Der „Krieg gegen den Terror“ ist eine imperialistische Lüge – Wir sind nicht die Guten

4. September 2025

Der vorliegende Text ist die dritte These unserer Broschüre „Ein Sturm zieht auf – Thesen zu Krieg, Imperialismus und Widerstand“. Die vollständige Broschüre mit neun weiteren Thesen ist beim Letatlin Verlag bestellbar.

Vom Irak über Jugoslawien, Afghanistan, nochmal Irak, Libyen, Ukraine, immer wieder Palästina und zuletzt Iran – wenn der Westen Krieg führt, dann geschieht das nie aus unmoralischen Motiven! Wenn der Westen Krieg führt, dann nur weil er freiheitliche Werte, Zivilisation, Demokratie und internationale Sicherheit verteidigen muss gegen die Barbarei der Anderen, welche diabolische Eigenschaften und grundlos böse Absichten haben. Wir sind die Guten und führen Krieg gegen das Böse.1 Dieses Narrativ ist in allen Kriegseinsätzen des Westens der letzten 35 Jahre mehr oder weniger dasselbe gewesen.2 Praktischerweise deckt sich das Böse dabei rein zufällig immer mit den geopolitischen Gegnern des Westens und die Regionen, in denen Krieg geführt wird, mit westlichen Wirtschaftsinteressen an Rohstoffvorkommen und Handelsrouten.

Im herrschenden Diskurs des Westens wurde „Terrorismus“3 dabei zum Synonym für „das Böse“, insbesondere im Mittleren Osten. Gemeint sind alle (teils durchaus reaktionären) Staaten und Kräfte, die der westlichen Hegemonie im Mittleren Osten, seiner Unterwerfung, Durchkapitalisierung und Eingliederung in den US-geführten Machtblock, entgegenstehen.

Narrative nach 9/11

Ein prägender Zeitpunkt in der Geschichte des „Krieg gegen den Terror“ war der 11. September 2001. Der westliche Imperialismus hat nach diesem Tag eine neue Phase eingeläutet und eine Großoffensive im Mittleren Osten begonnen. Eine US-UK-geführte Militärkoalition begann einen jahrelangen Zerstörungs- und Besatzungsfeldzug erst in Afghanistan, dann im Irak. Offiziell erklärtes Ziel war, die Drahtzieher und Unterstützer von 9/11 zu vernichten, internationale Sicherheit herzustellen und dem Mittleren Osten Freiheit und Demokratie zu bringen. Diese Kriege schadeten jedoch vor allem der Zivilbevölkerung. Zwischen 900.000 und 1,3 Millionen Menschen fielen dem Terror des „Krieg gegen den Terror“ in Irak und Afghanistan zum Opfer – die meisten davon Zivilist:innen.4 Die „Freiheitsmission“5 hinterließ Instabilität in der Region. Die vom US-geführten Westen angestrebten regime changes und ein stabiles nation / state building nach westlichem Vorbild mit Anbindung an das westliche System haben nicht funktioniert. Der Irak ist ein instabiler Staat und Gruppen wie der sogenannte Islamische Staat sind in den Gefängnissen und Foltercamps der US-Besatzung entstanden und sorgen bis heute für große Probleme. Al-Qaida konnte nicht zerschlagen werden und eine ihrer Abspaltungen stellt heute die syrische Regierung. In Afghanistan haben mit Abzug der US-Truppen nach 20 Jahren die Taliban umgehend wieder die Macht übernommen und sitzen fester im Sattel als zuvor. Libyen, welches die NATO 2011 bombardierte, um den antiwestlichen Führer Muammar Gaddafi zu stürzen, versinkt bis heute in Gewalt, Chaos und Willkür, worunter vor allem die Gesellschaft und die vielen Geflüchteten leiden. Die Kriege führten zu massiven humanitären Katastrophen und dienten nicht dem Schutz der Menschen, weder im Mittleren Osten noch im Westen, sondern der Aufrechterhaltung globaler Machtstrukturen. Die realen Interessen der USA in Afghanistan (welches sowohl an China als auch den Einflussbereich Russland angrenzt) und im Irak (der reich an Öl und dessen Kontrolle im Mittleren Osten von zentraler geopolitischer Bedeutung ist) hatten mit Kampf für Demokratie und Menschenrechten von Anfang an nichts zu tun.

