In der Nacht vom 12. zum 13. September griff Aserbaidschan das international anerkannte Territorium Armeniens entlang der östlichen Grenze an und sorgte für ein Blutbad. Obwohl eine Waffenruhe verkündet wurde, droht eine weitere Eskalation hin zu einem Regionalkrieg.
Goris ist eine sehr schöne Stadt, die inmitten eines Talkessels liegt und von Felsen umringt wird, deren Höhlen noch davon zeugen, wie die Menschen dort früher gelebt haben. Der 12. September war dort ein sonniger und angenehmer Spätsommertag, wo Familien in der Stadt spazierten. Auch wir besuchten an diesem Tag die Stadt und wollten am nächsten Tag zum Tatev-Kloster fahren, welches aus dem 4. Jahrhundert stammt und spektakulär an einer Felswand steht.
Als wir uns um 23 Uhr zum Schlafen gelegt hatten, wurden wir rund eine Stunde später von Sirenen und dumpfen Aufschlägen aufgeweckt, die von lautem Hundegebell begleitet wurden. Wenn man sich mit Armenien und seiner jüngeren Vergangenheit beschäftigt, dann muss man zu jeder Zeit mit einem neuen Krieg rechnen. Wenn er aber dann tatsächlich da ist, will man das nicht glauben und checkt ungläubig nach den Nachrichten, die sodann tatsächlich das Unglaubliche offenbaren: Aserbaidschan greift entlang der Frontlinie an und attackiert mit Artillerie und Drohnen armenische Grenzstädte wie Goris, Jermuk, Vardenis und Kapan an.
Natürlich hat man Angst, zumal die Einschläge immer lauter und öfter kommen. Schnell werden die wichtigsten Sachen gepackt und nachdem klar ist, dass ein Krieg begonnen wurde, gibt es nur noch den Entschluss, die Stadt zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen.
Auf dem sechsstündigen Weg nach Yerevan fahren wir zumeist — wie alle anderen auch — ohne Licht durch die Straßen, um nicht das Ziel von Drohnen zu werden. Auf dem Weg sehen wir eine aserbaidschanische Rakete in der Ferne fliegen, die wohl die Stadt Jermuk zu Ziel hatte und sehen nicht zuletzt anhand der aufkommenden Militärfahrzeuge, dass der Diktator Ilham Aliyev die Lage (wieder) eskaliert hat.
Zwei Tage gingen die Gefechte entlang der Grenze weiter, wobei mindestens 135 armenische Soldaten Opfer der Aggression wurden, während die Diktatur in Baku offiziell von 79 Toten auf ihrer Seite sprach. 7.600 Menschen in Armenien mussten ihre Häuser verlassen, weil diese entweder ganz oder vollständig zerstört sind. Auch unter internationaler Vermittlung, wo das Thema im UN-Sicherheitsrat besprochen wurde, trat eine Waffenruhe ein, wobei Aserbaidschan weiteres armenisches Gebiet besetzt hält und womöglich den Krieg schon bald wieder aufnehmen könnte.
Doch wozu und mit welchem Hintergrund?
Die Resultate des 44-Tage-Krieges 2020 destabilisierten den Südkaukasus und schufen eine Übergangsphase, wo die geschwächte armenische Regierung um Nikol Paschinjan eine Demütigung nach der anderen einstecken musste. Zwar konnte die Regierung sich nach Neuwahlen im Juni 2021 konsolidieren, erlebt außenpolitisch jedoch eine Niederlage nach der anderen: Obwohl im trilateralen Abkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland anders vereinbart, sind bis heute immer noch armenische Kriegsgefangene in den Folterkellern Bakus inhaftiert, einige sogar zu bis zu 20 Jahren Haft verurteilt worden.
Schon im Mai 2021 erfolgte eine Invasion der aserbaidschanischen Armee, die seitdem strategisch wichtige Anhöhen im Grenzgebiet des international anerkannten Gebiet Armeniens besetzt hält. Diese Höhen nahmen sie nun als Ausgangspunkt für die erneuten Attacken und beschossen oftmals auch zivile Einrichtungen: Obwohl die deutsche Regierung sich mal wieder auf die Seite Bakus stellte (dazu gleich mehr), kam Erik Tintrup, der neue Charge d´Affaires der Deutschen Botschaft in Armenien nicht drum herum bei seinem Besuch in Jermuk von den Zerstörungen durch das Aliyev-Regime zu berichten: „Jermuk ist ein wunderschöner friedlicher Erholungsort in schöner Natur. Auch deutsche Touristen waren am Dienstag hier. Dass niemand aus der Bevölkerung getötet wurde, ist fast ein Wunder, denn Artilleriegeschosse schlugen hier, viele Kilometer entfernt von der Grenze, in Restaurants und an der Seilbahnstation ein, nur wenige Hundert Meter neben Wohnhäusern und Hotels voll mit Reisenden“ sagte er während der Reise. Eine deutsche Touristin hat Explosionen aus ihrem Zimmer fotografiert, so nah waren sie. „Ich bin sehr besorgt. Wir fühlen mit dem armenischen Volk“, so Tintrup.
