Belutschistan ist eine Region, die ähnlich wie Kurdistan über mehrere Landesgrenzen geht:
Pakistan, Iran und Afghanistan. Die belutschische Gesellschaft und ihre Kultur werden bis heute systematisch unterdrückt und ausgebeutet. Der Teil von Belutschistan, der in Pakistan liegt, konnte
nach der britischen Kolonialherrschaft 1947 für einige Monate die Unabhängigkeit erklären, bis die pakistanische Armee, unterstützt von den Briten, einmarschierte und 1948 eine erneute Kolonialherschafft über die Belutsch:innen errichtete. Die Unterdrückung durch Folter, Entführungen und Ermordungen dauert bis heute an.
Seit Jahrzehnten leisten Belutsch:innen Widerstand gegen die Besatzung: Von
Student:innenbewegungen bis hin zu bewaffneten Kämpfen. Auch die Belutschische Frauenbewegung spielt eine große Rolle im Widerstand. Erst 2023 hatten tausende Frauen nach der
Ermordung von Balaach Mola Bakhsh, einem belutschischen Jugendlichen, der von der pakistanischen Polizei ermodert wurde, einen Protestmarsch von ca. 1.600 Kilometer vom südlichen Kech-Distrikt nahe der iranischen Grenze bis nach Islamabad gemacht. Dort wurden sie mit Tränengas und Wasserwerfern empfangen. Trotz der Repression haben die Frauen ein Protestcamp errichtet, welches noch mehrere Wochen bestand.
Auch während der Jin Jiyan Azadi Revolte im Iran haben Belutsch:innen eine große Rolle gespielt und beteiligten sich an vorderster Front an den Protesten, während die Repression gerade Belutsch:innen, sowie auch andere ethnische Minderheiten im Iran, wie zB Kurd:innen und Araber:innen am härtesten trifft.
Am 28. Juli 2024 kam es beim Baloch National Gathering in Gwadar in Pakistan erneut zu heftiger Gewalt seitens der pakistanischen Regierung gegen die protestierenden Belutsch:innen. Das Baloch National Gathering setzt sich für den Schutz der bürgerlichen, politischen und wirtschaftlichen Rechte und für ein Ende der Entführungen und der außergerichtlichen Tötungen von
Belutsch:innen ein. Am 27. Juli schoss das Frontier Corps, eine paramilitärische Einheit in Pakistan, auf Menschen, die sich den Protesten der Belutsch:innen anschließen wollten, und verletzte
dabei mindestens 14 Personen. In der gesamten Provinz wurden Blockaden errichtet, um die Bewegungsfreiheit einzuschränken, und in der Hauptstadt Quetta wurden Versammlungen komplett
verboten. Am 28. Juli schliesslich wurden in Gwadar und Talar mindestens drei Demonstrant:innen von Sicherheitskräften getötet und Dutzende verletzt und festgenommen.
Auch am 25. Januar gab es erneut ein Baloch National Gathering, diesmal in Dalbandin. Tausende Belutsch:innen kamen zusammen und demonstrierten für ihre Rechte. Auch Familien von Vermissten kamen zu Wort und erzählten ihre Geschichte, zeigten ihre Wut und ihre Trauer.
Immer wieder werden Proteste von Belutsch:innen gewaltsam niedergeschlagen. Trotz der Gewalt
und Unterdrückung, die die belutschische Bevölkerung erfährt, gibt es einen großen Widerstand
und einen starken Willen zur Befreiung.
Im deutschsprachigen Raum ist der Kampf der Belutsch:innen eher unbekannt. Wir haben uns mit Abdul Jabbar, einem Delegierten des Baloch National Movement Germany getroffen und dies als Anlass genommen, folgendes Interview zu führen und die Genoss:innen zu Wort kommen zu lassen.
Kannst du eure Organisation einmal kurz vorstellen?
Ich bin Abdul Jabbar vom Baloch National Movement. Wir arbeiten in verschiedenen Ländern Europas, in UK, Deutschland, Niederlanden und auch in Südkorea haben wir ein Chapter. Wir arbeiten in der Diaspora. Beim großen Genozid an den Belutsch:innen wurde vor allem auch unsere politische Führung ermordet. Sie können nicht erlauben, dass wir uns in unserer Heimat politisch organisieren. Deshalb arbeiten wir nun an vielen verschiedenen Orten und sind aktiv für unsere Freiheit und unseren Frieden und gegen Genozid.
Wie ist das alltägliche Leben in Belutschistan? Wie nehmen die Menschen die Unterdrückung und die Ausbeutung von ihrem Land wahr?