Kriege, die unter dem Vorwand geführt werden, den Terrorismus zu bekämpfen, sind in Wirklichkeit Kriege um geopolitische Kontrolle, Ressourcen und die Durchsetzung imperialer Interessen. Durch die Erzählung des „Terrorismus“ und des „Bösen“ wurden und werden militärische Angriffe auf politische Gegner-Staaten gerechtfertigt sowie antiimperiale und antikoloniale Bewegungen delegitimiert6. Im Bezug auf Israels Krieg gegen Palästina wird die Erzählung der „Zivilisation gegen die Barbarei“ bereits seit Langem verwendet. Spätestens jedoch seit dem 7. Oktober wird der palästinensische Widerstand delegitimiert, indem er als islamistisch und barbarisch der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ gegenübergestellt wird. Die palästinensische Gesellschaft wird generalisiert als rückständig und islamistisch dargestellt.7 So wird ein Genozid an zehntausenden Zivilist:innen durch einen vermeintlich „zivilisierten“ Staat als notwendiges Übel im „Kampf gegen die terroristische Hamas“ gerechtfertigt.8 Mit ähnlichen Narrativen konnte Israel als enger US- und NATO-Verbündeter im Nahen Osten die letzten Jahrzehnte Angriffe und Besatzungen im Libanon, Syrien, Iran und dem Jemen durchführen.

Das ultimative Böse als akute Bedrohung

Auffällig ist bei all dem, dass immer wieder massive Bedrohungsszenarien heraufbeschworen wurden, um Kriegseinsätze zu begründen, die offensichtlich einen ganz anderen, nämlich geopolitischen Hintergrund hatten: Die Massenvernichtungswaffen im Irak, die sich als Lüge herausstellten, die Bezeichnung Saddam Husseins als „Hitlers Wiedergänger“, der die Vernichtung der Juden vollenden wolle, die Aussage „Nie wieder Auschwitz“ des grünen Außenministers Fischer zur Legitimation des ersten deutschen Kriegseinsatzes nach 1945 in Jugoslawien, die angebliche Atombombe des Iran im Juni 2025 und das ständig angeblich in seiner Existenz bedrohte Israel: Immer wieder wird mit Superlativen, erfundenen Bedrohungen wie im Irak oder übertriebenen Szenarien wie im Iran die Öffentlichkeit in Angst versetzt, aufgehetzt und damit präventive Militäraktionen, Angriffskriege, ja Völkermorde gerechtfertigt. Die Information, der öffentliche Diskurs, die Medien, die Meinung und Stimmung im eigenen Land, der „Heimatfront“ sind empfindlich wichtig für die Herrschenden wenn sie Krieg führen wollen; darum spielt das Narrativ der Selbstverteidigung gegen einen absolut bösen Feind, der uns akut bedroht, eine zentrale Rolle – sozusagen als „rechtfertigender Notstand“.

Wir schreiben das nicht, weil wir denken, dass die Beurteilung der Kriege in Irak oder Afghanistan in der deutschen Linken und Gesellschaft sonderlich kontroverse Themen sind (mit Ausnahme des Genozids in Palästina). Wir schreiben das, weil die Logiken und Dynamiken hinter diesen Erfahrungen nicht tot sind und wir in der deutschen Aufrüstung und Kriegsvorbereitung gerade ein Wiederaufleben dieser Narrative sehen und die Haltung einiger Linker dazu bei uns große Fragezeichen auslöst.

Ukraine, Russland und die deutsche Militarisierung

In der Linken in Deutschland sind in den letzten Jahren seit Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vermehrt verwirrte Aussagen zur stattfindenden Militarisierung und eine fragwürdige Positionierung zum eigenen imperialistischen Staat zu beobachten. Konkret zur Involviertheit des deutschen Staats wie z.B. Waffenlieferungen haben sich mitunter diametrale Positionen gebildet. Das Narrativ „Wir sind die Guten und führen Krieg gegen das Böse“ taucht dabei auch in der Linken wieder auf. Eine Analyse der zugrundeliegenden Geschichte in der Ukraine, der russischen, europäischen und US-amerikanischen Interessen und der materiellen Prozesse, die zu dieser Konfrontation geführt haben, bleibt häufig aus. Solche Analysen müssen aber stattfinden, wenn man sich als Linke nicht einfach stumpf der imperialistischen Staatspolitik und ihrer Propaganda der „Verteidigung der Freiheit“ ergeben will:

