Risse nach Hanau

19. Februar 2025

Autor*in

Osman Oğuz

für Ferhat, Gökhan, Hamza, Said Nesar, 

Mercedes, Sedat, Kalojan, Vili und Fatih 

– für das Erinnern, um zu verändern.

Osman Oğuz

Es ist fünf Jahre her: Am 19. Februar 2020 erschoss ein Deutscher in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen. Auch wenn der Anschlag nicht aus heiterem Himmel kam und sich aus bereits bestehenden Widersprüchen speiste, war er für viele migrantische oder migrantisierte, allesamt rassifizierte Menschen in Deutschland eine Zäsur. Anknüpfend an die “Black Lives Matter”-Demonstrationen kam es zu einer kollektiven Empörung, die für viele junge Menschen der Beginn ihrer Politisierung war. Zehntausende gingen auf die Straße und es gab eine große politische und mediale Aufmerksamkeit, die heute kaum noch vorstellbar erscheint.

Zum Gedenken an Hanau gehört auch die Auseinandersetzung mit den Folgen: Was ist aus der großen Politisierung gegen Rassismus geworden? Was hat die unglaubliche, aber auch teilweise von Empörung getriebene Mobilisierung von Zehntausenden gebracht? Was haben die vielen Debatten über Rassismus bewirkt? Das sind die Fragen, um die sich dieser Text dreht.


Kritik des (links-)liberalen Antirassismus

Als Hanau geschah, lebten wir noch nicht in Deutschland der “Zeitenwende” – dafür waren Debatten um die Migrationsgesellschaft in vollem Gange, die Diversity-Konzepten erlebten eine Blütezeit: Die Zahl der neuen Projekte überstieg gefühlt die Zahl der neuen Start-ups. Trotz der Skepsis, die von Anfang an mitschwang, bot diese Entwicklung durchaus Chancen – zumindest in dem Sinne, dass Ungleichheiten zum Thema wurden, wenn auch oft auf falscher Grundlage: Die Hoffnung vieler bestand darin, dass diese etwas aufgeregte Debatte früher oder später doch zu grundlegenderen Fragen führen würde.

Eine Kritik an gängigen (links-)liberalen Antirassismusansätzen war, dass Rassismus nicht als Ergebnis individueller Vorurteile, fehlender Begegnungsräume oder “extremer” Radikalisierung am “Rand” der Gesellschaft verklärt werden dürfe, sondern als wichtiges Strukturmerkmal der gegebenen Gesellschaft(-sordnung) analysiert und an der Wurzel gepackt werden müsse. Kurzum, nach dieser Kritik, die zu jener Zeit von einer Handvoll antikapitalistischer Migrant:innen getragen wurde, dürfte Rassismus nicht auf Erfahrung reduziert werden. Der Antirassismus der liberalen Mitte, der dies tat, war zahnlos, weil er letztlich auf die (“buntere”) Aufrechterhaltung des Bestehenden zielte: des Bestehenden, das die desaströsen Zustände in den ausgebeuteten Peripherien, die Klimakatastrophe, die Stellvertreterkriege und letztlich Flucht verursacht. Rassistische Segregation diente dabei als ideologische Rechtfertigung dieser strukturellen Ungleichheiten, erfolgte also nicht zufällig, sondern systematisch. Nach der ersten, ambitionierten Offensive des Antirassismus war dies auch der entscheidende Riss in der Bewegung – ein Riss, dessen Folgen bis heute sichtbar sind.

Heute, fünf Jahre nach Hanau, ist für mich das größte Verdienst der jahrelangen Debatten: Immer mehr migrantische Bewegungen setzen nicht auf moralische Appelle, sondern auf antikapitalistische und verbindende Analysen. Sie begegnen rassistischer Segregation mit konkretem Wissen über Lebensrealitäten, statt sich in didaktischen “Diskursen” zu verlieren. Ihre Kritik zeigt: Rassismus ist eng verknüpft mit einer (neo-)liberalen, imperialen Lebensweise, die auch einen “Konkurrenzrassismus von unten” befördert.