Die Situation in Belutschistan ist sehr schlecht, der Lebenstandart der Menschen ist katastrophal. Ihr könnt euch das schwer vorstellen, in Europa lebten Menschen vielleicht vor tausenden Jahren unter diesen Umständen, aber dort leben die Menschen auch heute noch so. Der Staat geht sehr brutal gegen die Bevölkerung vor, sie kommen in die Häuser und töten die Kinder, Frauen und älteren Menschen. Das Justizsystem ist korrupt, es gibt immernoch Folterzellen, es gibt keine fairen Justizprozesse. Zum Beispiel wurde Zahid Baloch, Vorsitzender der Baloch Student Organisation-Azad (BSOA) am 18. März 2014 auf der Straße in Quetta durch eine paramilitärische Gruppe des pakistanischen Staates festgenommen und wir oder seine Familie wissen bis heute nicht, wo er ist.
Er wurde entführt. Wir haben eine Beschwerde eingereicht bei den Vereinten Nationen, aber sie können gegen Pakistan nichts unternhemen. Wir haben auch die europäische Union angefragt, die Finanzierung zu stoppen, sie finanzieren z.B. das pakistanische Militär, was natürlich beteiligt ist an den Verbrechen, teilweise durch unsere eigenen Steuern, da wir ja hier in Europa leben und arbeiten. Aber sie stoppen die Finanzierung nicht, obwohl es illegal ist. Das Militär in Pakistan ist korrupt, die Politiker sind korrupt, das kann man sich nicht vorstellen und ich kann euch kein Beispiel geben für einen Staat, der so ist wie Pakistan.
Wenn wir jetzt schon über Pakistan sprechen. Du sprichtst von einem Genozid gegen die Belutsch:innen. Ich denke es gibt viele historische Beispiele, um das zu deutlich zu machen. Pakistan hat zum Beispiel nach den ersten erfolgreichen Atomwaffentests im Jahr 1998 den 28. Mai in Pakistan zum „Tag der Größe“ erklärt. Die Tests wurden aber in belutschischen Gebieten durchgeführt, auf Kosten der dort lebenden Bevölkerung, die bis heute mit der radioaktiven Strahlung zu kämpfen hat. Welche Bedeutung hat dieser Tag für die Menschen in Belutschistan?
Wir erinnern uns an diesen Tag als einen “Schwarzen Tag”. Sie haben diese Tests in Chagai durchgeführt, dort gibt es viele kleine Hügel und Dörfer. Wenn du heute dorthin gehst, haben die Kinder immernoch Krankheiten, die Menschen dort können immer noch nicht ihr Land bestellen, sie haben dort so viele Hautkrankheiten, Tiere können nicht überleben, deshalb ist dieser Tag für Belutsch:innen ein Schwarzer Tag. Das ist auch das simple Symptom eines Genozids, eine Atomwaffe dort zu probieren, wo die Menschen leben, die vernichtet werden sollen. Im 20. Jahrhundert brauchen wir keine Atomwaffen, wir brauchen Schulen und Bildung, aber Staaten wie Pakistan oder Iran planen immer den nächsten Krieg. Wir erinnern die Atomwaffentests 1998 als ein Verbrechen und wir gehen immer wieder auf die Strasse dagegen. Jeden Tag erinnern wir uns daran als einen schwarzen Tag!
Du hast ja schon angedeutet, dass ihr euch gegen das pakistanische Regime organisisert. Könntest du noch einmal mehr darauf eingehen, wie ihr aktiv seid als Organisation und was ihr macht? Sagt auch gerne etwas zur Geschichte und Vergangenheit eurer Organisation.
Unsere Bewegung, unser Kampf, richtet sich vor allem gegen die Annektierung Belutschistans durch den Pakistanischen Staat 1948. Unser Kampf ist also ein Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit Belutschistans. Als wir angefangen haben, haben wir zu einer Studentenorganisation in Belutschistan gehört. Wir haben uns in den Bibliotheken getroffen, haben uns ausgetauscht, diskutiert und unser Wissen miteinander geteilt. Wir haben uns in Frauen- und Männergruppen getroffen und miteinander diskutiert. Heute sind wir in der Diaspora aktiv, wir organisieren Demonstrationen, Kundgebungen, Veranstaltungen. Wir versuchen, eine Öffentlichkeit für unseren Kampf zu schaffen, wir versuchen auch, an Menschenrechtsorganisationen, die Vereinten Nationen und die Europäische Union zu appelieren, auf unsere Probleme aufmerksam zu machen, welche Menschenrechtsverletzungen passieren und so weiter.
