Bolschewiki in Kurdistan

26. Januar 2025

Abdullah Öcalans Frühschrift „Die Frage der Persönlichkeit in Kurdistan“ ist in deutscher Sprache erschienen.
Eine Rezension von Andrej Vogelhut


Vor 10 Jahren, am 26.01.2015 befreiten kurdische Kämpferinnen und Kämpfer die nordsyrische Stadt Kobanê vom Islamischen Staat. Die kurdische Bewegung rückte damit plötzlich ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. In der nach Orientierung suchenden radikalen Linken der Bundesrepublik erhoffte man sich vom Blick in den Osten die Rezepte für einen Aufbruch aus der eigenen Schwäche. Kaum eine Strömung der radikalen Linken konnte sich der Lektüre der nun in schneller Abfolge erscheinenden neueren Öcalan-Werke verweigern und von München bis Hamburg, von Leipzig bis Berlin wurde debattiert, wie man den „Demokratischen Konföderalismus“ am wirkungsvollsten auf Deutschland beziehen könne. Das war keineswegs alles unfruchtbar. Von Rojava konnte man lernen, dass man ohne Volk keine Revolution machen kann und dass man mit Verachtung für die eigene Gesellschaft keine Blumentöpfe gewinnt. Für Deutschland war schon das recht viel.

Aber die Öcalan-Rezeption hierzulande brachte ein Problem mit sich: Übersetzt waren nur die Schriften nach dem „neuen Paradigma“, also diejenigen, in denen Abdullah Öcalan am Beginn der 2000er Jahre eine neue ideologische und strategische Grundlage für seine Bewegung entwarf. Und so sehr diese auch in vieler Hinsicht wirklich etwas an den Fundamenten der vormals marxistisch-leninistischen PKK änderten, stellten sie doch keinen abstrakten Bruch dar. Das „neue Paradigma“ war keine Stunde null und ist eigentlich ohne die Vorgeschichte der PKK nicht zu verstehen. Die aber ist für die deutsche Leserschaft viel schwerer zu rekonstruieren, denn die wichtigsten Schriften der Bewegung von den 1970er-Jahren bis zur Jahrtausendwende liegen nicht in Übersetzung vor.

Diese Lücke versucht der Wesanen Meyman Verlag nun zumindest ein wenig zu schließen: Mit „Die Frage der Persönlichkeit in Kurdistan, die militante Persönlichkeit und das Parteileben“ publiziert er eine der wichtigsten Schriften des „alten“ Paradigmas.

Denken lernen

Öcalans These in dem Buch ist, dass die kurdische Gesellschaft durch Imperialismus, Kolonialismus und den Einfluss archaischer Stammestraditionen zwar objektiv eine große Reife für die Revolution erreicht habe, aber der subjektive Faktor dem hinterherhinke. Die Gesellschaft sei gleichsam in einem Tiefschlaf gefangen, irgendwo zwischen zielloser Wut und Apathie, ohne eigene Identität und ohne korrektes Bewusstsein von Freund und Feind. Unter diesen Bedingungen, so Öcalan, komme der Entwicklung eines „revolutionären Persönlichkeitstypus“ die zentrale Bedeutung zu: „In Anbetracht der unvorteilhaften nationalen und gesellschaftlichen Realität Kurdistans spielt der Kampf mit der eigenen Persönlichkeit zweifellos die wichtigste Rolle.“ (S.94)

Die These ist: Nur wenn die kolonisierte Gesellschaft sich ideologisch, moralisch und organisatorisch als selbsttätiges Subjekt konstituiert, kann sie den Kampf gegen die Unterdrücker überhaupt aufnehmen. Und nur die Avantgarde der Revolutionäre kann das Volk zu dieser Einsicht „empowern“. Dazu aber muss diese sich erst einmal selbst zu einer Kraft entwickeln, die als fortgeschrittenster Teil der Klasse und der Nation dazu in der Lage ist.

Der erste Schritt zur Erschaffung dieser Subjektivität liegt im Bereich des Denkens: Eine gefestigte Weltanschauung, die Verinnerlichung der Programmatik der Partei, ein Verständnis von Strategie und Taktik sowie die Abgrenzung von kleinbürgerlichen, reformistischen und revisionistischen Ideologien gehören in diese Phase der Kaderentwicklung.
Ziel ist, dass der Revolutionär zu einer Person wird, „die denkt – und zwar nicht auf beliebige Art und Weise – also eigene Gedanken im Rahmen der wissenschaftlichen Philosophie des Proletariats, des dialektischen und historischen Materialismus entwickelt“. (S. 151)

Kämpfen lernen

Aber mit dem Denken allein ist es nicht getan. Der Kader muss eine „revolutionäre Moral“ entwickeln, die keineswegs aus irgendeiner überhistorischen Ethik abgeleitet wird, sondern aus den Erfordernissen des zu bestreitenden Kampfes. Das Gebot genossenschaftlichen Respekts untereinander, die Forderung, die Sache der Revolution über das eigene Wohlergehen und das Kollektivinteresse von Volk, Klasse und Partei über das Partikularinteresse des Einzelnen zu stellen sind keine metaphysischen Tugenden, sondern Notwendigkeiten der revolutionären Organisierung.

