Im mexikanischen Bundesstaat Guerrero wehrt sich der indigene, kleinbäuerliche Widerstand des CIPOG-EZ gegen die andauernden Angriffe paramilitärischer Einheiten.
Victor, Internationales Recherche Kollektiv
Im September 2024 jährte sich eines der großen mexikanischen Staatsverbrechen zum zehnten Mal: In der Nacht zum 27.09.2014 wurden Studierende der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa durch Einheiten der lokalen Polizei, des mexikanischen Militärs und Mitgliedern des organisierten Verbrechens angegriffen. Die Studenten waren auf dem Weg nach Mexiko-Stadt, um an einer Protestaktion zum Gedenken an das Massaker von Tlatelolco teilzunehmen, bei dem am 2. Oktober 1968 hunderte Studierende durch Polizei und Militär getötet wurden. Für ihre Reise kaperten sie mehrere Busse – eine in der Gegend nicht ungewöhnliche Praxis. In Iguala wurden mehrere der Busse von der Polizei aufgehalten. Über Stunden hinweg kam es zu diversen Angriffen durch lokale Polizeieinheiten und mutmaßliche Mitglieder des organisierten Verbrechens auf die Studierenden und unbeteiligte Zivilist:innen. Die Bilanz der Nacht: Sechs Menschen starben, 25 wurden verletzt, und die 43 Studenten, die von der Polizei festgenommen wurden, sind seither verschwunden, bis heute.
Fotos: Demonstration zum 10. Jahrestag des Massakers in Ayotzinapa, Guerrero [Mexiko Stadt, 2024]
Weder unter der Regierung des damaligen Präsidenten Peña Nieto, noch unter der aktuellen Regierung der sich selbst als „progressiv“ verkaufenden Morena-Partei kam es zu einer Aufklärung des Verbrechens unter Beteiligung der mexikanischen Streitkräfte. Auch in Deutschland wurde in diesem Jahr an die 10 Jahre des Kampfes erinnert, welchen die Angehörigen der Verschwundenen fortführen. Dabei spielt auch die Verwicklung deutscher Akteure in das Verbrechen eine zentrale Rolle: Bei den Angriffen wurden G-36-Sturmgewehre des deutschen Rüstungskonzernes Heckler&Koch verwendet, welche der Konzern illegal nach Mexiko verkauft hatte. Bereits im Jahr 2011 war Heckler&Koch wegen Bestechungsvorwürfen durchsucht worden, darunter Bargeldzahlungen an mexikanische Beamte, um Waffenlieferungen zu sichern. Auch in Deutschland soll es Korruptionsfälle gegeben haben, so zahlte Heckler&Koch 2010 Parteispenden an FDP und CDU im Zusammenhang mit einem beantragten Waffenexport nach Mexiko. Das Bestechungsverfahren wurde 2017 vorläufig eingestellt. In einem historischen Urteil wurde der Konzern 2019 zu einer Geldstrafe von 3,7 Millionen Euro verurteilt, einer Summe, die unter dem Umsatz aus den illegalen Lieferungen liegt. Trotz des Versprechens der deutschen Bundesregierung im Koalitionsvertrag von 2018, den Export von Kleinwaffen in sogenannte Drittstaaten wie Mexiko grundsätzlich zu stoppen, wurden laut Rüstungsexportbericht auch 2020 und 2021 weitere Rüstungsexporte nach Mexiko genehmigt.
Und auch die Angriffe auf die indigene und kleinbäuerliche Bevölkerung im mexikanischen Bundesstaat Guerrero hält weiter an: Die Escuelas Normales Rurales sind seit langer Zeit ein bedeutender Ort für die Jugendlichen aus indigenen Familien, die hier ihre Ausbildung erhalten und gleichzeitig Räume zur Selbstorganisation finden. Entsprechend kritisch beäugt der Staat die Schulen, dessen Anzahl in den vergangenen Jahrzehnten drastisch zurückgegangen ist – eine der verbliebenen Institutionen ist jene in Ayotzinapa, die vor 10 Jahren zum traurigen Schauplatz des Staatsterrors geworden war. In Iguala, der Ort des Verschwindens der „43 von Ayotzinapa“, hatten die indigen-kleinbäuerliche Bevölkerung schon vor langer Zeit eigene Forderungen erhoben: Nach der mexikanischen Revolution wurde hier die Forderung nach „Land und Freiheit“ manifestiert, was auch den Aufbau der Escuelas Normales Rurales zur Folge hatte.
