Ähnlich brachial wie die Aufforderung von PKK-Gründer Abdullah Öcalan an seine Partei sich selbst zu entwaffnen und aufzulösen, schlug auch die Nachricht ein, dass die seit 1978 bestehende Arbeiterpartei Kurdistans seiner Aufforderung tatsächlich gefolgt ist. So eindeutig die Statements der kurdischen Bewegung zum Vorstoß Öcalans gewesen waren, so wenig hatten viele wohl tatsächlich daran geglaubt, dass die PKK ihrem Wort treu bleiben und Worten Taten folgen lassen würde.
Nach über 46 Jahren der Parteigeschichte, nach über 40 Jahren des bewaffneten Kampfes soll nun also das alles vorbei sein. Vorbei? Nach den Zehntausenden gefallenen Revolutionären in allen vier Teilen Kurdistans? Nach den 4000 von der türkischen Armee zerstörten Dörfern in Nordkurdistan? Nach den Tausenden und abertausenden Seiten revolutionärer Theorie, Geschichte und Kultur, die die kurdische Bewegung allein in den letzten Jahren hervorgebracht hat? Nach fast zehn Jahren ununterbrochenem Kriegszustand gegen die zweitgrößte NATO-Armee? Nach der Entwicklung des Tunnelkrieges und modernen Guerillataktiken in den Gipfeln und Tälern der Berge Mesopotamiens? Einfach vorbei?
Könnte man meinen, wenn man sich die Berichterstattung der letzten Tage anschaut. „PKK gibt auf“ titelt so etwa die taz. Doch es lohnt sich, einen tieferen Blick zu werfen als gewisse Journalisten des Tagesspiegels oder vergleichbaren Blättern, die als einzige Quellen die sonst immer als gleichgeschaltet geltende türkische Presse zu kennen scheinen und prompt Bilder vom letzten Parteikongress – der immerhin 10 Jahre her ist – für aktuelle Aufnahmen halten.
Was hat die Zukunft im Petto für die kurdische Bewegung? Oder viel mehr was hat die kurdische Bewegung für die Zukunft im Petto?
von Iden Darthé
Die regionale Gemengelage
So überraschend der Entschluss der PKK für manche kommen mag, ist es doch eindeutig, dass sich der gesamte Prozess, der sich seit Oktober letzten Jahres zwischen der kurdischen Bewegung und dem türkischen Staat entwickelt, auch nicht im luftleeren Raum abspielt. Die vergangenen anderthalb Jahre haben den Nahen und Mittleren Osten grundlegend verändert. Was im September 2023 noch Gewissheit war, ist heute nicht weniger als eine ferne Erinnerung, in der eine historische Pattsituation zwischen den regionalen Kräften zu herrschen schien. Syrischer Bürgerkrieg, Nahost, Konfrontation zwischen Iran und Israel, die Türkei als ambitionierter imperialistischer Akteur in der Region. War am siebten Oktober 2023 noch unklar, was der Angriff der Hamas auf Israel an geopolitischen Folgen mit sich bringen würde, ist heute glasklar, dass dieser der Auftakt einer grundlegenden Machtverschiebung im Mittleren Osten war. Nicht ohne Grund, sprach der MHP-Chef und seit Jahren fest an der Seite Erdoğans stehende Devlet Bahçeli in seinen Reden, in denen er ab Oktober zu einer Lösung der kurdischen Frage in der Türkei aufrief, von einem „Ring aus Feuer“, in dem sich die Türkei befinde und angesichts dessen das Land die eigene innenpolitische Lage beruhigen müsse.
Heute ist vor Ort nichts mehr so, wie es war. Israel hat, während es in Gaza mit einer Hand einen Krieg gegen die Hamas und einen Genozid am palästinensischen Volk durchgeführt hat, mit der anderen Hand zum umfassenden Schlag gegen den Iran als seinen strategischen Hauptgegner ausgeholt. Auf einen solchen Schlag war der Iran, auch das ist heute klarer als je zuvor, offensichtlich nicht ausreichend vorbereitet. Ob die mangelnde Vorbereitung technischer, diplomatischer, wirtschaftlicher oder personeller Natur war, lässt sich wohl nur spekulieren und soll an dieser Stelle nicht Teil der Diskussion sein. Klar ist, dass die vermeintliche Machtprojektion, die das islamische Regime mithilfe der sogenannten „Achse des Widerstandes“ in die Region aussendete, trotz aller hochgestochenen Aussagen, wenig mehr als leere Worte war.