(Neo-)Liberale aller Couleur scheuen sich (bei ihrer ganzen Sachlichkeit!) wirtschaftspolitische Ursachen von Reallohnverlusten oder Zukunftsängsten zu benennen – damit würden sie sich ja ins eigene Knie schießen. In der Folge verfestigen sich Feindbilder als Erklärungsmuster. Sie sind damit Teil eines Klassenkampfes von oben: Sie lenken berechtigte Proteste der Verarmten in rassistische Bahnen und halten migrantische Arbeitskräfte (“die guten Migranten”) in prekären Abhängigkeiten unter Kontrolle. Diese Dichotomie der Nützlichkeit des Rassismus durchzieht alle aktuellen migrationspolitischen Debatten und Maßnahmen, insbesondere die flüchtlingsfeindlichen.

Die Formulierungen des heutigen Rassismus, wie z.B. der AfD oder der CDU, zeigen auch, mit wem die Mehrheit der Migrant:innen, die arbeitenden oder auf der Suche nach Recht umherirrenden Massen, ihre Interessen wirklich teilt. Da dieses Land auf migrantische Arbeit nicht verzichten kann, können selbst Alice Weidel oder Friedrich Merz keine totale Feindschaft gegen migrantische/ausländische Mitbürger:innen betreiben. Stattdessen wird oft mit dem Begriff der Qualifizierung differenziert. Ihre Frage ist: Wer ist qualifiziert, in Deutschland zu leben? Aber was ist mit den Einheimischen, die ebenfalls durch dieses Raster fallen, die sich (meist aufgrund ihrer eigenen ungünstigen Lebensumstände) irgendwelchen bürgerlichen Butzemännern wie “parasitärer” Kriminalität oder totalem Versagen zugewandt haben, den Dämonen des heilen Lebens? Sind sie qualifiziert, in einem solchen Deutschland zu leben? War es nicht gerade ein Zeichen dieser mitschwingenden Frage, was in der Debatte um die Bezahlkarte für Asylsuchende geschah, als schnell vorgeschlagen wurde, diese (geniale!) Maßnahme auch für Langzeitarbeitslose oder gar alle Bürgergeldempfänger:innen einzuführen? 

Der heute aufblühende radikale Antirassismus steht vor der Aufgabe, genau dies aufzudecken: Wenn Antirassismus Aufklärung braucht, dann sollte das der Inhalt dieser Aufklärung sein, statt unablässig “individuelle” Schuldzuweisungen zu erteilen. Eine organisierbare, gemeinsame Einsicht in die strukturellen Zusammenhänge ist längst überfällig, muss aber angestoßen werden, wie es derzeit viele Menschen vor den Haustüren tun: Mit anderen kann man sich solidarisieren oder sie kritisieren, aber mit sich selbst fängt man an.

Welche Migrationsgesellschaft?

Der Begriff Migrationsgesellschaft gehört zum Standardvokabular der Politisierung nach Hanau. Er ist aber (noch) kein feststehender Begriff, sondern eine Projektionsfläche für unterschiedliche Visionen und Interessen.

