Identitätspolitik oder Mauern zum Schutz des schüchternen iranischen Nationalismus
Meytham ale mahdi, ein Arbeiteraktivist der National Industrial Steel Group of Iran (Ahwaz), schreibt in diesem Artikel über die Verflechtung von Klassen- und nationaler Unterdrückung in den „Randgebieten“ und die Distanz der Zentralisten zu den politischen und sozialen Entwicklungen in den Peripherien. (Anm d.R.: Das LCM veröffentliche bereits 2022 ein Interview mit Meytham)
In den letzten Jahren hat die Diskussion über Identitätspolitik unter iranischen Intellektuellen einen Höhepunkt erreicht. Auch der Verlauf der Proteste im Iran hat sich deutlich verändert, so dass sich die Ausrichtung dieser Proteste von der Peripherie ins Zentrum verlagert hat. Die protestierende Kraft geht nicht mehr nur von der Hauptstadt aus, sondern wird nun von den Randgebieten in das Zentrum getragen. Dieser Wandel ist in der Geschichte des Irans beispiellos und könnte sogar die politische Zukunft des Landes beeinflussen. (Anm. des LCM: gemeint ist, dass Formen des Widerstandes in den letzten Jahren vermehrt sowohl vor allem aus den Provinzen getragen wurden, als auch durch marginalisierte Gruppen. Wichtige Proteste, wie bspw. die Arbeiterstreiks in Ahwaz und Haft-Tapeh entstanden nicht in den Hauptstadtzentren sondern in den Fabriken marginalisierter Arbeiter. Auch über die Arbeiterorganisierung in Haft-Tapeh veröffentlichte das LCM bereits ein Interview.
Diese historische Wende hat Reaktionen von Kräften ausgelöst, die versuchen, diese Verschiebung zu verhindern und die politischen Bewegungen in der Hauptstadt konzentriert zu halten. Ein solches Muster ist in der iranischen Geschichte sowohl in der heutigen Zeit als auch in den vergangenen Jahrhunderten zu beobachten gewesen. Der aktuelle Trend zeigt jedoch, dass sich die Peripherie dem Zentrum aufdrängt. Dies ist nicht nur eine Veränderung, sondern ein Zeichen für das Scheitern des Zentrumsdiskurses in der iranischen Gesellschaft. Bei der Debatte über Peripherie und Zentrum geht es nicht um Geografie, sondern um Diskurse, die sich auf der Straße durchsetzen und Anhänger gewinnen konnten.
Nach den Wahlen 2009 begann der Zentrumsdiskurs zu schwinden und machte radikaleren Diskussionen Platz. Diese Veränderungen müssen sorgfältig untersucht werden, um zu verstehen, wann und warum diese Diskurse auf die Straße gingen und warum es ihnen nicht gelang, den reformistischen Diskurs zu verdrängen. Der Konflikt zwischen der Peripherie und dem Zentrum im politischen Diskurs und in den gesellschaftlichen Entwicklungen im Iran ist unvermeidlich. Diese Tatsache zu verstehen, ist nicht schwer, aber diese Diskussionen im politischen Raum zu nutzen und sie der Gesellschaft zu präsentieren, ist entscheidend für die Zukunft des Landes.
Die zentralen Diskurse lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: erstens glühende Nationalisten wie die Anhänger der Pahlavi-Monarchie, die keinen alternativen Diskurs akzeptieren; zweitens säkulare Iraner, die zwar ihren Nationalismus weitesgehend verbergen, aber eine dem iranischen Nationalismus nahe stehende Vision teilen. Beide Diskurse haben in den letzten Jahren erhebliche Rückschläge hinnehmen müssen. Diese Misserfolge lassen sich an den Protesten und den allgemeinen Arbeiterstreiks in den 1990er Jahren ablesen. Die iranischen Arbeiter, vor allem in Ahwaz und Haft-Tapeh, sprechen direkt durch Arbeiterräte, die in ihrem Widerstandsdiskurs Unabhängigkeit und Autonomie besitzen und dezentralisiert sind. Ein deutliches Beispiel dafür ist die Bildung einer Generalversammlung durch die Stahlarbeiter und ihre Ablehnung von Verhandlungen mit der Regierung. Diese Proteste haben die iranischen Arbeiter verändert, und man kann mit Sicherheit sagen, dass sich die Art der Arbeiterproteste vor und nach den Stahl- und Haft-Tapeh-Streiks grundlegend verändert hat. Die Wasserproteste (Tammuz Intifada), die in der entlegensten Stadt Khafajeh (Susangerd) begannen, und ihr Solidaritätsaufruf, der zunächst von Izeh ausging, mit dem berühmten Slogan: „Araber und Bachtiaren: Einheit, Einheit!„, der andere Städte erreichte, bestätigen dies. Wenn wir diesen Slogan genau betrachten, sehen wir, dass es nicht die sozialen Klassen sind, die zur Einheit aufrufen, sondern eher die Völker, die versuchen, ein Machtgleichgewicht innerhalb dieser Einheit zu schaffen. (Anm.dR.: 2021 begannen die Proteste gegen Wasserknappheit und Beschlagnahmung von Land durch Ölgesellschaften in dem entlegenden Dorf Khafajeh in der Provinz Khuzestan. Während den Wasserprotesten wurden 11 Demonstrierende durch die Polizei ermordet, hunderte arabische Aktivist:innen wurden festgenommen. Diese Proteste erreichten auch große Städte wie Ahwaz und mehrere andere arabische Städte.)