Keine der aufwendig produzierten Promovideos der Hamas oder der Hisbollah, keine der Massendemonstrationen und Marschflugkörper der Huthis, oder Drohnen des islamischen Widerstands im Irak, oder selbst des Iran konnten Israel auch nur im Geringsten daran hindern, nicht nur einen Genozid an den Palästinensern in Gaza durchzuführen, sondern auch, einen nach dem anderen, die Glieder der Achse des Widerstandes zu eliminieren.
Bereiteten sich am dritten November 2023 noch alle, vor der ersten Wortmeldung von Hisbollah-Führer Nasrallah zum Krieg in Gaza, auf den Ausbruch eines umfassenden regionalen Krieges vor, waren seine Statements bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr zu einem Drehorgelspiel der Vernichtungsdrohungen verkommen. Die sporadischen Angriffe der Hisbollah konnten zu keinem Zeitpunkt tatsächlich etwas gegen das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza ausrichten. Nicht einmal die Offensive der IDF in den Libanon vermochte die Hisbollah zu verhindern und sah so mehr oder weniger tatenlos zu, als sie nach Strich und Faden vorgeführt und letztendlich Schach-Matt gesetzt wurde.
Der Sturz des Assad Regimes, das weder von Russland, noch den lebenserhaltenden Maßnahmen aus dem Iran gerettet werden konnte, wenn die beiden Länder es überhaupt darauf angelegt hatten, machte die Dimension der Veränderungen im Nahen Osten für alle sichtbar. Assad war das strategische Verbindungsstück gewesen, über das der Iran die Hisbollah zu seiner Trumpf-Karte aufbaute – auch wenn sie sich wie schon beschrieben als Flop herausstellte. Nach seinem Sturz ist klar, dass der Iran eine Wiederbewaffnung der Hisbollah, ein Wiederaufleben der Achse des Widerstandes getrost vergessen kann.
Israel hat sich als eine der drei regionalen Ordnungsmächte in den letzten anderthalb Jahren eine Stellung herausgearbeitet, von denen es in den knapp 80 Jahren seiner Existenz nur träumen konnte. Und während es dem einen strategischen Kontrahenten einen Finger nach dem anderen gebrochen hat, blieb der andere – die Türkei – die zuvor noch auffallend offensiv ihre eigene regional-imperialistische Strategie Schritt für Schritt aufgebaut hatte, auffallend still. Still natürlich abgesehen von Hisbollah-ähnlich hochtrabenden Erklärungen, dass der israelische Staat sich nur vorsehen solle, dass man in Kürze die Brüder in Gaza retten werde, wie es Erdoğan und Konsorten des Öfteren auf Massendemonstrationen verlauten ließen. In seiner Konsequenz verkam der türkische Staat in der Frage Palästinas zu einem noch lächerlicheren Nasrallah. So tat er nicht nur nichts, um den Genozid zu stoppen, sondern unterstützte Israel trotz aller öffentlichen Ankündigungen weiter durch enge Handelsbeziehungen.
Spätestens das Ende der Hisbollah müsste aber auch dem türkischen Staat klargemacht haben, dass Israel sich nicht auf Palästina begrenzen würde, sondern seine Ambitionen weit über die eigenen Grenzen und teils über die seiner Nachbarländer hinausgehen. Und dass zeitgleich der Iran jede Möglichkeit ausnutzen würde, die Reste seiner regionalen Gestaltungsmacht zu erhalten oder neue Möglichkeiten zu erlangen, die ihn nicht erneut in eine direkte Konfrontation mit Israel bringen würden.
