Nach Jahren der Totalisolation Abdullah Öcalans wurde im Spätsommer letzten Jahres die Gefängnistür Imralis einen Spalt geöffnet. Vorausgegangen war dem ausgerechnet die Erklärung des faschistischen MHP Chefs Devlet Bahceli, Öcalan im türkischen Parlament sprechen zu lassen. Im historische Aufruf „Für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“, der nach drei Besuchen einer Delegation der DEM Partei am Donnerstag, dem 27. Februar veröffentlicht wurde, rief Öcalan zur Niederlegung der Waffen und der Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf. Da der Aufruf gerade in einer Zeit getätigt wurde, in welcher der Krieg zwischen der Kurdischen Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat ein neues Piek erreicht hat, ist die Verwunderung groß. Während die einen von einer Kapitulation sinnieren und die anderen aus einer bequemen Position westlicher Linker von einem Reformismus schwadronieren, ist die Realität eine andere. Im folgenden Kommentar versuchen wir die Gründe und die Folgen des Aufrufs Öcalans für euch einzuordnen.
Im Elit World Hotel in Istanbul hat die Imrali Delegation an jenem 27. Februar zur Pressekonferenz eingeladen. Der Raum ist überfüllt, Journalist:innen von sämtlichen Medien drängen sich vor dem Podium, über welchem das Bild der Imrali Delegation mit Abdullah Öcalan projiziert wird. Wie im Hotel, halten auch die Menschen in den vier Teilen Kurdistan den Atem. Die Menschen strömen zu Versammlungen, die in sämtlichen Städten angekündigt sind. Durch Rojava fahren schon vor der Ausstrahlung der Nachricht hupende Konvois und an den Laternen auf den Hauptstraßen sind hunderte gelbe Fahnen mit dem Konterfei Öcalans angebracht. Allesamt warten gespannt auf die Ankündigung der DEM-Partei Delegation. Ein Video des historischen Aufrufs Abdullah Öcalan wird an diesem Tag nicht veröffentlicht werden. Der Delegation wurde lediglich das Bildmaterial der Erklärung ausgehändigt. In Van und in Amed, wurde vom türkischen Staat gar die Übertragung der Pressekonferenz auf den aufgebauten Leinwänden untersagt. Man könnte fast denken, das geht ja schon mal gut los. Einige Menschen stimmt das traurig, manche vergraben das Gesicht in ihren Händen und Tränen rollen übers Gesicht. Die überwiegende Mehrheit ist schlichtweg glücklich, dass die Gefängnistüren Imralis einen Spalt weit geöffnet werden konnten.
Das lange Warten hat ein Ende. Am Donnerstag, den 27. Februar, wurde die von vielen Menschen herbeigesehnte Nachricht Abdullah Öcalan, dem Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), verlesen. Eigentlich hieß es schon vor dem 15. Februar, dem Jahrestag der Entführung Abdullah Öcalans , dass es nach Jahren der Totalisolation, endlich wieder eine Nachricht an die Außenwelt geben würde. Daraus sollte vorerst nichts werden. Der entscheidende Besuch auf der Gefängnisinsel stand noch aus und die Imrali Delegation hielt sich Mitte Februar noch zu Gesprächen in Südkurdistan auf.
Knapp zehn Jahre ist es ebenso her, dass das letzte Bild von Öcalan veröffentlicht wurde. Viele Kurd:innen können es daher noch nicht ganz fassen, nun endlich wieder ein ein Bild ihres politischen Vertreters zu Gesicht zu bekommen. Nun sitzt er da, zwischen Abgeordneten der Dem-Partei und den drei Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş, welche bescheiden in die Kamera lächeln. Die Haare weiß, die Körperhaltung ausdrucksstark, einen Stoß Papiere in den Händen, der gemessen an seinem Inhalt das Zeug dazu haben kann, nicht nur die Zukunft der kurdischen Freiheitsbewegung, sondern den gesamten Mittleren Osten nachhaltig zu verändern. In rasender Geschwindigkeit verbreitet sich das Foto im Internet.