Diese Solidarität erreichte Teheran, wo der intellektuelle Diskurs stets Reformen anstrebte und von Angst vor einer Zersplitterung und einer Verwandlung Irans in Syrien sprach. Diese Proteste haben jedoch die zentrale Gleichung durcheinander gebracht, und die restliche Gesellschaft hat diese Konzepte hinter sich gelassen.
Intellektuelle aus dem Zentrum neigen stark dazu, das Tanzen als einen Angriff auf die Regierung darzustellen, wie auch die Forderung, dass Frauen in Stadien gehen dürfen. Dies sind alles individuelle Freiheiten, die respektiert werden sollten, aber keine von ihnen bietet eine endgültige Antwort für die Befreiung der verschiedenen Klassen und Völker.
Bei dieser Verschiebung der Protestansätze beobachten wir eine Gesellschaft, die der Reformen überdrüssig ist und zu radikaleren Ansätzen neigt.
Diese Tendenz ist sogar im Zentrum der Macht der Reformen zu beobachten. Auf der anderen Seite haben die Marginalisierten, insbesondere die unterdrückten Völker (Anm. d .Red.: gemeint sind bspw. Araber:innen, Kurd:innnen, Belutsch:innen, etc.) und die Arbeiterklasse, einen völlig anderen Ansatz. Der Diskurs der Völker wendet sich gegen den Zentralismus und sucht nach einer Teilhabe an der politischen Zukunft des Irans, da die Versprechungen des Zentrums für sie nicht mehr attraktiv sind, und sie suchen nach mehr Transparenz und Klarheit in ihren Forderungen.
Durch die zunehmenden Proteste und das Auftauchen von Arbeiteraktivisten aus den unterdrückten Völkern des Iran ist der Arbeiterdiskurs auch in eine ernsthafte Konfrontation mit dem Zentralismus geraten. Im Gegensatz zu den Arbeiteraktivisten der Großstädte, die ihre Forderungen auf Lohnfragen beschränken, versuchen die peripheren Arbeiter, Räte und strukturelle Veränderungen zu organisieren. Beispiele für diesen Ansatz sind die Proteste der Arbeiter des Stahlunternehmens von Ahwaz und von Haft-Tapeh. Dieser Widerspruch zeigt, wie tief die Divergenz zwischen den Arbeitern aus dem Zentrum und den marginalisierten Völkern ist.
Was die Proteste der Arbeiter der National Steel Group (Ahwaz) betrifft
In dieser Konfrontation versuchen selbst zentrumsorientierte Intellektuelle, obwohl sie sich normalerweise von solchen radikalen Konzepten distanzieren, die Kämpfe mit Hilfe verschiedener Theorien zu ihren Gunsten umzudefinieren. Eines dieser Instrumente ist die Identitätspolitik, wie sie z.B. von Behnam Amini in einem Artikel auf Radio Zamaneh mit dem Titel „Iranische Linke, Nationalismus und Identitätspolitik“ diskutiert wurde. Es stellt sich jedoch die Frage, von welchem „Nationalismus“ wir sprechen. Hat man vergessen, dass den nicht-persischen Völkern im Iran sogar die grundlegendsten Bildungsrechte vorenthalten werden, wie z. B. der Unterricht in ihrer Muttersprache?
Es ist nicht verwunderlich, dass sich die kulturellen Eliten mit dem Nationalismus befassen; die grundlegende Frage ist jedoch, welche klare Haltung sie als Verfechter der Freiheit gegenüber den Rechten der unterdrückten Völker eingenommen haben. Kann ein solches Thema, das für den Diskurs der nicht-persischen Völker im Iran entscheidend ist, mit Verallgemeinerungen ignoriert werden? Wenn ein Intellektueller über diese Völker schreibt, muss er nicht nur mit einer ernsthaften Reaktion rechnen, sondern wird auch intellektuell abgestempelt.
Ein wichtiger Punkt ist, wie Intellektuelle wie Parviz Sadeghat, Morad Farhadpour, Mohammad Maljou und Fatemeh Sadeghi, die ausführlich über dieses Thema geschrieben haben, den Klassenkampf gegen die nationale Unterdrückung zu positionieren. Sind diese Bedenken ein Ausdruck des versteckten Nationalismus der kulturellen Oberschicht? Einige Aktivisten haben als Reaktion auf die zunehmenden Diskurse auf die Identitätspolitik zurückgegriffen.
