauen, welche Informationen öffentlich gemacht werden und welche nicht. Bisher war die Arbeit der Gruppe rechtlich gesehen nicht angreifbar.Bei dem Gedanken, dass sich das vielleicht ändern wird, bilden sich kleine Falten auf Constantins Stirn. Die neue Regierung hat im Koalitionsvertrag festgelegt, dass die Umgehung der Bezahlkarte strafbar sein wird. „Wir stellen uns also darauf ein, dass da noch mehr folgen wird.“
Wie die Repressionen aussehen werden, mit denen die Initiative und die geflüchteten Menschen rechnen müssen, ist bisher unklar. Dass sie nicht so schnell aufgeben werden, ist für Constantin klar: „Die Arbeit einzustellen, ist auf keinen Fall eine Option. Denn sie ist alternativlos, um Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.“
Zwei Stunden später sind in dem kleinen Laden in Borna kaum noch Menschen. Fabiola wird gleich zurück nach Rötha fahren, sie wohnt in der kleinen Stadt in der Nähe. Sie zeigt auf ihren Einkaufskorb mit Rollen. Bevor sie zurückfahre, gehe sie noch einkaufen. „Es ist gut, dass es diese Menschen gibt“, lobt sie mit einem warmherzigen Lächeln. Sie zeigt auf die Menschen an dem Tisch und verlässt den Laden. Ihr Lächeln ist noch zu spüren.

Mehr Infos zur Initiative findet ihr hier und auf Instagram.