Für die einen bedeutet Migrationsgesellschaft das (“endlich”) Deutschwerden gut integrierter oder wirtschaftlich nützlicher Migrant:innen – eine Vision, die auch in Teilen migrantischer Communities reproduziert wird, wenn Anerkennung primär über Anpassung gesucht wird und sich auf den Anspruch konzentriert, als Deutsche akzeptiert zu werden. Andere verstehen darunter eine utopische Offenheit: Migration, insbesondere Fluchtmigration, gilt ihnen als unvermeidliche Realität einer nicht mehr strukturell veränderbaren Welt, die nicht verhindert, sondern als Bewegung in Richtung globaler Gerechtigkeit anerkannt werden sollte. Wieder andere bekennen sich gegen Rassismus und für eine vielfältige Migrationsgesellschaft, während sie jenseits nationaler Grenzen jeden schmutzigen Deal eingehen, um Geflüchtete auf Gedeih und Verderb abzuwehren. Die einen entpolitisieren (Flucht-)Migration, indem sie sie nicht als Folge eines zu behebenden Zustandes, sondern als Zustand an sich begreifen, den es schnell an bestehende Verhältnisse anzupassen gilt. Andere hingegen sehen in der Idee der Migrationsgesellschaft einen Ausgangspunkt für eine kollektive Identität der gemeinsamen Kämpfe von/um morgen zur Überwindung von bestehenden Verhältnissen.

Als Hanau geschah, war die Hoffnung noch viel stärker, dass sich die deutsche Identität auf der Grundlage neuer gesellschaftlicher Realitäten und Bedürfnisse und ohne einen grundsätzlichen Wandel schnell demokratisieren ließe. Diese Annahme beruhte auf der Tatsache, dass Deutschland inzwischen (ob man will oder nicht) eine Migrationsgesellschaft ist und dass Migration auch ökonomisch eine unverzichtbare Ressource für den Erhalt und Ausbau des Wohlstands darstellt. Zudem versprach die “Diversity-Welle” auch in anderen Zentren eine gesellschaftliche Erneuerung im Sinne der neoliberalen Globalisierung: Eine fortgeschrittene Gesellschaft sollte aussehen wie ein transnationales Unternehmen. Es war erkennbar, dass auch der Staat bestrebt war, mehr Migrant:innen einzubürgern und mehr migrantische Menschen, wenn auch eher in untergeordneten Positionen, in staatliche Institutionen zu integrieren.

Die Annahmen waren nicht falsch und der Prozess bot, wie gesagt, tatsächlich eine wertvolle Akkumulation, aber der falsche Optimismus war damals noch ein großes Problem: Der größte Trugschluss vieler Gutmeinender war vielleicht, dass sie sich die Migrationsgesellschaft als notwendigerweise demokratischer und egalitärer vorstellten und dies zu einem wichtigen Aspekt ihres bestehenden Bündnisses mit dem (Wirtschafts-)Liberalismus machten. Diese Haltung führte dazu, dass viele linke Bewegungen, die zwar programmatisch immer noch antikapitalistisch waren, dies aber im “Diskurs” nicht “repräsentierten”, noch mehr an Glaubwürdigkeit bei den breiten Massen verloren haben. Heute ist die liberale Mitte sehr schnell sehr viel rechter und sehr viel autoritärer geworden, während die Linke überall ihre Verbindungen zu den Ärmsten verloren hat. Dadurch wird immer deutlicher, dass auch das “antifaschistische Minimum” dieser “linksradikalen” Strömungen, das die Grundlagen des “Tanzes mit dem Teufel” definiert, in eine Sackgasse geführt hat.

Diese jahrzehntelange Entwicklung hat im Falle des antirassistischen Kampfes dazu geführt, dass wir es heute mit einer Situation zu tun haben, in der der “Aktivismus” über die im Durchschnitt ärmste Gesellschaftsgruppe kaum Ansätze von Arbeitskämpfen enthält: Das Wort der Migrant:innen und Geflüchteten wird weitgehend von (klein-)bürgerlichen “Influencern” und staatlich geförderten “Antirassismus-Trainer:innen” in Anspruch genommen. Ob einige von ihnen sich ein Deutschland wünschen, für das auch sie zu den Waffen greifen können, oder ob sie den Status quo in Deutschland als Teil der Ursache von Rassismus angreifen wollen, bleibt bestenfalls unklar, da die strukturelle Verantwortung Deutschlands als globale ökonomische und politische Macht häufig ausgeblendet oder zum Nischenthema gemacht wird: Es geht dem (neo-)liberalen Antirassismus um die Verteilung von Repräsentation und zum Teil von Ressourcen hierzulande, egal auf welchen Wegen sie kommen und welches Leid sie verursachen. So bleibt die Basis des Rassismus unangetastet, während seine vermeintliche Bekämpfung durch die Gegend schwirrt.