Doch nicht nur die Schulen sehen sich noch heute permanenten Bedrohungen ausgesetzt: Guerrero ist einer der südlichsten und größten Bundesstaaten Mexikos, der durch seine Lage zwischen Küsten-, Berg, und Wüstenregionen eine hohe Biodiversität aufweist (er teilt sich auf in die Küstenregionen „Costa Grande“ und „Costa Chica“, die Zone „Acapulco“, die Bergregionen und die Wüstenregionen „Tierra Caliente“ und „Zona Norte“). Hier leben viele indigene Bevölkerungsgruppen, sie machen im Bundesstaat mit seinen 3,5 Millionen Menschen mindestens 17 Prozent aus, und gerade in den Bergregionen leiden sie unter Armut und dem Fehlen von Strom- oder Wasserversorgung: Der Reichtum Guerreros wurde ihrem Territorium gleichsam zum Verhängnis. Die großen Wälder werden abgeholzt, in den Bergen graben Minen nach Rohstoffen, Monokulturen und Massentierhaltung bereiten sich auf dem Land und die industrielle Fischerei an der Küste aus, während Acapulco spätestens in den 70er Jahren zum ersten Zentrum des Massentourismus in Mexiko wurde. Ebendiese Sektoren werden auch vom organisierten Verbrechen kontrolliert, die neben dem Drogen- und Menschenhandel (auch im Kontext des Tourismus) von Forst- bis Landwirtschaft in allen Bereichen aktiv sind.
Seit dem Eindringen dieser extra-aktiven Gewalt organisieren sich die indigenen Kleinbäuerinnen, die vor allem Bohnen, Mais, Café, Zucker und Früchte kultivieren, zur Verteidigung ihres Landes, des Wassers, der Luft und ihrer Lebensweise. 1992 gründeten die Völker der Na Savi, Me’phááá, Nahua und Ñamnkué den Rat „500 Jahre Widerstand von Guerrero“, der sich für das Recht der Indigenen auf Autonomie und Selbstbestimmung einsetzte und dessen Einfluss durch das Auftreten der zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) 1994 und des Nationalen Kongresses der Indigenen (CNI) anwuchs. Wie in anderen Teilen des Landes begegnete man dieser Organisierung mit Angriffen auch durch paramilitärische Gruppen des organisierten Verbrechens. Sehr früh kam es in Guerrero entsprechend zum Aufbau lokaler Gemeindepolizei-Einheiten, welche die selbstverwalteten Gemeinden gegen die Angriffe der Paramilitärs verteidigen. Nach zahlreichen, auch von außen durch Bestechung und Gewalt herbeigeführten Spaltungen gründete sich schließlich als starker Ausdruck des indigenen Widerstands, der noch heute mit der EZLN und dem CNI verbunden ist, der „Consejo Indígena y Popular de Guerreo – Emiliano Zapata / Indigener und Populärer Rat von Guerrero – Emiliano Zapata / CIPOIG-EZ“.
Ihrem würdigen Kampf für das Leben wird seit jeher mit Gewalt begegnet, und 2024 ist die Situation katastrophal, während die „progressive“ Regierung nichts gegen die Angriffe durch die paramilitärischen Einheiten unternimmt und die Verbrechen derselben verschweigt: Seit 2015 vermeldet der CIPOG-EZ mindestens 63 Morde an ihren Mitgliedern, 22 gelten als Verschwunden und mindestens ein Mitglied sitzt unschuldig im Gefängnis. Ganze Familien wurden durch Paramilitärs umgebracht, darunter viele Jugendliche. Zuletzt wurde am 1. August diesen Jahres Alberzo Zoyateco Perez ermordet, während andere Mitglieder und Sprecher des CIPOG-EZ permanent Morddrohungen erhalten. Einige von ihnen wenden sich im Namen der Organisation an die sich mit ihnen solidarisierenden Kampagnen „500 Jahre Bauernkrieg. Für das Leben für das Land“ sowie „Rheinmetall Entwaffnen“ in Deutschland:
„Wir senden euch Grüße im Namen der Frauen, Männer und Kinder der Gemeinden der Regionen bajo y alta montaña, der costa grande y costa chica. Wir sind Bäuerinnen und Bauern, die das Land bearbeiten. Wir bauen Mais und verschiedene Bohnensorten und alles an, was auf unseren Feldern wächst. Wir sind eine bäuerliche Bewegung im Widerstand gegen paramilitärische Gruppen, die uns ermorden, uns verschwinden lassen und uns aus unserer Region vertreiben. Wir sind indigene Gemeinschaften der náhua, na savi, me`phaa, ñomndaa und Afromestiz*innen. Unser Kampf als ursprüngliche, indigene Bevölkerungsgruppen dauert nun schon 500 Jahre an. Seit langem haben wir uns organisiert, um unsere Autonomie aufzubauen, unser autonomes Regierungs- und Sicherheitssystem, unser eigenes Gesundheitssystems, unser Gemeinderadio, unser agrar-ökologisches System, um das Land zu bewirtschaften, unsere Bohnen anzubauen, und organischen Dünger herzustellen, um nicht den chemischen Dünger der ausländischen Unternehmen zu benutzen. Der gentechnisch veränderte Mais von internationalen