Die geopolitische Situation in der Ukraine

In der Ukraine treffen die Interessen dreier imperialistischer Blöcke aufeinander: Erstens die EU, welche eine wirtschaftliche Osterweiterung will und aufgrund des Interesses an der Ukraine als Wirtschaftsraum für billige Arbeitskräfte und neue Absatzmärkte von dieser forderte, die Eigenständigkeit zwischen den Lagern aufzugeben und sich dem europäischen Macht- und Wirtschaftsblock anzuschließen. Zweitens die Amerikaner, die geostrategische Interessen an der Ukraine in ihrer Expansion gen Osten haben. Und drittens das russische imperiale Interesse an der Ausweitung bzw. Aufrechterhaltung des eigenen wirtschaftlichen und politischen Zugriffsbereichs und der Verhinderung der NATO- und EU-Osterweiterung. Zugrunde liegen allen drei Machtblöcken, egal wie sie ihre Politik ideologisch rahmen, dieselben Interessen: wirtschaftliche. Es geht um die Bodenschätze im Donbass, Absatzmärkte und Arbeitskräfte, sowie den geostrategischen Standort – um die Expansion des eigenen Imperiums. Diese Interessen prallen aufeinander und dadurch ist die Ukraine seit spätestens 2014 zum Spielball zwischen westlichen und östlichen Interessen geworden.

Viele Ukrainer:innen wollten vor dem russischen Angriffskrieg ein Zwischenstaat bleiben: In der EU arbeiten können, aber Güter aus Russland importieren, die dann bezahlbar wären. Die EU aber wollte, dass Ukrainer:innen billig für uns arbeiten und gleichzeitig unsere teuren Güter kaufen. Und Russland wollte das Gleiche andersherum. In den USA gab es in den letzten Jahren widersprüchliche Ansätze der Ukraine-Politik, aber im Grundlegenden sind sie an der Expansion ihrer Hegemonie gegen Russland, China und den Mittleren Osten interessiert. Eine ukrainische Neutralität wurde von keiner beteiligten Seite akzeptiert. Die EU hat bis 2013/2014 versucht, durch Scheckbuch-Politik, dem Angebot finanzieller „Hilfe“ und einem neoliberalen Assoziierungsabkommen die Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen und wirtschaftlich zu unterwerfen, während Russland die Ausschaltung seines Einflusses im Nachbarland hinnehmen und sein Interesse abmelden sollte. Vielleicht hat der Westen, insbesondere die EU, nicht damit gerechnet, dass es so blutig wird. Fakt ist, dass Putin zum militärischen Angriff übergegangen ist und jetzt einen Krieg zur Unterwerfung der Ukraine seinerseits und gegen die Expansion des westlichen Machtblocks führt. Viele westliche Staaten und Konzerne werfen seitdem verstärkt Geld, Waffen und Expertise auf das Schlachtfeld, um am Krieg und Wiederaufbau zu verdienen, den politischen und wirtschaftlichen Zugriff auf die Ukraine nicht zu verlieren und ihre jeweiligen Machtansprüche zu behaupten.

Beide Seiten werfen sich in ihren Narrativen gegenseitig Faschismus vor. Die Wahrheit ist, dass beide Seiten (auf ukrainischer Seite die NATO) imperialistisch sind und zur Durchsetzung ihrer Interessen in Teilen faschistische Streitkräfte unterhalten. Die Interessen der US-geführten NATO und Russlands mit China als Verbündetem sind nicht unterschiedlich, nur entgegengesetzt. Das Gerede von Freiheit gegen Diktatur oder Menschenrechte gegen Barbarei ist moralische Heuchelei, die dadurch funktioniert, dass Russland als erstes den Schritt vom Wirtschafts- zum militärischen Krieg gegangen ist. In anderen Fällen hat der Westen das Gleiche getan wie oben bereits ausgeführt. Putin ist nicht der neue Hitler. Er vertritt sein imperiales Interesse mit militärischen Mitteln, so wie es andere imperialistische Staaten tun. Der russische Angriffskrieg ist völkerrechtlich illegal, moralisch zu verurteilen und die Ukraine hat ein legitimes Selbstverteidigungsrecht. Ihre Tragödie ist aber, dass sie Schauplatz eines imperialistischen Stellvertreterkriegs geworden ist, in dem sie als Schlachtfeld zur Austragung höherer, äußerer Interessen genutzt wird. Es ist nicht gerecht, dass auf Kosten ihres Landes, ihrer Gesellschaft und ihrer Leben ein blutiger, brutaler Machtkampf geführt wird. Es gibt in diesem Krieg jedoch für die Bevölkerung nichts mehr zu gewinnen, genau so wenig für demokratische und fortschrittliche Kräfte. Dafür ist es gewissermaßen zu spät. Deshalb muss ein Waffenstillstand, diplomatische Verhandlungen und dauerhafter Frieden in einer neutralen, demilitarisierten und kooperativen Ukraine das Ziel sein und nicht die ewige Weiterführung des Kriegs. Dass neben Russland auch die westlichen Staaten weiter auf Krieg, Waffenlieferungen und Aufrüstung setzen, liegt an ihren eigenen Interessen in der Ukraine und nicht daran, dass sie das ukrainische Volk oder Menschenrechte interessierten.