Die in Bewegung geratene regionale Gemengelage ist keine, die die türkische Regierung gefreut haben dürfte, waren doch die eigenen regionalen Ambitionen immer wieder ins Stocken geraten. In Syrien? Eine unvollendete „Sicherheitszone“ voller Milizen, die selbst das Geld aus Ankara nicht dazu bringen konnte, wenigstens so zu tun, als würden sie zusammenarbeiten. Gleichzeitig eine Selbstverwaltung, die neben der syrischen Armee die zweitgrößte Streitmacht in Syrien geworden war und die trotz der jahrelangen Zermürbungsangriffe weiter aufrecht stand. Im Irak? Ja, nach sieben Jahren der fast ununterbrochenen Besatzungsangriffe und Militäroperationen, konnte die Türkei tatsächlich einige Regionen besetzen. Doch hat das die Guerilla entscheidend zerschlagen, wie es türkische Offizielle jedes Jahr ums Neue ankündigten? Nein. Die groß angelegten Angriffe auf Militärbasen in den Wintermonaten waren genauso ein Beweis dafür, wie seit über einem Jahr die Möglichkeit der kurdischen Guerillaeinheiten selbst die hoch entwickelten Drohnen der Türkei vom Himmel zu holen.
Zu Syrien sei an dieser Stelle noch vermerkt, dass auch die Machtübernahme der HTS, wenn auch von der Türkei gedeckt, sicherlich nicht das präferierte Modell Erdoğans gewesen ist. Warum sonst hätte die Türkei über Jahre die sogenannte Syrische Nationalarmee (SNA) in den besetzten Gebieten Syriens durchgefüttert? Zwar schlossen sich die SNA schnell der Revolte der HTS an, gerieten aber seit dem auch immer wieder in den Konflikt mit der HTS. Und spätestens nach dem Deal zwischen HTS und SDF, der sicher auch nicht so zustande gekommen wäre, wenn Erstere tatsächlich der Kettenhund der Türkei wäre, sollte klar sein, dass die SDF und die Selbstverwaltung in Syrien keinesfalls zwischen HTS und Türkei zerrieben werden würden, wie es gerade türkische Medien in den ersten Tagen nach dem Sturz Assads gehofft hatten.
Bahçelis „Ring aus Feuer“ ist eine politische Realität, die sich seit anderthalb Jahren in der Region vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausbreitet und die Türkei dazu zwingt, die eigene Positionierung in der Region neu zu denken.
Keine Frage, es muss sich auch die kurdische Bewegung in der veränderten Lage der Region anpassen. Vorbei sind die Zeiten, in denen man in Syrien zwischen den Interessen der Amerikaner und Russen – immerhin zwei Weltmächten – in einer strategischen Nische mal hier, mal dort selbstbewusst taktieren und so massive Vorteile erarbeiten konnte. Oder auch die Zeiten, in denen man sich, unabhängig von den regionalen Akteuren im Irak, die Instabilität zunutze machen konnte und sich durch eine Reihe taktischer Allianzen, durchaus auch unter ideologischen Gegnern, wie den Verbündeten des Iran, durch den Kampf gegen die Türkei eine gewisse Sympathie erarbeiten konnte.
Die sich verändernden Umstände bedeuten für alle Akteure entweder, sich in Reaktion auf die neuen Umstände zu verändern, oder aber sich an alten Gewohnheiten festzuklammern und mit ihnen unterzugehen.
Keine Abkehr – eine Kontinuität
Neunmal. Neunmal hat die PKK in ihrem über 40 Jahre andauernden bewaffneten Kampf gegen die Türkei einseitig erklärt die Waffen schweigen zu lassen. Keinmal wäre sie dabei naiv gewesen, der türkischen Regierung blind zu vertrauen. Und auch diesmal ist es nicht anders.
„Die Forderungen sind ganz klar. Wenn sie erfüllt werden, wird es Frieden geben, wenn nicht, wird es keinen Frieden geben.“ Erklärte der Oberkommandant der bewaffneten Einheiten der PKK, Murat Karayılan zum Schluss des Parteikongresses der PKK am 7. Mai. Der Kongress, dessen Entscheidung zweifelsohne ein Wendepunkt in vielerlei Hinsicht darstellt, ist dabei allerdings keinesfalls eine Abwendung von den Grundwerten, welche die PKK bis zu diesem Punkt gebracht haben. Die PKK war immer bereit, die Waffe für die zivile Politik zu tauschen, sonst hätte man nicht wieder und wieder versucht, ein Ende des Krieges herbeizuführen – und diesen auch wieder aufgenommen, wenn klar wurde, dass es zum gegebenen Zeitpunkt nicht möglich war, eine Demokratisierung der Türkei entgegen der grundlegenden Haltung des türkischen Staates durchzusetzen.