Unternehmen aus den USA überschwemmt unser Land, obwohl wir wissen, dass es sich um Chemikalien handelt die schlecht sind für unsere Ernährung, vor allem der Kinder. Hier befinden wir uns in einem Prozess des Kampfes, und unser Ziel ist es weiterhin Multiplikator*innen auszubilden, die den Widerstand weitertragen. Denn unsere Berge sind reich an Wasser, Wald, Gold und Silber und deswegen werden wir von internationalen Bergbauunternehmen bedroht, die mit der Bundes- und Bezirksregion Verträge unterzeichnen, um uns mit ihren Sozialprogrammen zu verwirren während sie die natürlichen Ressourcen unseres Territoriums ausbeuten. […] Als indigene sind wir diesem Risiko ausgesetzt und deshalb organisieren wir uns als Gemeinden mit unseren selbstgewählten Vertreter*innen. Unser höchstes Entscheidungsgremium ist seit jeher die Vollversammlung, das ist, was wir aufbauen und das ist unsere Art zu denken. Und das hat uns viel gekostet, denn es ist nicht leicht für die Regierung, gegen uns vorzugehen, weil sie wissen, dass es internationale Abkommen zum Schutz der indigenen Bevölkerung gibt, doch in der Praxis erkennen sie unsere Rechte nicht an. Deswegen bauen wir unser eigenes kommunales System auf… Denn wenn wir unser Land nicht bearbeiten und es verlieren, machen wir uns abhängig. Von Seiten der mexikanischen Regierung aus hat es für uns keine Fortschritte gegeben, denn ihnen ist das Leben von uns als Bäuerinnen und Bauern egal. Der Regierung ist es wichtig, für die (ausländischen) Unternehmen zu arbeiten, welche große Projekte umsetzten, aber nicht im Sinne der indigenen Bevölkerung. Wir sind schließlich nicht diejenigen, die von internationalen Projekten wie dem Tren Maya und anderen Megaprojekten profitieren, die unsere Bäume fällen und unsere Gewässer austrocknen…“
Das neuste Projekt dieses breiten Widerstands des CIPOG-EZ besteht im Aufbau des erwähnten Gemeinde-Radios: „Dieses ist besonders wichtig, denn wie gesagt, unsere Mitglieder sprechen vier verschiedene Sprachen. Durch das neue Radio wollen wir die Menschen in ihrer Sprache informieren, über das, was die kapitalistische Erschließung unserer Territorien bedeutet, um unser Bewusstsein und unsere Analyse weiter zu schärfen, um klar zu machen, dass wir nur organisiert gegen die schlechte Regierung vorgehen können, gegen die politischen Parteien, welche unsere Gemeinschaften spalten und damit zerstören. Und natürlich, um über die Angriffe der Paramilitärs aufzuklären und uns zu schützen. Das ist unser Widerstand und unser Kampf.“
Wenige Monate nach diesen Worten hat sich die Lage weiter verschärft: „Wir befinden uns in einer sehr kritischen Phase, da wir uns einer Terrorkampagne ausgesetzt sehen, die unsere Gemeinden überschwemmt und unseren Menschen extremster Gewalt aussetzt. Und dies einfach nur, da wir als Pueblos in unserem Widerstand standhaft geblieben sind. Dabei trägt der Staat eine Mitschuld, denn während wir bedroht, gekidnappt, vertrieben und ermordet werden unternimmt der Staat nichts gegen die paramilitärischen Gruppen, von denen sie längst wissen, wer sie sind und wo sie agieren.“
Dies unterstreicht besonders die Bedeutung der zuletzt genannten Funktion des Radios: In den inzwischen durch die Paramilitärs oft voneinander abgeschnittenen Gemeinden ist ein Austausch der Mitglieder des CIPOG-EZ überlebenswichtig – und das Radio wird zum Instrument gegen den Terror: „Wir brauchen es, mit tausend Watt, mit allem drum und dran.“ Und dabei, betonen die Botschaften die uns dieser Tage aus den umkämpften Bergen von Guerrero erreichen, „appelliert der CIPOG nachdrücklich an die nationale und internationale Solidarität. Die Morde gegen uns gehen weiter, aber unser Widerstand auch. Wir geben nicht auf, wir verkaufen uns nicht, wir geben nicht nach.“
Inzwischen ist eine entsprechende Spendenkampagne eingerichtet worden, in der Gelder für den Aufbau des Gemeinderadios gegen den Terror gesammelt werden:
Transgalaxia e.V. // IBAN: DE 40 4306 0967 1152 49 2600 // BIC: GENODEM1GLS // GLS Bank // Betreff: Radio Guerrero
Victor ist Teil eines internationalen Recherche-Kollektivs, welches vor allem zu der Beteiligung europäischer und insbesondere deutscher Konzerne an zerstörerischen Megaprojekten in indigenen Territorien (v.a. in Mexiko und Mesoamerika) forscht und dagegen mit den Compas vor Ort Widerstand leistet. Insbesondere wurde bisher zum Tren „Maya“ und dem „Interozeanischen Korridor“ gearbeitet.
Bild: privat