„Alle Gruppen müssen ihre Waffen niederlegen und die PKK muss sich auflösen“
Die Pressekonferenz fällt kurz aus, die Erklärung wird wenig später in handschriftlicher Form veröffentlicht. Blaue Tinte auf vier Seiten Papier, drunter die Unterschrift Abdullah Öcalans, datiert auf den 25. Februar 2025. Kurz nach 15 Uhr Ortszeit ist die Katze aus dem Sack. Auf der Presskonferenz wird das bestätigt, worüber zahlreiche Medien bereits spekuliert hatten. In dem verlesenen Statement ruft Öcalan dazu auf, dass eine Phase des Friedens und der Geschwisterlichkeit der Völker des Mittleren Ostens anbrechen müsse. Die Aufforderung folgt, dass alle Gruppen die Waffen niederlegen und die die PKK sich auflösen müsse. Eine neue Phase solle mit diesem Schritt eingeleitet werden, eine Phase des Friedens und einer demokratischen Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund führt Öcalan weiter aus: „Die PKK wurde im 20. Jahrhundert gegründet, in der gewalttätigsten Epoche der Menschheitsgeschichte“. Und ja, die Welt war eine andere, als am 15. August 1984 die ersten Kugeln auf Stützpunkte des türkischen Staates abgefeuert wurden. Der darauffolgende Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Staat, die schnell anwachsende Guerilla mit abertausenden Menschen, die in den Bergen Nordkurdistans zu den Waffen griffen und der Aufbau einer schlagkräftigen Kaderpartei geschah, so das Statement, „im Schatten der Erfahrungen des Realsozialismus und des Kalten Krieges“.
Die Politik der verbrannten Erde, hieß in der Realität „völlige Leugnung der kurdischen Realität, die Einschränkung der Grundrechte und -freiheiten – insbesondere der Meinungsfreiheit“. Die Folter in den Kerkern der Türkei, die Entführung von Tausenden und die Verbrennung von circa 3000 Dörfern zu Beginn der 90er Jahre, war die Realität eines Volkes, welches sich für den Weg des Widerstands entschieden hatte.
Die Entscheidung der Aufnahme des bewaffneten Kampfes war jedoch niemals ein Selbstzweck, sondern die Antwort auf eine Politik, die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 sämtliche Organisationen zerschlug, die nicht der eingeschlagenen faschistischen Linie entsprachen.
Was sich jedoch auch in den vergangenen vier Jahrzehnten des bewaffneten Kampfes abzeichnete, war, dass keine der beiden Seiten in der Lage war, die Gegenseite entscheidend zu schlagen. Während die PKK weite Teile Nordkurdistans faktisch kontrollierte, konnte sie die türkische Armee nicht in Form des Guerillakriegs entgültig schlagen. Dies ließ unter anderem die Nato nicht zu, welcher in sämtlichen Situationen der Türkei aus der Bredouille half und immer neue technische Kriegsmittel für ihren Kampf gegen die Guerilla zukommen lies. Auf der anderen Seite wurde ebenso mit der Liberalisierung und der wirtschaftlichen Öffnung Anfang der 2000er Jahre die Türkei für ausländisches Kapital geöffnet, wodurch die angespannte wirtschaftliche Lage zum Preis des totalen Ausverkaufs der Türkei gekontert wurde.
Um ein Ende der Gewaltspirale in Aussicht zu stellen, wurde seitens der PKK erstmals 1993 ein einseitiger Waffenstillstand ausgerufen. Die Sowjetunion bestand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, die ehemaligen Staaten des Ostblocks öffneten sich dem Weltmarkt und eine breit angelegte Welle der Liberalisierung setzte ein. Die Bedingungen, die vielen nationalen Befreiungsbewegungen zur Übernahme der Staatsmacht verhalfen, nämlich die Unterstützung des realsozialistischen Bocks, der sich über 1/3 der Welt spannte, galten auf einmal nicht mehr. Eine demokratischer Lösungsprozess, der aus einer Position der Stärke erfolgte und dadurch glaubhaft gemacht wurde, dass einseitig die Waffen niedergelegt wurden, schien das Gebot der Stunde. Die Antwort der türkischen Staatsführung war die Peitsche. Turgut Özal, der als Staatspräsident Verhandlungen mit Öcalans PKK führte, starb kurz nach bekanntwerden der Verhandlungen im Frühjahr 1993 unter mehr als zweifelhaften Umständen. Tansu Ciller, die folgend an die Macht kam, war durch Deutschland ausgestattet mit den Waffen aus alten Beständen der Nationalen Volksarmee der DDR, nun in der Lage den Krieg erneut zu eskalieren.