Wichtig ist dafür aber auch, zu verstehen, dass die Rolle der Guerilla innerhalb der kurdischen Bewegung nicht die gleiche Rolle hat, wie es Guerillakräfte noch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hatten. Allein durch die technischen Veränderungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte wäre es illusorisch davon auszugehen, eine Guerillabewegung könne heute noch wie in den 60ern, dem Gegner Landstrich für Landstrich, Hügel um Hügel und Dorf um Dorf abringen. Was Anfang der 90er vielleicht noch eine Perspektive gewesen sein könnte, ist heute leicht gesagt, aber faktisch kaum umzusetzen. Die Guerilla, hatte in den letzten Jahren dennoch eine zentrale Bedeutung: Verhinderung des Eindringens der türkischen Armee in die strategischen Zentren der PKK in der Kandil-Region im Nordirak, die auch Ort der Bildung und Weiterentwicklung der revolutionären Theorie und Praxis ist, weit über den militärischen Bereich hinaus. Die Guerilla war und ist eine der Hauptschlagadern der kurdischen Bewegung und hat diese genährt, während sich in der militärischen Konfrontation in den letzten Jahren ein Patt herausgebildet hatte, aus dem weder die PKK noch die Türkei ausbrechen konnte.
Auch aus dieser Situation heraus dürfte die Initiative für eine Neubewertung der Kampfformen, wie sie Öcalan mit seinem Aufruf zweifelsohne gestartet hat, auf fruchtbaren Boden gestoßen sein. 45–50.000 Tote in den eigenen Reihen habe man seit dem Beginn der Auseinandersetzungen mit dem türkischen Staat gehabt, erklärte Karayılan in seiner Rede auf dem Kongress. 35.000 Parteikader und mehr als 10.000 die kurdische Bewegung unterstützende Zivilisten. Nicht einfach nur Zahlen in einer Bilanzaufstellung. 50.000 Söhne und Töchter, Mütter und Väter – allen voran jene, die die kurdische Bewegung am meisten unterstützt und getragen haben – weit über den militärischen Bereich hinaus.
Die Neubewertung dürfte also auch vor diesem Hintergrund getroffen worden sein. Nicht aus der simplen Erkenntnis, dass der Tod etwas Schlechtes ist, sondern auch der politischen Abwägung, welcher nächste Schritt dem Ziel einer freien Gesellschaft zuträglich ist. Und mag dieser Schritt in der einen Phase zweifelsohne der bewaffnete Kampf sein, muss er dies in einer anderen Phase nicht zwingend sein und kann ohnehin allein keine Befreiung bringen. Die Parole „nur der Griff der Masse zum Gewehr, bringt den Sozialismus her“ mag in der ein oder anderen rot lackierten Demo in Deutschland zwar fallen, macht sie aber nicht richtiger.
Der bewaffnete Kampf wurde von der kurdischen Bewegung, wenn er auch in den Kampfphasen bis zu diesem Punkt eine zentrale – weil notwendige – Stellung einnahm, nie als die an sich beste, an sich durchsetzungsstärkere und in allen Momenten der Geschichte notwendige oder gebotene Form der politischen Auseinandersetzung gesehen. Der bewaffnete Kampf, war immer ein Mittel, das dem Ziel dienen sollte, die politische Auseinandersetzung auch anders führen zu können.
Und dies ist auch keine Erkenntnis, zu der die kurdische Bewegung erst im letzten halben Jahr gelangt ist. Seit nun knapp einem Vierteljahrhundert, hat die kurdische Bewegung in all ihren Facetten einen Hauptfokus darauf gelegt, tatsächlich eine politische gesellschaftliche Bewegung aufzubauen, die auch außerhalb des bewaffneten Kampfes politischen Einfluss, Selbstbildung, Selbstführung, Strategie und Taktik sicherstellen kann.