Viele der Eckpunkte dieser revolutionären Moral lesen sich simpel: Der Kader muss mutig und selbstlos, nicht ängstlich und egoistisch sein; er muss sein Volk lieben, wie er die Unterdrücker hasst; er muss maßvoll handeln, prinzipientreu, aber nicht dogmatisch. Das hört sich an wie einfache Dinge, aber sie sind unendlich schwer zu machen, wenn man in Rechnung stellt, dass die in der Avantgarde versammelten Individuen auch die Muttermale der Gesellschaft tragen, aus der sie kommen.

Den organisatorischen Rahmen der Kaderentwicklung bildet die „Partei neuen Typs“. Sie ist – ganz klassisch leninistisch – führende Kraft der Klasse und ihr Kampfstab. Aufgebaut nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus ist sie die höchste Form der Organisierung. Zwar wird sie erst durch die Kader zu einem lebendigen Organismus, aber umgekehrt sind auch die Kader ohne sie nichts.

Das historische Vorbild dieser Theorie der Entwicklung revolutionärer Persönlichkeiten und einer Partei, die im Zeitalter des Imperialismus überhaupt eine dem Gegner angemessene Kampffähigkeit entwickeln kann, ist klar: Die russischen Bolschewiki, die im vorliegenden Band auch ausführlichst zitiert werden. Die Gesamtlosung fasst Öcalan dann auch unter Bezugnahme auf einen für seine Kaderqualitäten oft gerühmten Kampfgefährten Lenins so zusammen: „In Kurdistan müssen Swerdlows entstehen!“ (S.215)

Swerdlows für Deutschland

Die Themen dieses Buchs – Partei, Kader, Disziplin – galten in der deutschen Linken lange Zeit als Relikte ein für allemal vergangener Zeiten. Pop-Antifa, Autonome und Postautonome – die Anfang der 2000er bis 2010er hegemonialen Strömungen – gaben sich „antiautoritär“, der Marxismus-Leninismus galt als verstaubt, ideologische Beliebigkeit nicht als Mangel, sondern als Stärke. Das hat sich in den vergangenen zehn Jahren verändert. „Rote Gruppen“ prägen heute in vielen Städten die politische Sphäre links der parlamentarischen Parteien. Vom Bund der Kommunist:innen (BDK) in Berlin über die Gruppen des bundesweiten Zusammenschlusses Perspektive Kommunismus (PK) bis zum Kommunistischen Aufbau in NRW und der Kämpfenden Jugend in Bremen sehen sich viele der aktivsten und personenstärksten Zusammenschlüsse als Parteiaufbauprojekte.

Das hat einen sachlichen Grund: Die imperialistischen Konflikte global und mit ihnen die repressive Durchsetzung der herrschenden Ordnung auch im Land haben zugenommen; der Faschismus präsentiert sich zunehmend erfolgreich als Alternative des „kleinen Mannes“ zum scheiternden progressiven Neoliberalismus von deutscher Ampel, US-Demokraten und Co. In dieser Lage wird es immer unwahrscheinlicher mit den zusammengeschrumpften Biotopen kleiner anpolitisierter Freundeskreise einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen oder auch nur als politische Kraft überleben zu können. Die längst überfällige Rückbesinnung auf die revolutionären Traditionen der Arbeiterbewegung hat begonnen. Und wenn sie gelingen will, braucht sie Swerdlows in Deutschland.

Dafür ist dieses Buch immens nützlich. Es vermisst den Raum, in dem sich die Kaderentwicklung in einer Nation ohne starke Bewegung vollziehen muss. Die Geschichte Kurdistans jedenfalls hat seit der Niederschrift der „Persönlichkeitsfrage“ den proof of the pudding geliefert. Denn wie auch immer man zu dieser oder jener Wendung im kurdischen Befreiungskampf stehen will, man wird nicht leugnen können, dass diese Bewegung ihre gesamte Gesellschaft erfasst hat und dass das vor allem mit zwei Faktoren zu tun hat: Ihrer Partei und ihren Kadern.

Die Frage der Persönlichkeit in Kurdistan,die militante Persönlichkeit und das Parteileben von Abdullah Öcalan ist im August 2024 im Weşanên Meyman Verlag in deutscher Sprache erschienen und online online bei Pirtukxane bestellbar.

Foto: privat

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