Spürbar sind bei vielen noch die Erinnerungen vom Ende des letzten Friedensprozesses. 2015 wurde dieser durch den Waffengang des Türkischen Staates beendet, woraufhin dies von der Jugend Nordkurdistans mit der Ausrufung der Autonomie in zahlreichen Städten beantwortet wurde. Monatelang konnten die Stadtteile gegen die Militärpolizei verteidigt werden, bis die türkische Armee mit Panzern und Kampfflugzeugen gegen die Aufständischen vorging und weite Teile der Innenstädte in Schutt und Asche legte. Keller in der Stadt Cizire, in denen Menschen Zuflucht gesucht hatten, wurden in Brand gesteckt und mindestens 177 Menschen bei lebendigem Leib verbrannt.
In ihrer über tausendjährigen gemeinsamen Geschichte waren die Beziehungen zwischen Türk:innen und Kurd:innen durch gegenseitige Zusammenarbeit und Bündnisse geprägt. (…) Die letzten zweihundert Jahre der kapitalistischen Moderne waren vor allem von dem Ziel geprägt, dieses Bündnis zu brechen. (…) Heute besteht die Hauptaufgabe darin, die historische Beziehung, die äußert fragil geworden ist, neu zu strukturieren
Zur Umsetzung eines neues Prozesses des Friedens, der vielleicht die letzte Chance auf eine friedliche Lösung des Konfliktes und damit der kurdischen Frage ist, soll die PKK also nun zu einem unbestimmten Zeitpunkt aufgelöst werden. „Wie ihresgleichen hat auch sie ihre Lebensdauer erreicht – dies erfordert eine Auflösung“, so Abdullah Öcalan in der Erklärung. Was die Alternative zu einem friedlichen Ausgang der Verhandlungen sein würde, lässt sich nur erahnen. Seit dem 7. Oktobers 2023 erlebt der Mittlere Osten eine Phase der Umgestaltung, die selbst die Bedeutung der US Intervention im Irak 2003 bei weitem übersteigt. Der Gaza-Streifen wurde dem Erdboden gleich gemacht und die Leben von zehntausenden Palästinenser:innen ausgelöscht. Die libanesische Hisbollah wurde in wenigen Monaten von Israel entscheidend geschwächt und mit dem Fall des syrischen Regimes zu guter Letzt die sogenannte „Achse des Widerstands“ zerbrochen. Die Pläne zur Umgestaltung der Region halten an und allen voran das von der USA gedeckte Israel werfen alles in die Waagschale, um ihre Stellung weiter auszubauen.
Geschichte wiederholt sich nur als Farce.
Wie auch die Aufteilung des Mittleren Ostens nach dem 1. Weltkrieg der Beginn von einer nicht enden wollenden Spirale von Gewalt und Unterdrückung war, so birgt die sich nun abermals vollziehende imperialistische Neugestaltung des Mittleren Ostens die Gefahr, ein weiteres Kapitel dieser blutigen Geschichte aufzuschlagen. Schon Hegel sagte, dass sich alle weltgeschichtlichen Ereignisse zweimal ereignen. Nach Marx habe er aber vergessen hinzuzufügen: „Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Der nun begonnene Friedensprozess solle, wie aus mehreren Erklärungen der kurdischen Freiheitsbewegung hervorgeht, eine Intervention gegen die Pläne darstellen, den Mittleren Osten weiter zu zersplittern und neue Tore für imperialistische Interventionen zu öffnen. Dialog und Einheit sollen dem entgegengesetzt werden. Nach jahrzehntelangem Blutvergießen lässt sich natürlich nur schwerlich ausmalen, was das bedeuten mag. Die Narben sind tief und an offenen Wunden wird weiterhin gerührt. So erfolgten wenige Minuten vor der Pressekonferenz Angriffe des türkischen Staates auf die Medya Verteidigungsgebiete im Nordirak und bereits am Folgetag wird Rojava wieder von türkischen Bomben heimgesucht. Jeder Angriff bringt den eingeleiteten Friedensprozess in Gefahr.
Der türkische Staat funktioniert nicht einheitlich und nach einem Interesse. So gibt es genügend Akteure, die ein Interesse daran haben, den Krieg aufrechtzuerhalten. Egal ob es die zahlreichen Militärs sind, oder CEOs und Aktionäre von Rüstungsunternehmen wie Aselsan und Roketsan. Was wird wohl Selçuk Bayraktar, der Vorstandsvorsitzende der Killerdrohnen-Firma Baykar, zu seinem Schwiegervater, dem Präsidenten Erdogan sagen, wenn er ihn das nächste mal am Essenstisch trifft? Man möchte fast meinen, dass dort die altbekannte Formel „Über Geld und Politik spricht man nicht“ keine Gültigkeit haben wird.