In ihrer bisherigen Geschichte war die kurdische Bewegung vor allem eines; flexibel. Flexibel in dem Sinne, dass sie auf ihre Umwelt reagiert hat und ihr Vorgehen stets nicht nur nach der eigenen subjektiven Auffassung, was vermeintlich per se das Beste ist, ausgerichtet hat, sondern zu aller erst danach, was politisch notwendig und geboten ist. Beispiele hierfür reichen bis in die Zeit zurück, in der sie kurz nach der Parteigründung auf den bevorstehenden Militärputsch reagierte und sich die Führung der Partei aus der Türkei nach Syrien und den Libanon zurückzog. Auch damals hätte man sagen können. „Oh das war es, mit dem Exil ist die PKK Geschichte“. Nachträglich zeigte sich, dass es die richtige Entscheidung war. So sicherte doch die Doppelexistenz als Bewegung innerhalb der Grenzen des türkischen Staates und im Exil im Libanon zeitgleich die Verbindung und Verankerung in der Gesellschaft und die Möglichkeit, einen Schritt nach vorne zu machen und den bewaffneten Kampf als Guerilla vorzubereiten. Auch der Schritt als Guerilla ab 1984 in die Staatsgrenzen der Türkei zurückzukehren, hätte als militärisch aussichtslos zum politischen Selbstmord erklärt werden können, doch war er schlussendlich der endgültige Beweis, dass die kurdische Bewegung gekommen war, um zu bleiben.
Die Waffenstillstände ab 1993 waren ebenfalls solche Situationen, in denen stets in Abwägung der objektiven und subjektiven Realität nach Wegen gesucht wurde, einen Schritt nach vorne zu machen und schließlich auch mit dem türkischen Staat eine Ebene zu finden, auf der der Kampf um die Zukunft der Türkei und Kurdistans nicht mehr mit der Waffe, sondern in einer politischen Auseinandersetzung ausgetragen werden kann.
Die Versuche scheiterten immer wieder. Dennoch war die PKK, selbst nach der Festnahme des Vorsitzenden Öcalan 1999 nicht davon abzubringen, diese Flexibilität in der Methode nach außen zu tragen und gleichzeitig auch einen internen Prozess der Wandlung durchzumachen.
Der Paradigmenwechsel, wie die kurdische Bewegung den Prozess heute nennt, beinhaltete nicht nur eine Reflexion der eigenen politischen und sozialen Praxis bis zu diesem Punkt des Kampfes. Zentraler und vermutlich entscheidender Punkt in diesem war auch die radikale – im Sinne von grundsätzliche – Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus als Orientierungspunkt. Um den gesamten Paradigmenwechsel hier dazulegen, fehlt bedauerlicherweise der Platz, doch im Zentrum der ideologischen Kritik und der daraus folgenden Neuausrichtung standen die Fragen nach Staatlichkeit und Patriarchat. Zum einen führten diese die kurdische Bewegung dazu, vom Plan eines eigenen kurdischen Staates Abstand zu nehmen, aus der Erkenntnis daraus, dass auch die Errichtung eines sozialistischen kurdischen Nationalstaates keine Befreiung der Gesellschaften der Region herbeibringen würde. Zum anderen, und das prägt die kurdische Bewegung heute vermutlich noch viel tiefer und bis in jede Faser ihrer organisatorischen Zweigbereiche hinein, führte die erneuerte Patriarchatsanalyse zur Erkenntnis, dass die Frage nach der Befreiung der Frau in das Zentrum des Kampfes nach Außen, aber eben auch nach Innen zu begreifen ist. Auch nach Innen wird seitdem ein Kampf geführt, patriarchal-staatliches Handeln und Denken von Grund auf zu bekämpfen.
Mit diesem Prozess sicherte die kurdische Bewegung nicht nur ihr Überleben als sozialistische Bewegung, sondern machte auch einen bedeutenden Schritt nach vorne, der die Revolution in Rojava und den Aufbau einer zivilen politischen Bewegung in der Türkei ideologisch untermauerte und ermöglichte.
