Wovor sie Angst haben, ist, dass wir uns zusammentun – Reisebericht aus Palästina

10. Februar 2025

Die Delegation ‚Sadaaqa‘ (deutsch: Delegation der Freundschaft) aus Ostdeutschland war im September/Oktober 2024 einen Monat in Palästina, im Westjordanland, um vom Widerstand des palästinensischen Volkes zu lernen und dessen Realität besser zu verstehen. Es ging auch darum, israelische Siedlerangriffe zu dokumentieren und durch internationale Präsenz die Palästinenser*innen in der Abwehr der Angriffe zu unterstützen. Es folgt ein Bericht, vor allem mit Fokus auf den gesellschaftlichen Widerstand in Palästina.


Besatzung, das heißt dauerhafte Anspannung

Die Augen fest geschlossen, dem Schlaf hinterherjagend, wechselt sich eine beunruhigende Stille mit dem ersten Bellen eines Hundes ab. Es wird sogleich beantwortet von einer Kette von Hunden in der ganzen Gegend und ergibt ein richtiges Konzert, wenn die Geräusche der Schafe und der Hühner noch dazukommen. Heißt dieses Bellen, dass gleich Siedler kommen? Muss ich gleich aufstehen? Während ich mit einer anderen Internationalistin in einem kleinen offenen Raum schlafe, schlafen die Söhne der Familie draußen in Schlafsäcken. Es ist meine erste Nacht auf dem palästinensischen Land in der Region Masafer Yatta im besetzten Westjordanland. Wir sind als eine Delegation aus jungen Menschen aus Ostdeutschland gekommen sind, um von dem Widerstand in Palästina zu lernen, ihn praktisch zu unterstützen und Beziehungen nach Deutschland aufzubauen.

Wie war es diesen einen Monat in Palästina? Wie ist es wieder hier zu sein?

Eine Zeit lang mussten wir diese Frage jeden Tag mehrfach beantworten. Eine Frage, die sehr schwer zu beantworten ist, und dass, obwohl wir gerade mal einen Monat da gewesen sind, kaum da gewesen, schon wieder hier. Aber der Krieg und die Besatzung lassen einen nicht los; auch wenn schon vorher klar gewesen ist, dass auch hier Unterdrückung herrscht, ist mir die Kontinuität des Krieges erst dadurch so richtig vor Augen geführt worden. Wir sind nicht mehr in Palästina, aber der Krieg geht weiter, und die Besatzung ist noch lange nicht besiegt. 

Besatzung, das heißt dauerhafte Anspannung, dauerhafte Kriegsführung. Es heißt jederzeit bereit sein, dem Feind gegenüber zu stehen, dass der Feind immer im Raum ist. Für palästinensische Familien in Masafer Yatta heißt das, keine hundert Meter über ihr Feld laufen zu können, ohne in Gefahr zu geraten, angegriffen zu werden. Es heißt, dass grundlos Schafe, Esel oder Hühner von Siedlern mitten in der Nacht geklaut werden. Das heißt beim Mittagessen von dem surrenden Geräusch einer Drohne erschreckt zu werden. Oder ein Leck in der Wasserleitung zu entdecken und einen Bruch in den Solarzellen, in einem Gebiet, in dem die Grundversorgung von Wasser, Nahrung, Elektrizität rar ist. Es heißt Nachts von den Rufen eines alkoholisierten Siedlers aufgeweckt zu werden. Der dann noch ein Strobolicht und genozidale Audionachrichten abspielt. Es heißt zur Schule zu gehen und gleichzeitig Kampfjets am Himmel zu sehen, die nach Gaza oder in den Libanon fliegen, um Menschen zu ermorden. Es heißt überall die Flaggen eines Staates zu sehen, der deine Vernichtung will, und sie über die Jahre immer näher rücken zu sehen. Zusammen mit den Militärautos, die regelmäßig durch dein Dorf patroullieren. Es heißt, dass deine Heimat, wo du deine Kindheit verbracht hast, zur geschlossenen Militärzone erklärt wird. Oder auch, dass man durch eine Vielzahl von Checkpoints muss, um von einem Ort zum anderen zu kommen, jedes Mal mit dem Schlimmsten rechnen muss, in Schlangen darauf wartet, verprügelt zu werden. Und dann oft genug vor einem geschlossenen Checkpoint zu stehen und erfahren, dass die Stadt für einige Tage verriegelt bleibt. 