Ein Wunder ist es auch, dass sich deutsche Beamte so deutlich äußern, war dies doch bei der Bundespressekonferenz anders, als das Auswärtige Amt den Aggressor noch nicht benennen konnte oder besser gesagt: wollte. Dass die Diktatur der Familie Aliyev seit Jahren westliche und vor allem deutsche Politiker:innen schlicht korrumpiert (Stichwort Aserbaidschan-Connection) ist bekannt. Seit Ursula von der Leyens Besuch in Baku und der Vereinbarung der Erhöhung der Gaslieferung aus dem Kaspischen Meer nach Europa ist allerdings auch klar, dass die EU den Angriff toleriert und somit aserbaidschanisches Erdgas für armenisches Blut akzeptiert. Dass deutsche Militärs nur ein paar Tage zuvor in Baku waren, um eine stärkere Zusammenarbeit zu diskutieren, ist kein Zufall, sondern deutet einmal mehr darauf hin, dass besonders Deutschland innerhalb der EU das Land am Kaspischen Meer für sich gewinnen will und jedes Verbrechen hinnimmt.
Die zynische Doppelmoral des Westens ist damit auf den Punkt gebracht: Wurden die russischen Rohstofflieferungen infolge des Angriffskrieges auf die Ukraine gekappt und das Land mit Sanktionen belegt, stellt man sich bei diesem Angriffskrieg und noch dazu bei einem engen Verbündeten des Kremls blind. Es sind allerdings nicht nur die Rohstoffe, die man aus Baku will — die sowieso die russischen Energieimporte nicht ersetzen können — , sondern auch eine andere Tatsache, die auffällt: Die EU hat ein Bündnis mit dem Panturanismus, da auch der andere genozidale Nachbar Armeniens, die Türkei, den Krieg gegen Armenien unterstützt und jederzeit selbst eingreifen könnte.
Die Ziele des Panturanismus
Der Panturanismus ist eine rassistische und genozidale Bewegung mit den Wurzeln im 19. Jahrhundert, welche die Auslöschung oder Assimilierung aller nicht-türkischen Völker und Stämme von Europa bis nach Zentralasien zum Ziel hat. Eine Etappe, oder besagt ein Hindernis für dieses Ziel ist Armenien und das armenische Volk, welches seit Jahrtausenden auf dem Armenischen Hochland zwischen dem Fluss Kura bis nach Kleinasien lebte. Die Massenermordungen des osmanischen Sultan Abdul-Hamid II. 1894-96 mit etwa 300.000 armenischen Toten sowie der Genozid 1915-1922 mit über 1,5 Millionen Toten stellten die Höhepunkte dieser blutigen Kampagne dar.
An dieser Kampagne hat sich nichts geändert, zumal der bis heute krankhaft verehrte Staatsgründer Mustafa Kemal „Atatürk“ selbst an dieser Kampagne im „Unabhängigkeitskrieg“ teilnahm und verantwortlich für die Ermordung und Vertreibung der Armenier:innen, Grieche:innen und Assyrer:innen in der letzten Etappe des Völkermords ab 1919 bis 1922 war.
Sich diese historischen Tatsachen zu vergegenwärtigen ist wichtig, um die aktuelle Politik der beiden Diktaturen sowie ihrer Gesellschaften zu verstehen: Feierten nicht erst kürzlich am 100. Jahrestag des Brands von Smyrna (heute „Izmir“) Hunderttausende Menschen auf den Straßen die Ermordung und Vertreibung von Zehntausenden Griech:innen, Armeniern:innen und Jüd:innen? Pries nicht erst kürzlich der türkische Staatspräsident Reçep Tayyip Erdogan in einem Tweet den osmanischen Völkermörder Nuri Pascha, der am 15. September 1918 mit der Armee des Islam die sozialistische Kommune von Baku zerschlug und wiederum ein Blutbad an den Armenier:innen organisierte?