Die Gefahr besteht somit, dass das, was als „tiefer Staat“ gilt, sprich die Verflechtungen zwischen Rüstungsindustrie, Kapitalfraktionen, der Mafia und dem Staat, den kommenden Friedensprozess manipulieren könnte.
Blut lässt sich aber nicht mit Blut waschen.
Zwei Tage nach der Erklärung Abdullah Öcalans folgt nun die Verkündung eines einseitigen Waffenstillstands durch den Exekutivrat der PKK. Die Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans sei aber an Bedingungen geknüpft. Nur ein Kongress sei entschlussfähig, welcher unter dem Vorsitz Abdullah Öcalans stattfindet. Dass der Aufruf kein Ende, sondern ein Neuanfang sei, so der Exekutivrat, sollte einmal mehr den Anlass dafür liefern zu diskutieren, was Abdullah Öcalan in seiner historischen Botschaft vermittelt und wie dementsprechend die Zukunft aussehen könnte.
Bereits während der Pressekonferenz feiern die türkischen Medien und werten die Erklärung als eine einseitige Kapitulation. Tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass der türkische Staat, ausgestattet mit westlicher Technologie und mit einer Armee, die an der Anzahl der Köpfe gemessen die zweit größte der Nato ist, das Zentrum des Krieges mit der Guerilla innerhalb der letzten neun Jahre in den Nordirak verlagern konnte. Der aber wohl entscheidendere Faktor der Rechnung ist, dass trotz alledem die PKK als Organisation zehntausender Militanter nicht im Ansatz zerschlagen werden konnte. Viel mehr spricht die Anzahl von türkischer Militäroperationen auf eigenem Staatsgebiet dafür, dass die Guerilla in weiten Teilen Nordkurdistans wenn auch mit kleinen Teams präsent ist. Während der türkische Geheimdienst äußert, die Schuhgrößen aller Guerilleros zu kennen, zeichnet der Angriff auf den Drohnenproduzenten TUSAS im vergangenen Oktober eine gänzlich andere Realität.
Unterm Strich bleibt somit zu sagen, dass es der Türkei gelang, die Grenze zum Irak größtenteils zu militarisieren und einige Bergregionen in Südkurdistan mit großem Aufwand zu besetzen. Jedoch bleibt auch die letzte groß angekündigte Offensive, welche der finale Schlag gegen das strategisch wichtige Bergmassiv Gare sein sollte, ohne nennenswerte Erfolge. Ebenso ist es wieder einmal in den türkischen Medien leise um die Militäroperation geworden, welche in den Worten der Türkei ausgedrückt, die Klauen um die Guerilla schließen sollte. Statt von Schwäche zu sprechen, muss gesehen werden, dass außerdem mit der Revolution von Rojava eine Realität geschaffen wurde, welche niemand verleugnen kann. Was 2012 den Anfang in drei Regionen Nordostsyriens nahm, ist heute eine Kraft, welcher weit mehr als 100.000 Kämpfer:innen zu unterstehen, ganz zu schweigen von den zivilen Selbstverteidigungsstrukturen. Die Kämpfe an der Tishrin Front und der Karakozak Brücke haben unter Beweis gestellt, dass die Selbstverteidigungskräfte sich im Stillen mit allen technischen Erneuerungen bewegt haben. Mit Kamikazedrohnen wird tagtäglich die millionenschwere türkische Technik zerstört, während aus dem weit verzweigten Tunnel-System unter Nord- und Ostsyrien, die türkische Lufthoheit aus gekontert werden kann.
Selbst die am weitesten entwickelten Kampfdrohnen, die der türkische Staat vor einigen Jahren noch als Wunderwaffe im Kampf gegen die Freiheitsbewegung präsentierte, können nun mit neuen Luftverteidigungssystemen in Südkurdistan und Nord- und Ostsyrien vom Himmel geholt werden. Auf der anderen Seite werden nun selbst über große Distanzen hinweg türkische Militärbasen von der Guerilla mit großen Kamikazedrohnen trotz der von der Türkei eingesetzten Jammer getroffen.