Israelische Soldaten

Es gibt keine ruhigen Momente in der Besatzung, es gibt keinen Frieden in der Besatzung. Schon ein Monat dieser Anspannung war sehr anstrengend für uns, wie ist es möglich, das ein ganzes Leben auszuhalten?

Widerstand heißt Leben

Unsere Delegation war dort mit dem Ziel, die Organisation ISM (International Solidarity Movement) zu unterstützen, die sich der Aufgabe verschrieben hat, den gesellschaftlichen Widerstand (popular resistance) zu stärken. ISM wurde in den Zeiten der zweiten Intifada ins Leben gerufen, wo es sich mit den damals überall entstehenden Volkswiderstandskomitees (Popular Resistance Comitees) koordiniert hat. Die meisten dieser Komitees existieren aber heute, wenn überhaupt, nur noch als ein Schatten ihrer Selbst. Unter den Bedingungen von krasser Repression, der NGOisierung der Komitees und der Organisationen, sowie dem sich durchsetzenden Neoliberalismus durch die palästinensische Autonomiebehörde, wird der organisierte gesellschaftliche Widerstand kaum noch als eine Option wahrgenommen. Nachdem sich die Lage im Westjordanland seit dem 7. Oktober dramatisch verschlechtert hat, wurden die Möglichkeiten für die Organisierung weiter untergraben. Es ist schwierig sich zusammen zu tun, wenn die Siedlerangriffe so oft geschehen, dass man alle Kraft darauf konzentrieren muss, das zu verteidigen, was man zum Überleben braucht. Darum fokussiert sich ISM momentan darauf, an die strategisch besonders bedrohten Orte wie Masafer Yatta oder das Jordantal internationale Aktivist*innen einzusetzen, um Siedlergewalt zu dokumentieren und mit mehr Menschen den Palästinenser*innen dort beizustehen. Denn die Region Masafer Yatta liegt ganz im Süden des Westjordanlands, an der Grenze zu den 1948 besetzten Gebieten, und ist damit das Ziel einer ethnischen Vertreibungskampagne, um das Staatsgebiet des zionistischen Projekts auszuweiten. 

Garten in Maserfa Yatta

Die Arbeit bedeutete also zum einen, die Palästinenser*innen direkt dabei zu unterstützen wenn sie bewaffneten Siedlern gegenüberstehen. Zum anderen bestand sie aber auch viel daraus, herum zu sitzen, sehr süßen Tee zu trinken, der Sonne beim untergehen zuzuschauen, nachzudenken und mit vielen Gesten zu versuchen, zu kommunizieren. Denn auch wenn es jeden Tag Siedlerangriffe gibt, hat man manchmal einfach das Glück, dass ein, zwei Tage nichts passiert. Und auf eine Weise ist diese Ruhe auch eine Schwierigkeit, man fängt sich an zu fragen, was mache ich hier? Ich wusste, ich bin nur eine sehr begrenzte Zeit in diesem Land, und am liebsten würde ich mich die ganze Zeit mit Leuten unterhalten, lernen, politische Diskussionen führen. Stattdessen saß ich viel auf Plastikstühlen und hab den zionistischen Außenposten auf dem gegenüberliegenden Hügel beobachtet. Natürlich hatte ich eine Klarheit, dass wir auch eine Wirkung haben, gerade weil eben nichts passiert, gerade weil sich die Siedler dann erfahrungsgemäß mehr fern halten. Aber durch die viele Zeit des Zusammenlebens ist mir erst so richtig klar geworden, was für einen anderen Widerstand die Menschen in Palästina führen, wie sie der Besatzung, die sie alltäglich bedroht, auch in jedem Moment entgegentreten. Für die vielen Familien, die wir dort besucht haben, war es eine Selbstverständlichkeit, dass Leben Widerstand bedeutet. Denn allein dadurch, dass die Palästinenser*innen dort leben, und es weiterhin tun, machen sie das zionistische Projekt unmöglich. Wie viel beeindruckender als ein politisches Treffen ist es, einen Schäfer zu sehen, der mit seinen Schafen Land betritt, welches er nicht betreten darf. Ein Kind, welches mit viel Energie den Hubschraubern, die nach Gaza fliegen, böse Worte hinterherruft, oder eine Mutter, die das Leben der Familie zusammenhält. Die große Herzlichkeit, die Gastfreundschaft mit denen sie einem begegnen, ihre Beziehung zu ihrem Land und ihrer Geschichte, ihr Glaube und ihre Gemeinschaftlichkeit, ihre ganze Lebensweise ist ein wesentlicher Teil ihres Widerstands. Damit will ich nicht sagen, dass an diesen Menschen irgendetwas besonders ist, oder dass sie nicht ebenfalls liberale oder patriarchale Mentalitäten in sich tragen, wie die Menschen in Deutschland. Aber dadurch, dass sie sich nicht vollends dem kapitalistischen System angepasst haben, haben sie sich viel von ihrer Menschlichkeit und ihrer Verbindung zur Natur bewahrt.

