Menschenfeindliche Ideen, jede Menge graue Haare und nen ordentliches Tamtam: Vom 11. bis 13. Juni wurde in Bremerhaven die Innenministerkonferenz veranstaltet. Dabei wurde über die Kriminalisierung und Entrechtung Geflüchteter geschnackt, über Repressionen und Maßnahmen zur inneren Sicherheit geschwätzt und von Abschiebeoffensiven geträumt.
Ein breites Bündnis um Jugendliche ohne Grenzen organisierte Protest gegen das rassistische Klassentreffen, Osman Oğuz hielt auf der Demonstration am 12.06. .einen Redebeitrag, den wir in leicht veränderter Form mit euch teilen wollen.
Liebe Freund:innen, liebe Mitmenschen,

die deutschen Innenminister:innen, die sich derzeit treffen, haben in einem Punkt Recht: Flucht ist ein Problem. Was sie jedoch nicht erwähnen, ist: Deutschland ist Teil dieses Problems.
Derzeit gibt es weltweit mehr als 120 Millionen Flüchtlinge. Dies ist keine zufällige Entwicklung, sondern die Folge globaler Prozesse, deren Spur uns allzu oft nach Deutschland führt. Dazu gehören Klimakatastrophe, Wirtschaftseinbrüche, Verteilungskriege und die autoritäre/faschistische Wende der Politik in immer mehr Ländern. Klingt abstrakt? Ich mache es konkreter – mit einem Beispiel, das ich gut kenne: mein Land, die Türkei.
Die Türkei ist seit über hundert Jahren ein wichtiger Partner der deutschen Politik. Das ist sozusagen Teil der türkischen Staatsräson: Wer an der Macht ist, muss gute Beziehungen zu Deutschland pflegen. Die Auswirkungen dieser Partnerschaft prägen bis heute die Geschichte der Republik: bei den Genoziden an Armenier:innen, Kurd:innen und anderen, bei der Entstehung eines nationalstaatlichen Kapitalismus “von oben”, bei der Mobilisierung nationalistischer und reaktionärer Dynamiken zur Unterdrückung der Arbeiter:innen und all jener, die auf ihr Recht auf Leben beharren, bei den exportierten Waffen, die jegliche genozidale Züge stärkten und stärken, bei den Regulierungs- und Deregulierungsmaßnahmen der Märkte zugunsten deutscher bzw. westlicher Unternehmen, durch die unser Land nicht nur zu einem Billiglohnland, sondern auch zu einer potenziellen Wüste gemacht worden ist, bei den schmutzigen Deals mit unserem langjährigen Diktator Erdoğan und und und – die Aufzählung ließe sich lange fortsetzen. Der abgeschottete Deutsche mag davon kaum etwas wissen oder wissen wollen, aber er ist bei all dem dabei, was wir tun oder lassen.
Die Türkei ist kein Einzelfall – überall wiederholt sich dieses Muster. Als Teil eines imperialen Blocks bedeutet Deutschland für viele unserer Länder Blut, Ausbeutung und Besatzung. Wenn unsere Länder unlebenswert werden, denken wir auch an die deutsche Verantwortung. Wenn Bomben über unseren Köpfen fliegen, wissen wir, dass ein erheblicher Teil davon aus Deutschland stammt. Wenn im Namen von Ordnung, Demokratie und Freiheit Heuchelei betrieben wird, erkennen wir auch den Deutschen hinter diesen Lügen. Diese Hölle, die aus unserem Land und unserer Region gemacht wurde, haben nicht wir Flüchtlinge geschaffen, liebe deutsche Ministerinnen und Minister, sondern ihr mit euren nahen Freunden und Geschäftspartnern. Wir sind die Folge eures Drecks, den ihr schön von euren sauberen Häusern weit fernhaltet – und selbst den putzen am Ende wir mit unseren billigen Händen.
Liebe Mitmenschen,
nicht nur die AfD und ihresgleichen, sondern auch die Bundesregierung macht uns Flüchtlinge und alle armen, besitzlosen Menschen für jegliche Missstände verantwortlich aber nicht alle Menschen in diesem Land profitieren von dieser Politik – auch hier werden Löhne gedrückt, Mieten explodieren und soziale Rechte abgebaut. Die Regierungen greifen unsere Rechte an und greifen im nächsten Atemzug die sozialstaatlichen Errungenschaften an, um mehr aufzurüsten und die Konkurrenzwirtschaft wiederzubeleben. Die Reichen und Mächtigen mögen ihre Zukunft im Management von Kriegen, Krisen und Katastrophen sehen – unser Frieden liegt in gemeinsamen, vernünftigen Lösungen auf Basis von mehr Solidarität und Gerechtigkeit.