„Der Aufruf von Rêber Apo ist keineswegs ein Ende, sondern im Gegenteil ein völliger Neuanfang“ (Exekutivrat PKK 1. März 2025)
Bei vielen Menschen, die für eine bessere Welt kämpfen und für welche die Arbeiterpartei Kurdistans eine Kraft darstellt, die zu den Vorreitern dieses Kampfes gehört, dürften die letzten Tagen viele Fragezeichen aufgeworfen haben. Was die Erklärung für die Zukunft heißen mag und wie sich der Prozess entwickeln wird, ist tatsächlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen. Anstatt sich aber in Vermutungen zu verlieren und wie es so oft der Fall ist, aus der bequemen Position der westlichen Linken, einen Verrat an sozialistischen Zielen und dem gemeinsamen Kampf zu wittern, tut man besser daran, den Erfahrungen einer Bewegung zu vertrauen, die vor über 50 Jahren den Kampf aufgenommen hat und einen dementsprechend reichen Erfahrungsschatz hat.
Zweifellos stellte die Integration ins Staatssystem vieler nationaler Befreiungsbewegungen zumeist die Liquidation der eigenen Ideale dar. Diese Gefahr besteht natürlich überall dort, wo auf den Staat, ob bürgerlich oder faschistisch, auf Kosten der eigenen Selbstverteidigungsmechanismen vertraut wird. Dass genau jetzt auch von der Kurdischen Freiheitsbewegung ein Prozess angestoßen wird, der nach einem Kompromiss mit dem türkischen Staat aussieht, weckt somit nicht ganz zu unrecht die Angst, dass die PKK dasselbe Schicksal ereilen könnte. Das Gebot der Stunde scheint aber nun eben ein Friedensprozess zu sein, der die Entrechtung einer ganzen Nation angehen soll.
Dass die PKK mehr ausmacht, als sich lediglich entlang des Hauptwiderspruch des kurdischen Volkes, dem Kolonialismus, zu bewegen, sollte alleine die Tatsache zeigen, dass sich die Freiheitsbewegung Kurdistans ebenso in der Verantwortung sah und sieht, die Kämpfe auf sämtlichen Teilen der Welt zu entwickeln. Weder Rojava, noch die Befreiten Berge Kurdistans, die Selbstverwaltung im Shengal oder im Mexmûr, können in Zeiten globaler Vernetzung als Inseln der Glückseligkeit bestehen, ohne ebenso gegen die zahlreichen Feinde eine gemeinsame Front auszubauen. Im Gegensatz zu vielen anderen Bewegungen, agiert die kurdische Freiheitsbewegung nicht aus einer Position der Schwäche weder auf militärischer, noch auf gesellschaftlicher Ebene. Die PKK hat heute wie auch in vergangenen Zeiten eine Massenbasis. Diejenigen, welche die Parteiführung nun des Revisionismus und Reformismus bezichtigen, kennen die Realität des Freiheitskampfes in Kurdistan nicht. Die PKK, das sind die Kinder des Kurdischen Volkes. Die PKK ist keine abstrakte Formation, die in den Kandil Bergen die Geschicke einer Bewegung von Millionen lenkt, sondern lebt in allen Häusern, in denen Bilder von Gefallenen Familienmitgliedern an den Wänden hängen und in denen die politischen Entwicklungen aufs genaueste verfolgt, diskutiert und mitbestimmt werden. Und das sind verdammt viele.
„Eine Organisierung von Kopf bis Fuß ist notwendig.“ (Abdullah Öcalan 2002)
Bereits zu früheren Zeiten hat die Kurdische Freiheitsbewegung unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage ist, sich entsprechend von Kritik und Selbstkritik neu zu erfinden. So wurde Anfang der 2000er Jahre auf dem 8. Parteikongress der PKK die Auflösung der Partei und der Übergang in den KADEK, dem Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans, verkündet. Abdullah Öcalans begrüßte 2002 die Gründung mit folgenden Worten: „KADEK muss zu einer Organisationsform werden, die die demokratische und freie Einheit der Völker des Mittleren Ostens zur Grundlage nimmt“. In dem Gründungsstatement von KADEK heißt es weiter: „Unser Kongress hat festgestellt, das die PKK mit der Verwirklichung des kurdischen Nationalen Erwachens ihre historische Mission vollendet und somit unwiderruflich ihren Platz in der Geschichte eingenommen hat. Vor diesem Hintergrund hat unser Kongress beschlossen, ab dem 4. April 2002 alle Tätigkeiten unter dem Namen der PKK einzustellen“.