Migrantifa Berlin als eine der treibenden Kräfte der Hanau-Mobilisierung meinte mit ihrem Slogan zum ersten Jahrestag wohl genau eine Absage an diese Verblendung: “Kein Stück vom Kuchen, Baklava für alle!” Hier liegt also einer der nächsten Risse in der Bewegung nach Hanau.

Aus Rissen lernen

Es gibt natürlich noch viele andere Risse in der Bewegung, die nach Hanau entstanden ist, und diese Risse werden durch die nach dem jüngsten Ausbruch der völkermörderischen Gewalt Israels in Palästina noch verstärkt. Aber das ist nicht unbedingt schlecht: In der heutigen Zeit des berechtigten Pessimismus angesichts globaler Krisen und politischer Verschiebungen nach rechts können gerade diese Risse Orientierung bieten. Sie zeigen, wo Bewegungen langfristig scheitern, aber auch, wo neue Potenziale entstehen. Die Kämpfe für ein erneuertes Wir auf der Grundlage einer Zukunftsvision als gerechte Migrationsgesellschaft können eine “Poesie von morgen” bieten – sie müssen allerdings erst von liberal-konservativen, fatalistisch-progressiven und populistischen Verklärungen befreit werden.

Die Hoffnung liegt in der unermüdlichen Arbeit vieler Menschen, unterstützt von migrantischen Kräften, die von Tür zu Tür gehen und eine Alternative in der Suche aufbauen. Sie gehen dorthin, wo die Diversität am größten ist und das Teilen gemeinsamer Bedingungen und Interessen mit einschließt. Gleichzeitig experimentieren sie suchend nach einer Antwort auf die Frage, ob es möglich ist, ein Bündnis zwischen Verarmten und Verdammten zu schmieden: Ist es überhaupt möglich, sie davon abzuhalten, sich in der Enge der Unmöglichkeit, in der Welt des schicksalhaft gewordenen Kapitalismus gegeneinander aufzuhetzen, auch weil dies die einzig realistische Konkurrenz zu sein scheint?

Wenn wir den Ermordeten von Hanau und aller rassistischen Gewalt etwas schuldig sind, dann ist es der Kampf gegen die Grundlagen, auf denen mörderischer Rassismus gedeiht. Hanau zeigt uns: Verlässliche Verbündete sind nicht die Minister:innen und ihresgleichen, die nach jedem Anschlag bloße Betroffenheit inszenieren und dann weiter abschieben, sondern diejenigen, mit denen migrantische Communities reale, geteilte Interessen verbinden. Diese Sichtweise impliziert eine Aufgabe für alle und in erster Linie für die migrantischen Bewegungen: Wenn die “objektiven” Verbündeten gegen Rassismus nicht durch die (Ko-)Arbeit der migrantischen Kräfte gewonnen werden, werden sie zunehmend von denen eingebunden, die sie als Ressource eines autoritären (Arbeits-)Regimes festhalten. 


Ist noch Zeit? Finden die Bemühungen um eine neue Einordnung der Krisen und Katastrophen, um eine demokratische Perspektive für ein gerechtes Morgen noch einen Weg unter dem gegenwärtigen Triumph von Autoritarismus und (zeitgenössischem) Faschismus? Haben sie eine Chance in Zeiten von Angstmanagement, verrohter Moral und unüberwindbar scheinender Individualisierung? Das wird sich heute wohl nicht zeigen und schon gar nicht (oder hoffentlich nicht?) von selbst. Der alte Grundsatz muss aber nicht neu bewiesen werden: „Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren.”

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