Wir sollten dabei viel mehr, viel offener, viel ehrlicher reden, um die Verzerrungen und Stimmungsmache über uns zu entkräften. Dazu bräuchte es Offenheit, Lernbereitschaft und eine kritische, hinterfragende Haltung – aber all das leidet derzeit unter einem Deutschland, das sich nach und nach kriegstüchtiger macht. Die Abschottung, die sich an den Außen- und Binnengrenzen Tag für Tag verschärft, ist auch eine gesellschaftliche und ideologische: Die abgeschotteten Deutschen aller Couleur treffen auf eine aktualisierte Staatsräson, zu der auch die Haltung gegen Geflüchtete gehört. Wer in diesem Land also mitregieren oder auch nur mitreden will, muss immer deutlicher machen, dass er mit “diesen Flüchtlingen” nichts am Hut hat. Wir werden nicht ohne Grund zur Zielscheibe – wir werden angefeindet, damit sich hier ein neonationales Gebilde zunehmend kriegstüchtig aufbauen kann. Doch hinter diesem Gerede und der Abschottung bleiben nicht nur Geflüchtete, sondern auch die Ursachen heutiger Krisen und jegliche Perspektiven auf eine gerechte Zukunft außen vor.
Am besten zeigt eine Entwicklung den Charakter dieses Prozesses: Zeitgleich mit der Abschiebeoffensive wird eine Anwerbeoffensive gestartet, um unsere billige Arbeitskraft anzulocken. Wir sollen arbeiten, aber dabei den Mund halten. Wir sollen den Dreck wegputzen und es uns nicht einmal erlauben, zu sagen, dass deutsche Bomben unsere Geschwister bitte nicht töten sollen. Wir sollen die guten, gehorsamen Ausländer der Deutschen sein. Das ist der Plan: ein Deutschland der hart arbeitenden Menschen neben einem Deutschland der Reichen. Die Basis dafür ist unsere Ausbeutung, unser Blut und unser Gehorsam.
Dazu sagen wir ganz klar: Nein, nein, nein!
Liebe Mitmenschen,
wer, wenn nicht wir, soll das verhindern? Wer die Augen vor der Realität verschließt, dem geht es nicht besser. Wir müssen, wie einmal gesagt wurde, “nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern” und damit beginnen, ein kollektives Bewusstsein gegen diese Tyrannei zu organisieren.
Diese Welt gehört uns: den über 90 Prozent der Menschen, die kaum bis gar kein Eigentum besitzen und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Doch in einer Welt, in der die zehn reichsten Männer so viel Vermögen besitzen wie die ärmsten 40 Prozent der Weltbevölkerung und in der die Superreichen nicht einmal mehr verbergen, dass sie die gesamte Macht besitzen, steht unsere Welt unter der Besatzung einiger weniger. Es geht um alles Menschliche und Gesellschaftliche. Diese Geschichte handelt von uns allen. Nicht wir übertreiben, wenn wir all das benennen – übertreiben tut dieses konkurrenzgetriebene System, das in alle Lebensbereiche durchdrungen ist und alles Menschliche zerfrisst.
Verzeiht mir bitte, dass ich nicht auf die aktuellen Maßnahmen eingehe, an die wir Tag für Tag gewöhnt werden. Jede Woche gibt es eine neue Nachricht der Entrechtung. Jeden Monat haben wir ein bisschen weniger Rechte und Stütze. Abschiebung wird dabei zu einer Strafe, vor der wir uns beugen müssen. Auch die kommenden Wochen und Monate werden offenbar nicht anders verlaufen, wenn wir nicht eingreifen. Wenn man sich nur mit den täglichen Nachrichten der Entrechtung beschäftigt, kann man das Geschehen wie ein Chronist aufnehmen, aber wem nützt das? Diesen Prozess habe ich schon einmal erlebt – bei der autoritären Wende in der Türkei. Am Ende mussten viele bitter feststellen, dass Appelle zur Wahrung des Rechts entweder nicht ausgereicht haben oder sogar falsche Eindrücke und Erwartungen geweckt haben. Wir hätten unsere Opposition viel grundlegender gestalten und geduldig die Zukunft organisieren müssen. Ich habe keine Lust, Merz oder Dobrindt ständig daran zu erinnern, dass wir Geflüchtete “auch-Menschen” sind und ein Leben in Würde verdienen. Ich rede mit euch, liebe Mitmenschen, und rufe euch dazu auf, Lösungen zu finden und diese in Stadtteilen, unter Menschen zu organisieren – mit viel Mühe, viel Ausdauer und viel Geduld. Es gibt keinen Slogan, der alles auf einmal zurückdrehen kann – wir müssen Wege finden, miteinander und mit der Zukunft zu reden. Mit einer Gesellschaft der Zukunft, in der niemand mehr “ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen” ist.
Yallah yallah Widerstand!