Unter dem Dach von KADEK sollten von diesem Zeitpunkt an Organisationen und Parteien in allen Teilen Kurdistans gegründet werden. Die Antwort auf diese politische Öffnung und Dezentralisierung folgte mit dem Verbot der PKK 2002 in der EU und den USA auf den Fuß.
„Die Annäherung einiger Kreise, vor allem der nationalistisch-chauvinistischen und der Bandenkreise, die Entwicklungen ausschließlich als Resultat äußeren Drucks darzustellen, entspricht nicht der Realität. Natürlich spielen auch die äußeren Entwicklungen eine wichtige Rolle bei diesem Ergebnis, aber es ist nicht der erste Faktor. Die Hauptfaktoren ist das Entwicklungsniveau unserer Bewegung“ (Präsidialrat KADEK 2002)
Bereits 2002 hielt Abdullah Öcalan fest, dass mit der Gründung von KADEK eine Phase des „totalen Freiheits- und Demokratiekampf anstatt eines Bürgerkrieges“ eingeleitet werden sollte. In Folge von interner Probleme und unterschiedlichen Auslegungen der neuen Strategie, kam es in der Folgezeit zu harten Richtungskämpfen, was jedoch niemals die Notwendigkeit einer Umstrukturierung gänzlich in Frage stellte. Aufgrund der Mängel der neuen Organisationsform, kam es 2005 zur Neugründung der PKK in neuer Form. Der Name „Arbeiterpartei Kurdistans“ spiegele, so der damalige Sprecher des PKK-Rats, Murat Karayilan, „die Tradition des Widerstands und die Art und Weise, für sich selbst einzustellen“, wieder. „Deshalb wurde für richtig befunden, den Namen PKK, der so viele Bedeutungen trägt, erneut zu verwenden“.
War der damalige Prozess sicherlich von Unzulänglichkeiten geprägt, so wurde der Entschluss zur Umstrukturierung 2002 nicht im luftleeren Raum geschlossen. Seit dem hat sich viel getan und die PKK, die sich in erster Linie nicht als militärische sondern als ideologische Kraft versteht, konnte die die Revolution in Rojava verwirklichen und die Selbstverteidigungsstrukturen im Shengal schaffen. Ebenso hat die Frauenrevolution in Kurdistan den Mittleren Osten schon jetzt nachhaltig verändert. Dies stellte die Jin, Jiyan, Azadî Revolution nach der Ermordung Jina Aminis im September 2022 eindrücklich unter Beweis. Der jetzige Aufruf bedeutet also weder, die Waffen vom einen auf den anderen Tag niederzulegen, noch den politischen Kampf einzustellen und damit die Errungenschaften der Revolution preiszugeben. Zweifelsohne würden im Zuge eines erfolgreichen Prozesses stattdessen viele neue Aufgaben aufkommen, wie der Aufbau und die Stärkung gesellschaftlicher Organisationen. Wie aus der Erklärung des Exekutivrats der PKK hervorgeht, ist jetzt der türkische Staat in der Bringpflicht und die kommenden Wochen werden zeigen, welchen Weg der Prozess einschlagen wird.
Heute ist es für alle revolutionären Kräfte somit deutlich wichtiger denn je, an der Seite des kurdischen Volkes zu stehen und sich nicht in Passivität und einer abwartenden Haltung zu verlieren. Die historische Chance, die eines der größten Blutvergießen im Mittleren Osten, das vor mehr als 100 Jahren seinen Anfang nahm, zu beenden, sollte mit allen ihren Konsequenzen als solche erkannt werden. Gerade in einer Region, in welcher seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus ein Krieg den anderen ablöst, ist die Freiheitsbewegung Kurdistans eine Kraft, welche die Prophezeiung vom „Ende der Geschichte“ nicht als Schicksal akzeptiert. Einem primitiven Nationalismus stellt sie eine gänzlich neue Sichtweise auf das Leben gegenüber, in dem sie heute mit dem Demokratischen Sozialismus die so oft in den Dreck geworfene Fahne der Geschwisterlichkeit der Völker wieder hisst.
Foto: DEM Party