Westliche Freiheit vs. russischer Autoritarismus?

Das Argument, was oft für Waffenlieferungen an die Ukraine und auch Aufrüstung und Militarisierung in Deutschland angeführt wird, ist ein angeblich drohender russischer Generalangriff gegen die EU und die NATO, um weitere Länder zu besetzen und Putins Autoritarismus mithilfe prorussischer Kräfte auf andere europäische Gebiete auszuweiten. Unser jetziger Staat sei der bessere und wenn wir uns unsere Freiheit vor einer russischen Diktatur bewahren wollten, müssten wir uns für einen Angriff rüsten. Wie wahrscheinlich all das ist und wie viel westliche Propaganda in diesem Szenario steckt, sei an dieser Stelle zweifelnd dahin gestellt.

Es stimmt aber, dass die Russische Föderation aktuell in vielen Teilen eine autoritärere und reaktionärere Innenpolitik verfolgt als der deutsche Staat. Bürgerliche Grundrechte sind in Deutschland noch eher gültig als in Russland, wenn auch mit Einschränkungen und in ihrer Gänze meist nur für den unkritischen Mainstream der weißen Staatsbürger:innen. Angesichts der brutalen Verfolgung von Anarchist:innen und politischen Oppositionellen und der Unterdrückung von LGBTIQA+ in Russland befinden wir uns in Deutschland aber trotzdem noch in einer verglichen komfortableren Lage. Das westliche Narrativ von der Verteidigung des „Fortschritts“ oder der „Zivilisation“ gegenüber dem „Rückständigen“ bleibt jedoch eine falsche Dichotomie.

Rechtsruck und Militarisierung im Westen

Die Repression gegen die Palästina-Proteste und der zunehmende Rechtsruck der Staatspolitik zeigt das Potential der autoritären Entwicklung auch in Deutschland auf. Auch die Faschisierung in den USA, der ICE-Terror, die Willkür, die sozialen Kürzungen, die Verfolgung politischer Oppositioneller und die weiter zunehmenden Angriffe auf die Rechte von Frauen und LGBTIQA+ zeigen, dass wir uns nicht in einem demokratischeren, progressiveren, sichereren Machtblock gegenüber Russlands Autoritarismus wähnen dürfen, sondern solche Zustände auch im Westen und in Deutschland möglich sind und dies einzig eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse ist. Was in den USA gerade an faschistischem Umbau passiert, ist eine Warnung, was uns auch in Deutschland bevorsteht. Angriffe auf die Rechte von Frauen, LGBTIQA+, Migrant:innen, politischen Oppositionellen, Marginalisierten und Arbeiter:innen werden von der CDU-geführten Regierung schon heute durchgeführt oder vorbereitet. Merz ist dabei gerade so viel Trump wie es in Deutschland aktuell möglich ist. Zu Schweigen davon, was uns im Zuge des aufsteigenden neuen deutschen Militarismus noch alles an autoritärer Innenpolitik und sozialem Kahlschlag bevorsteht. Rechtsruck und Faschisierung sind nichts, was von außen kommt. Der Rechtsruck in der deutschen Staatspolitik wird dabei von denselben Kräften vollzogen, welche aktiv und aggressiv auf Militarisierung drängen. Wer also Militarisierung und Krieg gegen Russland aus „progressiven“ Gründen befürwortet, macht sich mit genau denen gemein, die Rechtsruck und Autoritarisierung in Deutschland vorantreiben.