Dabei versuchen wir auch auf die Frauenrevolution in Belutschistan aufmerksam zu machen, sie erfahren besonders brutale Repression durch den Staat. Wir haben verschiedenene Social Media Gruppen, wo wir unsere Demonstrationen teilen, über staatliche Gewalt und auch staatliche Entführungen informieren. Wir versuchen an die internationale Öffentlichkeit zu appelieren, damit die illegalen Folterzellen in Pakistan geschlossen werden, in denen viele Menschen brutal ermordet werden.
Ende 2023 hatte nach der Ermordung von Balaach Mola Bakhsh ein großer Protest, hauptsächlich von Frauen organisiert, stattgefunden. Kannst du uns mehr über die feministischen Ursprünge dieses Protestmarsches erzählen?
Diese Massenmobilisierung gab es, weil der brilliante Student Balaach illegal durch den Staat ermordet wurde und die Frauen haben diesen Protest massgeblich organisiert, sie haben ihn richtig groß gemacht. Aber die Gewalt des Staates gegen die Frauen und ihre Familien ist auch besonders schlimm, es gibt zum Beispiel keine rechtlichen Möglichkeiten, auf die vielen illegalen, staatlichen Entführungen zu reagieren. Es gibt überhaupt keine Rechte. Ich möche euch das anhand von zwei Beispielen zeigen und über die Frauen Marang Baloch und Sammi Deen Baloch erzählen. Der Vater von Sammi Deen, Deen Muhammad Baloch, ist seit 2009 verschwunden. Bei seiner Festnahme arbeitete er in einem Krankenhaus in einer sehr strukturarmen Gegend.
Es gibt dort fast keine Schulen oder Krankenhäuser, Doktor Deen Muhammad Baloch hat dort also wirklich etwas gemacht für die Gesellschaft. Das Militär hat ihn aus dem Krankenhaus entführt und die Familie weiß bis heute nicht, wo er ist. Seine Tochter Sammi Deen führt seitdem einen Kampf für die Aufklärung seines Verschwindens. Heute hat sie einen Master-Abschluss und immernoch führt sie den Kampf weiter. Auch Marang Baloch führt diesen Kampf. (Anm. des LCM: Ihr Vater und ihr Bruder wurden ebenfalls vom Militär entführt. Ihr Vater wurde später tot aufgefunden, mit Spuren von Folter.). Wenn wir uns die Geschichten von Sammi Deen und Marang Baloch anschauen, dann sehen wir, dass sie sich einsetzen, für diejenigen, die in den Folterzellen verschwinden.
Am 28. Juli 2024 hat das Baloch Raji Muchi (Baloch National Gathering) in Gwadar stattgefunden, wo hunderttausende Belutsch:innen gegen die koloniale Gewalt des Pakistanischen Staates demonstrierten. Die Bewegung hat eine starke Repression erfahren, das Militär hat in die Menge geschossen, es gab viele Tote, Verletzte und auch viele Festnahmen. Könnt ihr erklären, warum Pakistan die Nationalversammlung so heftig angreift?
Das Baloch National Gathering ist eine riesige Massenmobilisierung gegen die Verbrechen des Pakistanischen Staates in Gwadar. Gwadar ist eine wichtige Staat sowohl für Pakistan als auch für China. China rekolonisiert sozusagen unsere Städte, sie investieren Billionen von Dollar in Belutschistan, sie bringen Militär, sie beuten unsere Ressourcen aus, zusammen mit dem Koalitionspartner Pakistan (Anm. des LCM: Gwadar ist eine Hafenstadt im Süden von Pakistan mit ca. 270 000 Einwohner:innen. Der Hafen liegt am Eingang zum persischen Golf und hat für China, vor allem für den Transport von Erdöl, eine grosse strategische Bedeutung.
Die Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Belutsch:innen und die zentrale Lebensgrundlage ist die Fischerei. Diese wird nicht nur durch den Hafenbau extrem gefährdet, sondern auch durch den illegalen Fischfang von chinesischen Trawlern. Deshalb kam und kommt es auch immer wieder zu Protesten durch die Bevölkerung). Deshalb und aus vielen anderen Gründen haben wir diese Massenmobilisierung in Gwadar gemacht. Es ist ein wichtiger Ort für diese Versammlung, aber auch für den Staat. Wir haben uns dort auch solidarisiert mit den Opfern der Entführungen und all denen, die immer noch in den illegalen Folterzellen sitzen.
Wie ist die Situation heute, fast ein Jahr später? Wie hat sich die Repression gegen Proteste entwickelt? Was gibt es für aktuelle Themen für die Bewegung?