Damit gab die kurdische Bewegung nicht zuletzt auch einen neuen Impuls in die sozialistische Bewegung als Ganzes. Einen Impuls in der Frage, wie ohne den Weg in den Reformismus und der Aufgabe des revolutionären Anspruches, eine Neubetrachtung des realsozialistischen Erbes vorgenommen werden kann. Eine Neubetrachtung, die das Gute und Richtige bewahrt und zeitgleich die Fehler, die zweifelsohne im Namen des Sozialismus gemacht wurden als solche benennt und nicht noch einmal wiederholt. Diesen Impuls sah die kurdische Bewegung stets nicht nur als notwendig für die eigene Fortentwicklung, sondern immer auch als Grundlage für sozialistische Bewegungen überall auf der Welt, um den internationalistischen Sozialismus auf das Niveau des 21. Jahrhunderts zu heben.
Zu dieser Selbstkritik und Selbsttransformation gehört dabei auch immer die eigene Rolle zu überdenken und gegen die äußere und innere Realität abzuwiegen. Dass auch dies heute einer der treibenden Faktoren hinter der angekündigten Auflösung der PKK ist, zeigt sich nicht nur in den Reden auf dem Kongress, die nun nach und nach veröffentlicht werden, sondern scheint sogar schon in Öcalans Aufruf vom Februar durch. Dort spricht dieser von einer „übermäßigen Wiederholung“, in die die PKK bereits seit den 90er-Jahren geraten sei, was ihre Auflösung notwendig mache. Auch das ist keine neue Erkenntnis. Gerne wird vergessen, dass die PKK sich 2002 schon einmal auflöste, um den Weg freizumachen, für eine Transformation der kurdischen Bewegung in eine zivile, demokratische, gesellschaftliche Bewegung. Dieser erste Versuch scheiterte. Die PKK wurde 2005 neu gegründet. Doch der Samen der damaligen Überlegung keimte innerhalb und außerhalb der Parteistrukturen und führte dazu, dass für die kurdische Bewegung die subjektive wie objektive Realität heute eine andere ist, als beim ersten Anlauf der Auflösung 2002. Nicht nur hat sich in der Türkei die totale Verleugnungspolitik dem kurdischen Volk gegenüber aufgehoben, auch die durch die PKK gestärkte zivile kurdische Politik, sondern hat eben diese ein dichtes Netz gesellschaftlicher Verbindungen gewoben, durch die sie trotz aller Verbotsbemühungen als zentraler politischer Akteur in der ganzen Türkei nicht mehr wegzudenken ist.
Neuanfang – Wiedergeburt
Der aktuelle Prozess, der auch mit der Auflösungserklärung der PKK noch lange nicht beendet ist, sondern damit vermutlich erst vollumfänglich zutage treten kann, fordert uns nicht nur grundsätzlich heraus, über die Rolle von militärischer Gewalt in Befreiungsbewegungen im 21. Jahrhundert und damit über Mittel und Zweck des politischen Kampfes an sich zu diskutieren. Konkret bedeutet er für die kurdische Bewegung, eine Chance zu nutzen, die gesellschaftlichen Kräfte, Verbände, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Basisgruppen, politischen Parteien, Jugend- und Frauenorganisationen, die, wie schon erwähnt, im vergangenen Vierteljahrhundert mit massivem Aufwand und Aufopferungsbereitschaft gestärkt wurden, vollständig offen zeigen zu können und zum Tragen kommen zu lassen.
Damit das und auch die Waffenniederlegung tatsächlich möglich wird, sind konkrete Veränderungen von der Seite des türkischen Staates notwendig. Dass diesem immer mit nicht nur einem, sondern zwei misstrauischen Augen auf die Finger geschaut werden sollte, ist niemandem so klar wie der kurdischen Bewegung selbst.
Dass aber in der bekanntermaßen regierungsnahen türkischen Presse Fragen der Erleichterung der Haftbedingungen nicht nur für Öcalan, sondern generell die zehntausenden politischen Gefangenen, eine Reform des Terrorparagrafen, ein Ende der Zwangsverwaltungen, Amnestien und sogar Verfassungsänderungen besprochen werden, zeigt, dass diese Optionen offen auf dem Tisch liegen. Dass auch die türkische Regierung bereit ist, den Prozess offener zu führen, und auch andere Parteien und das gesamte Parlament mit einbeziehen will, zeugt davon, dass eine tatsächliche Veränderung der politischen Umstände innerhalb der Türkei möglich ist.