Worum es dem Panturanismus strategisch geht, ist die Auslöschung der Armenier:innen aus ihrer Heimat und die nächste Etappe dazu soll das südliche und mittlere Terrain der Republik Armenien sein. Türkische Medien und aserbaidschanische Politiker der Regierungspartei bereiten unverhohlen den Boden für eine erneute Aufnahme der Kriegshandlungen, wobei es nicht um die Schaffung eines Korridors geht, sondern um eine Besetzung der armenischen Provinzen wie Gegharkunik am Sevan-See, Vayotz Dzor in Mittelarmenien sowie das südliche Syunik. Infolge des zweitägigen Krieges haben azerische Truppen noch mehr armenisches Land besetzt und stehen nur 4,5 Kilometer vor der strategisch wichtigen Stadt Jermuk.
Mehrere Szenarien
Die Waffenruhe trat auch ein, nachdem Armeniens Regierung die Bereitschaft verkündet hatte, die territoriale Integrität Aserbaidschans anzuerkennen, was nichts anderes bedeutet, als die umkämpfte Region Arzach (Berg-Karabach) als Teil Aserbaidschans anzuerkennen. Diese Ankündigung löste Proteste in Jerewan und Arzach aus, da ein solcher Schritt die Aufgabe der verbliebenen Armenier:innen an azerischen Truppen wäre, die in ihrer Brutalität den IS-Banden in nichts nachstehen: Nachdem es schon während des letzten Krieges Dutzende Videos von Enthauptungen seitens der Terrorbanden Aliyevs gab, verbreiteten azerische Kanäle ein weiteres schockierendes Video der Ermordung und Verstümmelung der armenischen Soldatin und dreifachen Mutter Anush Abetyan.
Der offensichtlich orientierungslose Nikol Paschinjan, relativierte währenddessen später die Ankündigung, indem er nachschob, dass „kein Dokument unterzeichnet wurde und unterzeichnet wird“. Nichtsdestotrotz scheint die Regierung unwillens oder unfähig, die Bevölkerung auf den Krieg vorzubereiten und verzichtete vorerst auch auf eine Mobilmachung sowie die Erklärung des Kriegszustands. Viel schlimmer wiegt allerdings die Tatsache, dass sie fast auf den Tag zwei Jahre nach Beginn des 44-Tage-Krieges seitdem wenig bis gar nichts zur adäquaten Verteidigung des Landes unternommen hat. Noch immer sind die Soldaten an der Grenze, die zumeist 18- bis 20-jährige Wehrdienstpflichtige sind, mehr oder weniger schutzlos der modernen Waffentechnologie Aserbaidschans ausgeliefert.
Während die herrschende Klasse in Armenien in Jerewan eine Art Scheinnormalität aufrecht erhalten will, sind es die Angehörigen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die unter dem Krieg leiden. Die Organisierung von Selbstverteidigungseinheiten ist unerlässlich, da die Gefahr eminent ist.
Egal welches weitere Zugeständnis die armenische Regierung machen wird, um einen Krieg zu verhindern: Bei den pantürkischen Mördern kommt der Appetit beim Essen. Sie werden dort nicht aufhören, sondern weitermachen. Jeglicher unabhängiger armenischer Staat ist in den Augen der Türkei und Aserbaidschans ein Hindernis, egal wie dieser Staat konstituiert ist und egal wie stark oder schwach dieser Staat ist. Dies gilt sowohl für die Republik Armenien, als auch die Republik Arzach, die beide entwaffnet, belagert und zerstört werden sollen, wenn es nach den Willen der beiden Diktatoren geht.
Selbst die Gefahr eines großen, regionalen Krieges ist gegeben, da nicht zuletzt mit Russland der bisherige Hegemon im Südkaukaus aufgrund des Ukraine-Krieges schwächelt und selbst Angriffe auf seine eigenen Grenztruppen des FSB unbeantwortet lässt (der FSB überwacht ebenfalls die Grenze und wurde selbst von den Azeris beschossen). Die Türkei sieht sich schon seit langem als Kandidat für die Rolle des Hegemons in der Region, was auch der oben erwähnte Tweet von Erdogan unterstreicht: Schon damals wollten sie an das Kaspische Meer stoßen und sich dort etablieren, allerdings sorgte die Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg für deren späteren Rückzug.
Gleichwohl wird die Türkei diese Rolle kaum ohne den Widerspruch des Iran übernehmen können, der selbst durch die Revolutionsgarden mehrfach angekündigt hat, dass eine Beschädigung oder Auflösung der armenisch-iranischen Grenze für sie eine rote Linie darstellt und als einen Krieg gegen sich selbst angesehen wird. Ob Teheran diese Worte in Taten umsetzen kann, ist eine andere Frage, jedenfalls berichten iranische Kanäle von der Mobilisierung von bis zu 45.000 Soldaten entlang ihrer nördlichen Grenze.
# Titelbild: ANF