Die Erde, sie ist stärker

Sonnenaufgang über der Altstadt von Farkha

Ich kann es schwer beschreiben, aber Palästina ist ein unglaublich schönes Land. Selbst dort, wo es karg und unbewohnbar aussieht. Und das liegt auch daran, dass die Menschen ihrem Land so viel Raum geben, dass die Natur so eine große Rolle für sie spielt. Dass sie es mit ihren eigenen Händen bearbeiten, mit vielen Tieren zusammenleben, es liebevoll pflegen und bepflanzen, und dabei darauf achten, was es braucht. Sie wissen, wie abhängig sie von der Natur sind, und wie sehr sie mit ihr zusammenleben müssen, und sie sind dankbar für alles was von ihr kommt. Auch, weil alles was sie tun, ihren Kindern gewidmet ist und damit den Oliven der Bäume, die heute gepflanzt werden.

Im Gegensatz zu den Siedlern, die an nichts weiter als an den nächsten Tag denken. Die ihre Siedlungen ohne Rücksicht lokaler Bedingungen hochziehen. Die Bäume pflanzen, die nicht dorthin gehören, Schafe halten, obwohl sie keine brauchen, nur um das Land von Palästinenser*innen zu benutzen.

Am stärksten ist mir das aufgefallen, als wir das kommunistisch-selbstverwaltete Dorf Farkha im Zentrum des Westjordanlands besucht haben. Anders als in der trockenen Landschaft Masafer Yattas war es in Farkha sehr grün, und viele Olivenbäume säumten das Dorftal. Einige dieser Bäume waren schon unglaublich alt, an die 2000 Jahre. 2000 Jahre in denen sie nicht nur nicht zerstört worden sind, sondern in denen sie nur überleben konnten, weil sie gepflegt worden sind, von Generation zu Generation zu Generation. Diese Olivenbäume und ihre Hüter*innen führen eine jahrtausend alte Tradition des Widerstands fort, in der sie die verschiedensten Besatzungen überlebt haben.

Von Kindern gemalte Flaggen

In Masafer Yatta können die Leute durch die große Siedlerpräsenz nicht so regelmäßig auf ihr Land wie in Farkha, und deswegen verliert es an Schönheit. Aber überall wo man die Leute lässt, oder eher, sie sich das Land zurück nehmen, erblüht es. So die Bewohner*innen von Anizan in Masafer Yatta, die in ihr Dorf zurückgekehrt sind, nachdem sie vertrieben worden sind, die dort ohne viele Mittel lebten, weil es ihr Zuhause ist. So die Familie Hureini, die, nachdem ihr jahrelang gewachsener Garten eines Nachts von Siedlern umgemäht wurde, damit fortfuhren, die übrigen Wurzeln zu bewässern, sodass wieder etwas wachsen wird. Die jeden Tag, trotz regelmäßigen Verhaftungen, dorthin gehen, damit er ihnen nicht weggenommen wird. Oder ein Bewohner von Tuwani, der, obwohl er am nächsten an der zionistischen Siedlung dran wohnt, sich entschieden hat, sein Haus auszubauen, obwohl er täglich dem Terror der Siedler ausgesetzt ist. Dieses Bewusstsein, dass es keinen Frieden mit der Besatzung gibt, dass ist unglaublich tief in der Gesellschaft verankert. Das versteht von den kleinen Kindern, die Palästinaflaggen in ihre Malblöcke malen bis zu den älteren Frauen, die schon vieles gesehen haben, jeder. Sie wissen, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Ehrlicherweise haben wir selten Menschen getroffen, die sehr hoffnungsvoll in die Zukunft geblickt haben. Aber dennoch hatten sie so oft einen unbändigen Willen weiter zu machen, nicht aufzugeben, kein Stück beizugeben. Sie wissen nicht, ob sie siegen werden, aber sie setzen trotzdem alles darauf. Weil es keine andere Möglichkeit gibt. Spätestens seit Kriegsbeginn ist das jedem klar.