Die Kräfte, die innerhalb nicht nur der kurdischen, sondern auch der türkischen Gesellschaft damit freigesetzt werden könnten, können heute nur ansatzweise abgeschätzt werden. Schaut man sich aber die Beteiligung an den Newroz-Feierlichkeiten, den Protesten gegen die Absetzungen von Bürgermeistern oder den Gedenkfeiern für die PKK-Gründungsmitglieder Riza Altun und Ali Haydar Kaytan an, so kann man ein Gefühl dafür bekommen, was unter der repressiven Oberfläche an gesellschaftlichem Potenzial noch alles brodelt und nur wartet, offen zutage treten zu können ohne die ständige Angst vor Hausdurchsuchungen, Inhaftierung und Verfolgung.
Zentrale Voraussetzung dafür, dass diese Potenziale langfristig zu Tage treten und sich weiterentwickeln können, dürfte auch die Aussöhnung zwischen der türkischen und kurdischen Bevölkerung selbst zu sein. Die zehntausenden Toten auf beiden Seiten des Konfliktes haben verständlicherweise tiefe Gräben hinterlassen, die sich nicht allein durch kleine oder auch große rechtliche Reformen wieder kitten lassen werden. Dass dieser Aspekt aber auch im Prozess schon jetzt mitgedacht wird, geht tatsächlich nicht nur auf die Initiative der kurdischen Bewegung zurück, die wie zuletzt auch Öcalan betonte, einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ forderte und etwa in ihrem Kongress besonders den Fokus auf den Aufbau einer „türkisch-kurdischen Bruderschaft“ legten. Sondern eben auch auf Politiker wie Bahçeli, der seit Oktober für ihn ungewohnter Weise von einer kurdisch-türkischen Bruderschaft redet.
Gehen wir einmal ganz kühn davon aus, dass dieser Prozess vorangeht und sich das Fenster zur politischen Auseinandersetzung öffnet, dann könnte sich auch angesichts der zunehmenden, entlang von ethnischen und religiösen Linien aufgeladenen Spannungen und offenen Konflikten eine Tür öffnen, die aus dem Zyklus der Gewalt heraus leitet. Eine Tür die sich damit für eine tatsächliche Verständigung zwischen den Völkern öffnet und für die Versuche imperialistischer Akteure, diese gegeneinander aufzuhetzen, schließt. Eine Lösung der kurdischen Frage in dieser Form wäre damit nicht nur für das kurdische oder türkische Volk, sondern für beide ein Gewinn. Sie könnte ein Lichtblick hinaus aus der Spirale imperialistischer Zerstörung in der Region werden, die auf der Spaltung der Volker der Region basiert und diese aktiv vorantreibt.
Zweifel
„Waffenniederlegung“ dürfte innerhalb der revolutionären Bewegung eines der am meisten vergifteten Worte sein, das man aussprechen kann. Schmerzhaft, unbeantwortet und ernüchternd sind die historischen Beispiele. FARC, ETA, Naxaliten. Gebrochene Versprechen, parlamentarische Irrwege und Sackgassen, Opportunismus und Verrat sind lebendige Fragmente der Entwaffnungs- und Auflösungsprozesse der Vergangenheit. Die Fragen und Ungewissheiten, die Zweifel, die der Aufruf Öcalans und die Erklärung der PKK weit über die Grenzen Kurdistans und der Türkei hinterlassen haben, sind real und berechtigt.