Eine Angst, aus der teilweise Betroffene eine deutsche Militarisierung befürworten, ist ein russischer Faschismus, welcher die homo- und transfeindlichen Zustände aus Russland in weitere Länder expandiert. Ängste vor Verfolgung sollten ernst genommen und nicht einfach abgetan werden! Dem deutschen Staat geht es aber nicht darum, Rechte von Queers in der Ukraine zu verteidigen. Er hat rein machtpolitische und ökonomische Interessen und wird diese in Zukunft auch zusammen mit einem von Neonazis durchsetzen ukrainischen Staat umsetzen, welche sicher nicht für die Rechte queerer Menschen eintreten werden. Der Kampf für Feminismus, gegen Homo- und Transfeindlichkeit ist ein integraler Bestandteil unseres Kampfes und muss auf der gesellschaftlichen und staatspolitischen Ebene geführt werden. Wer aber ernsthaft glaubt, dass eine Verbesserung der Situation unterdrückter Geschlechter und Sexualitäten durch Krieg, Aufrüstung, Militarismus in der Gesellschaft und imperialistische Staatspolitik erreicht wird, an dessen politischer Analysefähigkeit sei an dieser Stelle stark gezweifelt.9 Wer den deutschen Militarismus unterstützt, kriegt den Krieg und Autoritarismus, den er bekämpfen will und das ganz ohne russische Besatzung. Die neokoloniale Ökonomie10, die Unterstützung des Genozids in Palästina und der Krieg der EU gegen Geflüchtete zeigen das reaktionäre Potential der liberalen imperialistischen Staaten, die ihren Liberalismus nur nach innen und auch nur solange es in ihrem Interesse ist und sie es sich leisten können, gelten lassen.

Die vermeintlich alternativlose Wahl zwischen einer liberalen Kriegsunterstützung Deutschlands oder der Unterwerfung unter Putin ist also eine falsche Gegenüberstellung. Das „kleinere Übel“ ist ein analytischer Fehler. Wir sind nicht die Guten. Wir sind nicht das kleinere Übel, das man „verteidigen“ muss. Wer hat uns eigentlich angegriffen? Der Westen und auch Deutschland hat maßgeblich mit zu diesem Krieg und der Konfrontation beigetragen und drängt selbst auf imperialistischen Expansionskurs.

Antisystemische Opposition statt „freien Westen verteidigen“

Es ist nicht die Aufgabe von Sozialist:innen, aus realpolitischem Defätismus imperialistische Staatspolitik zu machen. Wer in dieser Logik argumentiert, weil er oder sie keine Analyse der wirtschaftlichen, machtpolitischen und historischen Gründe der Verhältnisse macht, landet früher oder später bei einem Schulterschluss mit dem deutschen Imperialismus, auch wenn die Ursprungsintention vielleicht Mitgefühl mit den Ukrainer:innen oder Sorge um die von Putin Unterdrückten ist. Aber diese Schlussfolgerung wird nicht zu weniger sondern mehr von allem führen, was wir bekämpfen: Krieg, patriarchale Gewalt, Gleichschaltung, Armut, Rassismus, Nationalismus, Demokratieabbau, soziale Kürzungen. Wer also so weit nach rechts rückt, dass er in einer Querfront mit der eigenen herrschenden Klasse für deren Kriegspolitik eintritt, muss sich mit Recht die Frage gefallen lassen, ob er oder sie Sozialist:in oder einfach deutsche:r Liberale:r ist. Wessen Plan für die nächsten Jahre ernsthaft eine Unterstützung der deutschen Militarisierung im Rahmen einer regressiven nationalen Realpolitik „gegen Russland“ ist, dem sei nahegelegt, ob er oder sie nicht vielleicht direkt zur SPD oder den Grünen gehen sollte – die sind diesen Weg wenigstens schon konsequent zu Ende gegangen.