Teile und Herrsche

Jedes Stück Land, was nicht verteidigt wird, wird geraubt. Wenn man dann in die Städte zieht, gibt es kein zurück mehr. Und in den Städten ist man abhängig von israelischen Gütern, von den Produkten aus den Siedlungen, von dem Land, aus dem man selbst vertrieben worden ist. Man ist abhängig von jedem Krümel, den die Besatzungsmacht einem zugesteht, und ihn jederzeit wieder wegnehmen kann. Während die Besatzungsmacht einerseits durch den organisierten Landraub die Menschen in die Städte treibt, nutzt sie andererseits die korrupte palästinensische Autonomiebehörde, um den Widerstand durch eine ökonomische und ideologische Offensive des Neoliberalismus zu brechen und die Menschen voneinander zu isolieren. Palästina ist hundertfach geteilt, in 48 und 67, Gaza und Westjordanland, Ramallah und Jenin, Stadt und Land, arm und reich, bewaffneten und gesellschaftlichen Widerstand. Ich werde nie vergessen, wie ich das erste Mal die Apartheid Mauer sah, die Mauer, die quer durch das Westjordanland schneidet, und nicht nur die Menschen von ihrem Land trennt, sondern auch Menschen von Menschen, Leben von Leben, Familien, Generationen voneinander spaltet. Sie ist ein so offensichtlicher Akt der Unmenschlichkeit, eine so eindeutige Weise zu sagen: Ihr seid weniger Wert, ihr gehört uns.

Autonomie als Antwort

Deswegen versucht das Dorf Farkha durch die Initiative seiner kommunistischen Jugend, sich unabhängig zu machen, sowohl von der Besatzungsmacht, als auch von dem Kollaborateur-Regime der palästinensischen Autonomiebehörde. Dabei setzt das Dorf auf größtmögliche Beteiligung aller Dorbewohner*innen und den Aufbau einer kooperativen Ökonomie, in Form von Landwirtschaftsgenossenschaften, sowie die Stärkung der Autonomie der Frauen, die eine eigene Frauengenossenschaft betreiben. In Farkha gibt es beispielsweise überall kleine Hausgartenprojekte, sodass jede Familie eigene Nahrungsquellen hat. Ein älterer Mann zeigt uns seinen Garten, in welchem er unterschiedliche Gemüse und Obstsorten anbaut, wodurch er sich und seine Familie komplett alleine ernähren kann. Der Bürgermeister von Farkha sagte dazu: Das ist Freiheit. Als ich später mit ihm zu Abend aß, gab es eine große Auswahl von Essen, von Gurken über eingelegte Paprika, Oliven und Aubergine, zeigte er nacheinander auf die vielen einzelnen Sachen und sagte jedesmal “Farkha, Farkha, Farkha” dazu, um zu zeigen, dass alles von dort kommt. Die Freiheit von Farkha, seine kollektive Selbstversorgung und Verwaltung erstreckt sich dabei auch auf eine (teil-)autonome Wasser und Elektrizitätsversorgung, auf den Aufbau von Bildungsinstitutionen wie Kindergärten, Schulen sowie Sportzentren, sowie auf regelmäßige Kulturveranstaltungen und der Restaurierung ihrer historischen Altstadt. Es werden auch regelmäßig Jugendliche aus anderen Orten eingeladen, um die palästinensische Kultur mehr kennen zu lernen und Landarbeit zu machen. Um dagegen anzukämpfen, dass die Jugendlichen, die in den Städten leben, nur nach Karriere streben, ihre Verbindung zu Land und Kultur verlieren. Dass sah dann so aus, dass ich bspw. bei einer Schulfeier dabei war, in der die gesamte Schule mit Palästinaflaggen geschmückt war, Jugendliche große Reden gehalten haben und im Anschluss der Volkstanz Dabke getanzt wurde und ein Lied aufgeführt wurde.

