Ein Sammelband versucht die Taten des NSU und die gesellschaftliche Nichtaufarbeitung ganz ohne Ökonomiekritik zu untersuchen. Und scheitert.
Den Terrorakten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) fielen vom Jahr 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen zum Opfer. Darunter hatten acht der Ermordeten eine türkische Familiengeschichte, einer einen griechischen Hintergrund und zusätzlich wurde eine nicht-migrantische Polizistin ermordet. Das Netzwerk von mordenden Neonazis konnte jahrelang unentdeckt bleiben, obwohl Angehörige der Ermordeten und politische Initiativen Rassismus als Tatmotiv lange vermuteten und dies immer wieder öffentlich durch Presseerklärungen, Interviews und Demonstrationen äußerten. Dies hängt sowohl mit dem sprichwörtlichen blinden rechten Auge der Verfassungsschutzbehörden zusammen, als auch mit einer Reihe äußerst unwahrscheinlicher Ungereimtheiten im Polizei- und Justizapparat.
Tina Dürr und Reiner Becker begeben sich in ihrem schmalen Sammelband Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU auf die Suche nach der Leerstelle Rassismus und fragen sich, welche gesellschaftlichen Mechanismen dazu beitragen, dass Rassismus und seine Wirkung auf die Betroffenen von der Mehrheitsgesellschaft nicht gesehen werden. Ihr vor allem diskurstheoretisches Buch zeichnet in zwölf Beiträgen die rassistische Alltags-Atmosphäre und den Staus Quo nach, die den Nährboden bilden, auf dem die rassistische Mordserie des sogenannten NSU vonstatten gehen konnte. Aussagen von Politiker:innen und Repräsentant:innen der Sicherheitsbehörden und Zeitungsartikel werden hierfür untersucht und in Kontrast zu dem Erleben und den politischen Interventionen der Hinterbliebenen gesetzt. Hierin liegt die Stärke des Bandes. Insgesamt kommen Wissenschaftler:innen genauso wie Praktiker:innen aus Beratungsstellen und der Arbeit innerhalb migrantischer Gemeinschaften zu Wort. Denn mit der Selbstenttarnung nach dem Suizid der beiden vermutlichen Haupttäter im November 2011 begann sich die Öffentlichkeit bestürzt zu fragen, wie mordende Neonazis so lange unentdeckt bleiben konnten.
Schwach ist dann die Antwort des Sammelbandes: weil Rassismus allgegenwärtig ist und Betroffenen von Rassismus zu wenig zugehört wird. Wer von staatlicher und politischer Seite an einer Vertuschung real ein Interesse haben könnte, wird kaum benannt. Auch eine Analyse der deutschen Wirtschaft im Imperialismusgeflecht und der damit verbundenen rechten Antworten auf diverse Krisen bleibt der Sammelband den Leser:innen schuldig. Hinzu kommen Beiträge mit problematischen und empirisch nicht haltbaren Verallgemeinerungen, wie die, dass es in migrantischen „communities“ Einigkeit darüber gäbe, „dass rechtsextreme Gewalt immer schon eine Kontinuität hat“. Woher diese angeblich repräsentativen Aussagen kommen, wird den Leser:innen aufgrund fehlender Quellen nicht erklärt.
Insgesamt bleibt sich die Argumentation des Sammelbands in einem liberalen Geflecht stecken, in dem diskursiven Rassismuserscheinungen einfach irrationale Vorurteile sind. Leider schafft der Band es nicht, trotz teilweisem guten Zusammentragen von Beispielen und öffentlichen Stimmen im Nachklang der NSU Mordserie, an die Wurzel des Problems rassistischen Terrors zu gehen. Hierfür müsste eine saubere Ökonomieanalyse mit den konkreten Erscheinungen rassistischen Terrors in Beziehung gesetzt werden.
Tina Dürr/Reiner Becker (Hg.): Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU, 2019, Wochenschauverlag, 172 Seiten, 22,90 EUR
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