Berlin: Kinder- und Jugendhilfe kaputtgespart

24. März 2023

Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten Problembezirken und versprechen vollmundig Besserungen für die Kinder- und Jugendhilfe und allgemeine soziale Verbesserungen in den Kiezen. Auf dem schleunigst einberufenen „Gipfel gegen Jugendgewalt“ wurden 29 Maßnahmen beschlossen, sowie ein Finanzierungsbedarf von knapp 90 Millionen Euro für die nächsten zwei Jahre veranschlagt.


Wenn es aber nicht darum geht, Sicherheit und Ordnung im Sinne der reaktionären Presse zu garantieren, sondern Sicherheit und Zukunft für Kinder und Jugendliche herzustellen, ist der staatliche Wille, Geld bereitzustellen in Berlin nicht sonderlich ausgeprägt. An der Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe werden auch die 90 Million Sondervermögen wenig ändern. Bereits im Jahr 2022 wurde bekannt, dass die Berliner Schulen für das nächste Schuljahr mit drastischen Kürzungen würden rechnen müssen. Diese finanziellen Einsparungen hatten bereits Einschnitte in die Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen zur Folge. Sie betreffen einen sog. Verfügungsfonds, aus dem Schulen bisher je nach Anzahl ihrer Schülerinnen und Schüler entsprechende Summen zwischen 15.000 und 30.000€ erhalten konnten. Vielen Schulen fehlen nun über 10.000€ für das nächste Schuljahr. Darüber hinaus gibt es in Berlin um die 900 unbesetzte Stellen für Lehrkräfte. Der Lehrkräftemangel ist seit Jahren Thema, die Situation verschlechtert sich allerdings nur weiter. Vor der Berlin-Wahl versprachen zwar alle Parteien bessere Personalschlüssel an Schulen, die CDU gar eine 110-prozentige Personalausstattung. Vor der nächsten Wahl wird der Lehrkräftemangel dann wieder Thema sein, denn ändern wird sich faktisch wenig.

Denn nicht nur viele Lehrkräfte verlassen Berlin, auch Erzieher:innen verdienen in anderen Bundesländern besser (Berlin liegt hier auf dem sechstletzten Platz) und finden bessere Arbeitsbedingungen vor. Die CDU will nun sogar noch die Brennpunktzulage für die Arbeit in sog. problembehafteten Kiezen streichen. Pädagogische Arbeit ist an vielen Schulen in Berlin schon jetzt kaum möglich, da es immer mehr Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt und dafür das Personal und die strukturellen Voraussetzungen fehlen.

In meiner Praxis als Integrationserzieher an einer Grundschule habe ich fast nie Kinder speziell und gezielt fördern können, da die Arbeit fast nur aus Vertretungen bestand. Eine Untersuchung der GEW Berlin zeigt, dass dies die Regel ist und nicht nur persönliches Empfinden. 42 Prozent der Befragten gaben an, nur selten Kinder gezielt fördern zu können, worauf diese jedoch einen rechtlichen Anspruch haben. Zudem wurde für viele Kinder kein Förderstatus beantragt, da es nicht entsprechend viele Integrationserzieher:innen gab, sodass dem Anspruch auf Förderung ohnehin nicht hätte gerecht werden können. Teilweise wurden ganze Klassen wochenlang früher nach Hause geschickt, weil ihre Betreuung nicht gewährleistet werden konnte oder kein Unterricht stattfand. Egal in welchem Bereich, die Kinder- und Jugendhilfe ist in großer Not.

„Man spielt nur noch Feuerwehr“, ist ein Satz, den man im sozialen Bereich häufig hört. Bundesweit sind von den rund 900 in den Jugendämtern zur Verfügung stehenden Stellen knapp 100 unbesetzt. Hinzu kommen viele kranke Mitarbeiter:innen, sowie unzählige, die aufgrund der starken Arbeitsbelastung im sogenannten „Sabbatical“ sind, auf Kur oder im „Hamburger Modell“, mit verkürzten Arbeitszeiten und weniger Arbeitsbelastung. In Berlin bearbeitet eine Fachkraft so viele Fälle, wie in Bayern 2,5 Fachkräfte. Die Zahl der Inobhutnahmen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. In einer Umfrage der AG Weiße Fahnen zur Arbeitsbelastung unter Fachkräften der Jugendämter heißt es, nur 13% der Befragten empfänden ihre Fallbelastung als angemessen, nur die Hälfte fühle sich „gesund und leistungsfähig“ und zwei Drittel gaben an, für gute Entscheidungen nicht genügend Zeit zu haben. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spricht von einem »Orientierungsrahmen« von 65 Fällen pro Fachkraft, die Gewerkschaft Ver.di fordert eine Obergrenze von 28 Fällen. In der Realität liegen die Fallzahlen pro Fachkraft teilweise bei über 100.

Führt man sich vor Augen, dass es hierbei oft um Fälle des Kinderschutzes geht, wird einem das Ausmaß dieser Katastrophe bewusst. Schon die verspätete Bearbeitung eines Falles kann hier über Leben oder Tod entscheiden. Der Kindernotdienst (KND) ist seit Jahren überlastet, im März schreiben Mitarbeiter:innen in einer Überlastungsanzeige: „Wir können die Kinder, die aufgrund von Misshandlungen oder Vernachlässigungen in ihrem Elternhaus im Kindernotdienst aufgenommen werden, trotz großer Anstrengung nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen“. Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Die Notdienste verzeichnen teilweise eine Überbelegung von fast 100%. In den letzten fünf Jahren wurden knapp 400 Plätze gestrichen. In einem behördeninternen Brief der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie an die Jugendämter wird darum gebeten, derzeit möglichst keine Jugendlichen in den Berliner Notdienst Kinderschutz zu schicken. Ein abstruser Vorschlag, wo doch der Notdienst die letzte Zuflucht für Kinder bspw. aus gewalttätigen Elternhäusern ist.

Dass die Notlage der Kinder- und Jugendhilfe nicht wieder in der Lumpenkiste versauert und nur bei medial hochgeputschten Skandalen oder bei der nächsten Wahl wieder hervorgeholt wird, dafür müssen die pädagogischen Fachkräfte selbst sorgen. Am 8.2. protestierten bereits die GEW Berlin sowie der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) vor dem Roten Rathaus. Viele weitere Proteste müssen folgen, für bessere Kitas, bessere Schulen, mehr Jugendzentren, besser ausgestattete Jugendämter und für eine Kinder- und Jugendhilfe, die ihrem eigenen Anspruch gerecht werden kann. Wie der Bau der Bullenwache am Kotti oder der wahnsinnigen A100 durch die Stadt zeigen, sind die Gelder da. Es sind bewusste Entscheidung, wofür sie ausgegeben werden und wofür oder für wen nicht.

# Frederik Kunert arbeitet als Sozialarbeiter in Berlin-Mitte und war zuvor einige Jahre an Berliner Grundschulen als Integrationserzieher tätig.

# Titelbild: DBSH, Proteste vor dem Roten Rathaus

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