Jugendfest in Farkha

Als wir von Farkha aus über die hügelige Landschaft Palästinas blickten, traf die Schönheit des Ausblicks, der warme Sonnenuntergang auf die zionistischen Siedlungen auf vielen dieser Hügel und die Silhouette von Tel Aviv in der Ferne. Wie eine stufenweise Steigerung konnte ich vor mir die selbst nach israelischen Recht illegalen Außenposten der Siedler sehen, denen ich in ihrer direkten Brutalität und Unmenschlichkeit einen Monat lang immer wieder begegnet bin. Auf den dahinterliegenden Hügeln die Siedlungen, die mit ihren grellen Lichtern und hohen Zäunen wie eine Drohung in der Landschaft liegen. Schließlich die liberale Großstadt Tel Aviv mit ihren gläsernen Hochhäusern. Der Zusammenhang lag mir vor den Augen. Dadurch wurde mir klar, wie sehr der Zionismus auch ein Projekt ist, einen liberalen, individualistischen Lebensstil im mittleren Osten zu etablieren, wie sehr es darum geht, andere Lebensweisen, kollektives Zusammenleben zu zerstören und den mittleren Osten als ganzen der kapitalistischen Ausbeutung einzuverleiben. Aber auch, wie lächerlich dieser Versuch ist, angesichts der Weiten dieser Landschaft, der jahrtausende alten Bäume, des unbrechbaren Lebenswillen der Palästinenser*innen, wie klein und jämmerlich der Versuch des zionistischen Projekts, des Kapitalismus ist, der niemals gewinnen kann gegen die Schönheit und das Leben Palästinas. 

Garten in Farkha

Der Befreiungskampf ist das natürlichste

Das zeigt auch, dass eine kommunistische Organisierung, ein Befreiungskampf nicht so sehr etwas komplett neues oder anderes ist, was man erst erfinden muss. In Farkha gibt es nichts, was es nicht auch in Masafer Yatta geben würde, es ist in manchen Hinsichten klarer organisiert. Es gibt so viel von der Gesellschaft und der Natur zu lernen, und wir sollten uns eher Fragen, wie wir unsere Politik wieder alltäglicher machen, wie wir unseren Alltag organisieren und zum Widerstand zu machen. In Deutschland sind wir meist entfremdet von unserer eigenen Gesellschaft, was die Menschen denken und tun. Wahrscheinlich liegt aber auch dort viel Weisheit drin. So seltsam das klingt nach dieser doch sehr kurzen Zeit, als wir nach Deutschland zurückkamen, war es für uns alle schwer, wieder anzuschließen an das Leben hier. Denn in Palästina ist alles viel leichter in ein Ganzes gefallen, war das, gegen was man kämpft, der Sinn von dem was man tut, viel sichtbarer. Während es hier, in einer sehr vereinzelten und kalten gesellschaftlichen Realität, oft schwierig zu verstehen ist, was man überhaupt tut, schwer ist, sein Leben mit dem Leben anderer zu verbinden und ihm einen gemeinsamen Sinn zu geben.