Während der Prozess weiter voranschreitet, sind viele Fragen auf allen Seiten bislang unbeantwortet. Will die Türkei und allen voran die Regierung sich tatsächlich transformieren? Wenn sie das will, kann sie das denn auch? Was ist mit Elementen des türkischen Staates, die durch den Prozess nur verlieren können? Namentlich die Militärelite, die historisch in der Türkei immer wieder geputscht hat oder die in den letzten Jahren aufgeblasene Militärindustrie? Welche äußeren Mächte könnten intervenieren und tun das vielleicht schon jetzt, um den Prozess zu sabotieren? Aber auch wenn der Prozess erfolgreich verläuft, stellen sich der kurdischen Bewegung eine ganze Reihe drängender Fragen. Wie wandelt man eine Bewegung, die in ihrem Kern immer auch eine militärische Komponente hatte in eine rein zivile um? Wie stellt eine Organisation, wenn sie den Kampf „in die Hände des Volkes“ legt, sicher, dass weiterhin Theorie, Strategie und kurzfristige Zielsetzung in allen Teilen der Bewegung übereinstimmen? Wie schafft man es zu verhindern, dass eine gesellschaftliche Liberalisierung, die mit größeren demokratischen Freiheiten einhergehen wird, nicht auch innerhalb der Bewegung und Organisationen zu Zersetzungsphänomenen führt? Wie können demokratische Errungenschaften auch langfristig ohne die Option militärischer Mittel gegen einen hochgerüsteten kapitalistischen Staat gesichert werden?
Berechtigte Fragen, so viel ist sicher. Berechtigt, aber – so viel Vertrauen sollte auch eine revolutionäre Linke hier haben – sicher genauso Teil der Auseinandersetzungen, die nun seit Monaten auch innerhalb der kurdischen Bewegung diskutiert und abgewogen werden. Die kurdische Bewegung hat schließlich deutlich umfassender als wir in Mitteleuropa Erfahrung mit Prozessen dieser Art. Der Friedensprozess von 2013 bis 2015, den die Türkei einseitig mit der militärischen Eskalation aufkündigte, die Transformationsprozesse nach 1999, die Neugründung der PKK Anfang der 00er-Jahre, die auch von innen heraus für Liquidationsversuche genutzt wurde. Die kurdische Bewegung weiß so gut wie kaum keine andere Bewegung, dass dem türkischen Staat nicht blind vertraut werden darf. Dass er durchsetzt ist, mit machtversessenen Faschisten, Kapitalisten und Emporkömmlingen, die jede Möglichkeit zum eigenen Machterhalt nutzen werden. Den Vertrauensvorschuss, dass diese Bewegung sich all dieser Fragen und Probleme und gleichzeitig ihrer historischen Verantwortung bewusst ist, sollten wir leisten.
Wird dieser Prozess ohne Probleme, oder Hindernisse von sich gehen? Nein. Wird es dabei auch zu Brüchen kommen? Möglich. Werden die Akteure, die in den Prozess eingebunden sind, weiterhin versuchen, diesen möglichst zu ihrem Vorteil auszunutzen, trotz Vereinbarungen und öffentlichen Willensbekundungen? Mit absoluter Sicherheit.
Wie sich der Prozess entwickeln wird, wird am Ende nur die Zukunft zeigen können. Welche Potenziale geweckt, welche Leerstellen gefüllt, welche Erwartungen enttäuscht und welche Zugeständnisse von allen Seiten gemacht werden müssen, ist dabei nicht nur die Frage in eine vermeintlich allwissende Glaskugel, sondern wird Ergebnis eines politischen Kampfes sein. Ein Kampf, der in Ankara, wie in Amed, in Qandil, wie in Kobanê, in Rojhilat, wie in Başur, aber ganz konkret auch hierzulande geführt werden muss. Nicht nur von der kurdischen Bewegung als Objekt der Revolutionsromantik, sondern konkret auch von der Linken in anderen Teilen der Welt als Subjekte in einer Suche nach einer konkreten revolutionären sozialistischen Praxis.
Klar ist, dass in Gewohnheiten zu verharren, in der aktuellen Phase keine Möglichkeit ist. Wer heute rastet und sich nicht verändert, den wird schon morgen die Welt uneinholbar überrundet haben. Die Folge daraus wäre im besten Fall das leise Verschwinden in der Unbedeutsamkeit. Im schlimmsten Fall könnten militärische Eskalationen jenseits einer Perspektive auf Lösung folgen, die allein auf Kosten der Leben der Völker der Region gingen.