Der Weg eines wirklichen Kampfes gegen Faschismus und die Unterdrückung von Frauen und LGBTIQA+, Migrant:innen, Geflüchteten, allen Marginalisierten und der gesamten Arbeiter:innenklasse führt nicht über die Unterstützung der Militarisierung eines imperialistischen Staates auf Kriegskurs, sondern über die Stärkung demokratischer, antiimperialistischer Kräfte in Staat und Gesellschaft und das Eintreten für Frieden. Die Aufgabe von Sozialist:innen ist eine Verhinderung weiterer Eskalation und autoritärer Zuspitzung, um die Möglichkeiten demokratischer Politik zu stärken, wahre Alternativen zum imperialistischen System zu schaffen. In Kriegsregimen werden die Bedingungen brutaler, prekärer, reaktionärer als in Friedenszeiten und die Spielräume für politische Opposition, gesellschaftliche Gegenmacht und demokratische Politik schrumpfen. Die lohnabhängige Gesellschaft hat dabei nichts zu gewinnen. Die Perspektive liegt in der Erhaltung und Erweiterung der Spielräume für gesellschaftsdemokratische und klassenkämpferische Politik. Die antifaschistische und sozialistische Strategie führt über das Eintreten für Verhandlungen, Frieden und antiimperialistische Selbstbestimmung.11

1 Merkmale von Kriegspropaganda analysiert u.a. Anne Morelli in „Die Prinzipien der Kriegspropaganda“ (2004)

2 Das Schema ist nicht neu: In der antikommunistischen Hysterie des Kalten Kriegs und den westlichen Kriegen gegen antikoloniale Befreiungsbewegungen wie in Vietnam zeichnete die imperialistische Propaganda ähnliche Bilder. Dies geht meist mit einer rassistischen Erzählung einher. Auch die europäische Arbeiter:innenbewegung wurde teils unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung kriminalisiert. Die Dämonisierung des Gegners zur Rechtfertigung der eigenen Kriegshandlung und Täuschung über die wahren eigenen Motive ist vermutlich so alt wie der Krieg selbst.

3 Die Begriffe Terror und Terrorismus müssen kritisch betrachtet werden, da sie nahezu immer interessengeleitet verwendet werden und dabei kolonial aufgeladen sind und repressiv wirken sollen. Im Westen werden sie vor allem für nicht-weiße Menschen / Organisationen und politisch Widerständige verwendet.

4 https://www.brown.edu/news/2021-09-01/costsofwar

https://www.bundeswehr-journal.de/2015/rund-13-millionen-tote-durch-krieg-gegen-den-terror

5 Enduring Freedom („dauerhafte Freiheit“), Name der Militäroperation in Afghanistan 2001

6 Die rassistisch-koloniale Logik macht oft keinen grundlegenden Unterschied zwischen islamistisch, sozialistisch oder einfach anti-westlich/nationalistisch, sondern behandelt alle aus kolonisierten Ländern stammenden Widerstände als Terroristen/Barbaren. Deutlich wird das z.B. auch an den Kategorien, in denen der deutsche Verfassungsschutz arbeitet: In dessen jährlichem Bericht wird unter „Ausländerkriminalität“ bzw. ausländischer Terrorismus alles nicht als deutsch/westlich definierte von der PKK bis zum IS zusammengefasst, unabhängig von Zielen oder Ideologie.

7 Dieses Narrativ ist eine Kontinuität aus der Kolonialzeit. Damals wurden die Verbrechen der Kolonialmächte legitimiert, indem die Kolonisierten als „primitiv“ und „barbarisch“ gekennzeichnet wurden. Daraus wurde das Weltbild des biologischen Rassismus geprägt, welches Kolonisierte in Zusammenhang mit der Natur setzte und einen hierarchischen Gegensatz zwischen „Natur“ und „Kultur“ aufmachte. Zwar wird diese Form des Rassismus heute für wissenschaftlich überholt erklärt und Begriffe wie „Rasse“ offiziell nicht mehr verwendet, jedoch zeigt sich an der Dynamik, das „Zivilisierte“ dem „Barbarischen“ zur Rechtfertigung westlicher Krieg gegenüberzustellen seine Kontinuität.

8 Im UN-Bericht „From economy of occupation to economy of genocide“ der UN-Sonderbeauftragten für Palästina Francesca Albanese werden auch hier die ökonomischen Interessen hinter dem „Krieg gegen den Terror“ in Gaza beleuchtet (https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/hrbodies/hrcouncil/sessions-regular/session59/advance-version/a-hrc-59-23-aev.pdf).

9 siehe These 2

10 Mehr zur Kolonialismus-Frage in These 9

11 Mehr zu Widerstand und Perspektiven in der zentralen 6. These