Die Mauer in unseren Köpfen

Die Besatzung ist nicht nur eine physische Besatzung, sie ist auch eine mentale Besatzung. Und sie ist nicht nur eine Besatzung Palästinas, sondern eine Besatzung der ganzen Welt. Die Apartheidmauer schneidet quer durch unsere Welt, quer durch unsere Köpfe. Alles ist zweigeteilt, Wir und Die. Auch hier gibt es Menschen in Uniformen und Menschen mit Existenzangst, und die Mentalität der Uniformierten ist erschreckend ähnlich. Wie können wir jemanden von uns abtrennen? Wie können wir ruhig leben, wenn auf derselben Erde Menschen unter Militärgewalt leben müssen? Wie können wir zuschauen, wenn in Gaza und im Libanon und überall sonst die Bomben fallen? Wenn ganze Häuserblöcke vernichtet werden, und mit ihnen tausende Jahre von Geschichte, Kultur, Leben? Merken wir nicht, dass uns etwas fehlt? Nur wenn wir auf der anderen Seite der Mauer wohnen, nur wenn wir denken, dass es uns nicht als nächste trifft. Wie können die Menschen in Palästina mit dieser Anspannung leben? Das sollten wir uns fragen. Ich hatte nicht das Gefühl, auf einem anderen Planeten zu sein, als ich dort war. In Europa ist es nicht so wie im Westjordanland, es gibt keine Siedler, die einen vertreiben wollen. Von hier müssen wir auf unseren Smartphones verfolgen, wie Menschen vertrieben und ausgelöscht werden. Und gleichzeitig müssen die Menschen im Westjordanland nicht fürchten, dass ihr Haus plötzlich von einer Bombe getroffen wird, in den Städten können sie relativ sicher leben. Sie müssen zuschauen, wie Flieger über sie nach Gaza und in den Libanon fliegen, und nach einiger Zeit wieder zurückkommen. Im Westjordanland ist es nicht wie in Gaza, in Europa ist es nicht so wie im Westjordanland. Trotzdem ist es derselbe Himmel von dem die Bomben fallen, von derselben Erde, auf dieselben Menschen.

Die unterschiedlichen Ebenen des Krieges

Zerstörte Olivenbäume

Der Krieg hat unterschiedliche Seiten, unterschiedliche Sicherheiten. Ich habe mich sicher gefühlt, als Raketen aus dem Iran über uns in Ramallah nach Israel geflogen sind. Ich habe mich sicher gefühlt, als ich mit Palästinenser*innen morgens in Tuwani gefrühstückt habe, um dann zwei Stunden später 100 Meter weiter von den Besatzungstruppen zwei Stunden festgehalten zu werden. Während wir festgehalten wurden, haben zwei Palästinenser die dabei waren, sich einen Spaß daraus gemacht, Handstände geübt, während ein Soldat direkt daneben mit seiner Waffe herumgespielt hat, wahllos herumzielte. Oder als ich zwei Tage bei der selben Familie in Masafer Yatta verbracht habe, es nur kleinere Vorkommnisse gab, und als wir dann gehen wollten, mit Gästen überrascht worden sind: Die Mutter und Tanten unseres Gastgebers sind zu Besuch gekommen. Es gab ein sehr schönes Zusammenkommen, wir haben zusammen Tee getrunken, und uns aufgrund der mangelnden Sprache verstohlen angelächelt, das ausgebreitete Brot und Gemüse hin und her angeboten. Sie haben so viel Ruhe und Freude versprüht, es lässt sich schwierig beschreiben. Unser Gastgeber hat sie hinten auf dem Anhänger her gefahren, sie haben uns lachend das Video gezeigt. Es war unglaublich schön, diese kraftvollen Frauen so lachend zu erleben. Danach mussten wir dann schnell los. Wir bekommen einen Anruf aus Tuwani, dass einige bei der Schule verhaftet werden, also fahren wir hin, steigen aus. Wir gehen an die Schule heran, wo ein Militärfahrzeug bereit steht, das halbe Dorf schaut zu, redet auf die Soldaten ein. Selbst von den Dächern der umliegenden Häusern schauen Menschen zu. Schließlich werden Männer mit Augenbinden in die Militärfahrzeuge gebracht. Selten habe ich so eine stumme, kalte Wut in mir gefühlt. Die Soldaten, die schützend vor dem Fahrzeug stehen, und kaum mehr als zwei Sätze herausbringen können, gegen die Worte der Palästinenser*innen die mit ihnen reden. Wo man merkt, wie wenig dahinter steht, wie schwach und verkauft diese Leute sind. Dann die Kinder, die herumlaufen, die Soldaten gar nicht ernst nehmen. Ein Soldat, der drohend vor uns aussteigt, mit seiner riesen Knarre, ganz nah an uns heran geht. Die Angst in den Knochen, dem gegenüber zu stehen, sich in seinem Kopf alle möglichen Szenarien ausdenkend, bete ich nur dafür, dass diese Situation vorbei geht. Und dann die ältere Großmutter, die die Soldaten auf übelste auf arabisch anschreit, anklagt, ein Junge der zu ihr kommt, sie versucht zu beruhigen, woraufhin sie hin ihn wegschubst und fragt was das soll, um weiterzumachen. Und das ganze, weil die Männer Baumaterial in der Schule gesammelt hatten, und eine Bauerweiterung des Dorfes nicht von den zionistischen Autoritäten erlaubt ist. Den Rest des Tages schließlich erschöpft rumgehangen, zusammen mit einem weiteren Genossen unserer Delegation, der den Tag vorher mit einer anderen Internationalistin festgenommen worden ist, in einem Auto voller schwer bewaffneter Männer, aber dann immerhin relativ schnell wieder frei gelassen wurde. Im Zuge dieser Festnahme wurde auch ein Palästinenser festgenommen, allerdings in seiner Wohnung, ohne dass er an irgendeiner Situation teilgenommen hätte. Er wurde nicht zur Polizeiwache gebracht, sondern illegalerweise zu einem Militärposten. Dort wurde er physisch misshandelt, von Hunden bedroht, beleidigt und schließlich ohne irgendein Kommunikationsmittel im Nirgendwo ausgesetzt. Die Ungleichbehandlung von israelischen, internationalen und palästinensischen Aktivist*innen, die sich dauernd verändert. All das passiert in einer unheimlichen Gleichzeitigkeit, eine Sicherheit, die nie sicher ist. Das einzige was sicher ist, ist der gemeinsame Kampf. Und in dieser Sicherheit kann man hier wie dort viel Ruhe finden, immer genug für eine weitere Runde Tee.