Die Situation ist schlimmer geworden, die selben Frauen, die das Gathering aus verschiedenen Teilen Belutschistans organisiert haben, erleben eine sehr brutale Repression seitens des Staates, die von Tag zu Tag schlimmer wird. Pakistan hat überhaupt kein gerechtes Justiz-System. Die Aktivistinnen werden festgenommen, gefoltert, getötet, die Situation ist wirklich sehr schlecht.
Neben spontanen Protesten und Versammlungen wird auch seit vielen Jahren ein bewaffneter Kampf gegen die pakistanische Besatzung geführt. Welche Bedeutung hat dieser bewaffnete Kampf für die Befreiung Belutschistans und welche Organisationen führen ihn?
Es kämpfen verschiedene Oragnisationen gegen das pakistanische Militär, seit dem ersten Tag der Besatzung führen Belutsch:innen einen Guerilla-Krieg gegen die Besatzer. Zum Beispiel die Balochistan Liberation Army (BLA). Als ich in Pakistan war, war ich Student an einer kleinen Universität bei Karatschi. Man kann in Belutschistan Waffen aus allen möglichen Ländern sehen. Pakistan ist ein militarisiertes Land, besonders nach dem Afghanistan-Krieg. Du kannst einfach an eine Waffe kommen, aber Sachen wie Bücher, Stifte, die du zum Lernen brauchst, sind unmöglich zu finden. Das Pakistanische Militär und auch islamistische Gruppen greifen gezielt Student:innen in Belutschistan an. Wenn du gebildet bist, dann werden sie dich festnehmen, foltern, töten, entführen.
Aufgrund der heftigen Repression, die du schilderst, leben viele Belutsch:innen im Exil und führen den Kampf dort weiter. Auch das ist nicht ungefährlich, wie die Fälle von Karima Baloch und Sajid Hussein zeigen: Sie wurden laut Verständnis der Community mutmasslich vom pakistanischen Geheimdienst 2020 in Kanada und Schweden ermordet. Wie erlebt ihr die Repression, auch seitens europäischer Staaten wie z.B. Deutschland?
DerPakistanische Geheimdienst (ISI) ist sehr gut aufgestellt, in England, in Norwegen, in Italien. Der ISI arbeitet auch in Europa und wir spüren auch die Gefahr. In Deutschland haben wir auch in verschiedenen Städten Drohungen durch den ISI erfahren. Manchmal haben wir Angst, aber wir müssen unseren Kampf trotzdem weiterführen. Wir haben sogar die Polizei über diese Drohungen informiert. Auf Social Media bekommen wir auch viele Drohungen duch den ISI. Wir sind auch einfache Ziele, weil sie uns überall angreifen können, weil wir uns auch nicht verstecken. Aber wir werden trotzdem demonstrieren und unseren Kampf weiterführen und uns nicht einschüchtern lassen von einem korrupten Geheimdienst.
Zum Abschluss möchten wir noch eine letzte Frage stellen: Ihr kämpft für die Befreiung der Menschen in Belutschistan. Was bedeutet Befreiung für euch?
Freiheit ist ein Geschenk, wer möchte denn keine Freiheit? Es gibt so viele verschiedene Bedeutungen von Freiheit und wir wollen nicht nur für Belutsch:innen Freiheit, sondern für alle Menschen. Und nicht nur für Menschen, sondern auch für die Natur, die Tiere, das Meer. Menschen respektieren die Natur nicht, wir respektieren die Tiere nicht, unsere Umwelt nicht. Als ich ein Kind war, konnte ich mit einem Schiff auf das Meer herausfahren, dort habe ich diese wunderschönen Delphine gesehen.
Als wir ins Wasser gingen, um zu schwimmen, haben die Delphine mit uns getanzt. Das ist unsere Version der Freiheit, wenn dieser Tag kommt, dann tanzen wir auf unserem Land, dann lachen wir auf unserem Land und wir schlafen auf unserem Land. Jetzt wird unser Land ausgebeutet, sogar unsere Fische werden ermordet. Das ist wirklich für mich die Definition von Genozid, dass sie nicht nur uns ermorden, sondern auch unser Land und unsere Tiere, unsere Fische. Deshalb brauchen wir Freiheit und Freiheit ist gut.
Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast für das Interview. Wir wünschen euch auf jeden Fall viel Glück und Erfolg bei eurem Kampf! Möchtest du zum Abschluss noch etwas sagen?
Ich danke euch auch, dass ich hier meine Meinung sagen konnte und ich wünsche euch auch alles gute. Wenn wir in unser Heimatland zurückkehren werden, dann werden wir auch an euch denken!
Foto: via Balotch National Movement