Zentrumsorientierte Intellektuelle sehen die nationale Unterdrückung im Widerspruch zur Klassenunterdrückung. Diese Denkweise entspringt einer zentralistischen Perspektive und dem Versuch, eine Dichotomie zu schaffen, von der die Produzenten der Oberschicht profitieren. Fragt man jedoch jemanden aus dem entlegensten Dorf von Ahwaz, ob diese beiden Themen im Widerspruch zueinander stehen, so können sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung keinen Unterschied zwischen diesen beiden Widersprüchen erkennen. Sie haben miterlebt, wie ihr Land von Ölfirmen beschlagnahmt wurde und wie ihre Kinder zu billigen Arbeitskräften wurden, während sie gleichzeitig unter sprachlicher Diskriminierung litten. Hier muss nicht erwartet werden, dass man die Lebenserfahrung dieses älteren Mannes haben muss, um dies zu verstehen, aber sich selbst als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sehen, reproduziert diesen Wahnsinn noch. Diese Analysen gehören zur Oberschicht, und haben für die Unterschicht keinen Nutzen.
Die Arbeitnehmer sind nicht nur mit wirtschaftlicher, sondern auch mit sozialer und politischer Unterdrückung konfrontiert. Wer jedoch im Zentrum lebt und gegen diese Diskriminierungen immun ist, reduziert die Klassenfrage lediglich auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit und beschränkt die Arbeiterfrage auf die Gründung von Gewerkschaften, um mit der Regierung zu verhandeln. Die Arbeiter in der Peripherie hingegen fordern nicht nur die gewerkschaftliche Organisierung, sondern streben eine Organisierung bis hin zur Revolution an und sehen die Löhne nur als eine ihrer vielen Forderungen. Diese beiden Ansätze verfolgen völlig unterschiedliche Strategien, um ihre Ziele zu erreichen. Die iranischen Intellektuellen stehen vor einem grundsätzlichen Problem: Sie betrachten die Arbeitnehmer wie die Arbeitgeber.
Für sie sind Arbeiter nur dann akzeptabel, wenn ihre Forderungen rein bezogen auf Lohnarbeit sind. Wenn ein und derselbe Arbeiter in seiner lokalen Kleidung die gleichen Forderungen stellt, werden sie von den persischsprachigen Medien und den zentralen Analysten ignoriert. Sie analysieren Klassenfragen im Rahmen des Zentrums und erwarten, dass andere Gruppen der Gesellschaft dies akzeptieren. Andernfalls versuchen sie, andere mit verschiedenen Rechtfertigungen zu unterdrücken und greifen auf die Identitätspolitik zurück.
Indem diese Gruppe behauptet, dass die Bekämpfung der nationalen Unterdrückung im Widerspruch zur Klassenunterdrückung steht, versucht sie, die Kämpfe der unterdrückten Völker zu ignorieren. Dabei ist es leicht zu verstehen: Wenn eine Ethnie, die andere dominiert, ausschließlich ihre eigene Sprache und Kultur fördert, führt dies zur wirtschaftlichen Überlegenheit der dominanten Ethnien und macht alle Anderen zu billigen Arbeitskräften.
Schlussfolgerung
Reformistische und zentrale Diskurse haben keinen Platz mehr in der Gesellschaft. Die zentralen Intellektuellen müssen, wie die Menschen und Studenten, die gerufen haben: „Das ist das Ende der Reformisten und Konservativen“, ihren Standpunkt klarstellen und dürfen sich nicht hinter intellektuellen Konzepten verstecken. Die iranische Gesellschaft hat sich weiter in Klassen gespalten, und Trumps Drohungen mit weiteren Sanktionen oder gar einem Angriff auf die iranischen Atomanlagen werden die Armut noch verschärfen. Auch die Repression hat zugenommen, und diese Ereignisse werden die Gesellschaft zu weiteren Protesten veranlassen. Ein Mittelweg ist eine zweideutige Position. Die Schwere des Abstiegs und die Revolution der Gedanken müssen offengelegt werden, und die Positionen müssen offengelegt werden, damit nichts hinter irgendwelchen Kleidern verborgen bleibt.
Die Konfrontation zwischen dem Zentrum und der Peripherie im politischen Diskurs muss fair bleiben, damit alle ihre Ideen verteidigen können. Die Medien und die Politik müssen sich von persisch-zentralistischen Ansichten lösen, und die Einstufung von Menschen nach ihrer Fähigkeit, ihre Gedanken auszudrücken, muss aufgegeben werden.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung durch das LCM. Den Originalartikel findet ihr bei Radio Zamaneh.