Dorf in Massafer Yatta

Kurz vor unserer Ankunft wurde die Internationalistin Ayşenur Ezgi Eygi, die für ISM arbeitete, auf einer Demonstration in Beita durch einen gezielten Kopfschuss eines Soldaten ermordet. Die ältere Internationalistin, mit der ich in diesem kleinen offenen Raum in meiner ersten Nacht in Masafer Yatta schlafe, erzählte mir, dass sie hierhin gekommen ist, damit jüngere Menschen sich nicht in Gefahr bringen müssen. Wie sie dann in Beita war und sich gemeinsam mit Ayşenur im Olivenhain versteckte, sie direkt neben ihr stand, als sie erschossen wurde.

Wovor sie Angst haben, ist, dass wir uns zusammentun

Der Mord an Ayşenur war zum einen ein Angriff auf den immer noch anhaltenden gesellschaftlichen Widerstand in Beita, wo die  Jugend jeden Freitag auf die Straße geht, um gegen den Siedlungsausbau zu demonstrieren. Es ist eines der wenigen Orte, in denen ein Volksskomitee noch aktiv ist. Zum anderen war es ein Angriff auf die Präsenz der Internationalist*innen im Westjordanland. Mittlerweile gab es auch einige Verhaftungen und Abschiebungen von Internationalist*innen, auch zwei von uns wurden des Landes verwiesen. Gleichzeitig werden weiter Journalist*innen in Gaza ermordet, und systematisch Medien im Westjordanland verfolgt. Die internationale Berichterstattung über die Besatzung und den breiten Widerstand dagegen stellt für den Erfolg des zionistischen Projekts eine große Gefahr da. Solange der Zionismus den Widerstand an wenigen Orten halten kann, ist er kontrollierbar. Aber wovor er am meisten Angst hat, ist, dass der Widerstand in die Breite geht, dass wir uns zusammen tun, miteinander reden, dass wir voneinander lernen, dass wir nicht nur stille Zuschauer*innen sind, sondern uns im Widerstand zusammenfinden, hier und dort.

Wir sind nicht mehr dieselben. Niemand bleibt unberührt von den Entwicklungen des letzten Jahres. Alle spüren, dass nichts mehr dasselbe ist, obwohl alles so ist, wie es vorher schon war. Wir stecken in einem weltweiten Krieg der sich jeden Tag intensiviert. Der 7. Oktober und seine Folgen haben für viele von uns diese gewaltsame Realität mit einem Schlag bewusst gemacht. Vor allem in Deutschland, als den zweit größten Waffenexporteur an den Völkermord, nehmen wir eine wichtige historische Rolle ein. Wenn wir die Besatzung beenden wollen, müssen wir anfangen, für das Leben zu kämpfen, anfangen, den Widerstand, der auf der ganzen Welt entfacht wurde, weiterzutragen. Solange es Besatzung gibt, wird es keinen Frieden geben.

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